annales historici prešoviensis anno 2005 - Prešovská univerzita v ...

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22.10.2014 Views

Was wissen die Zeitzeugen und was berichten sie? Um uns dem Denken und Fühlen der Zeitgenossen des vierten Kreuzzuges anzunähern, lassen wir nun Augenzeugen der Eroberung, Sieger und Besiegte durch ihre Berichte sprechen. Die Auswahl der Personen und der Zitate soll sich dabei nicht so sehr an der uns erkennbaren Richtigkeit ihrer Aussage messen, sondern an ihrer subjektiven Glaubwürdigkeit als Angehörige ihrer ethnischen und religiösen Gruppe (bzw. einer sozialen Schicht innerhalb einer Gruppe): Zeitzeugen, von denen man annehmen darf, dass sie weitgehend berichten, was sie nach ihrem Wissen, als Betroffene oder als Handelnde für wahr hielten, unabhängig vom historischen („objektiven“) Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, der oft genug diskutiert wurde. Daher werden hier auf der Seite der Kreuzfahrer wichtige Autoren wie Martin da Canal und der Zeitgenosse Gottfried von Villehardouin nur am Rande erwähnt. Denn ersterer war kein Zeitzeuge, da er viel später, zwischen 1267 und 1275, schrieb, und letzterer, der Marschall der Champagne, war zwar keiner der Anführer des Kreuzzugs, aber doch seit 1201 in die Vorbereitungen auf hoher Ebene involviert und mit vielen Anführern auf vertrautem Fuß, die den vierten Kreuzzug planten und den mehrfachen Änderungen bei der Planung dann mindestens zustimmten; und er trägt in seinen Aussagen diese Änderungen durchaus mit. Man könnte ihn als offiziösen Chronisten des Kreuzzugs bezeichnen. So sind seine Aussagen in hohem Maße als interessen- und ergebnisorientiert oder, einfacher gesagt, als manipulativ zu betrachten. Für die beiden anderen Autoren, denen wir ausführlichen Berichte verdanken, Martin bzw. Gunther von Pairis und Robert bzw. Aleaume von Clari, scheint diese Gefahr hingegen geringer. Sie sollen daher auf seiten der Eroberer unsere Zeitzeugen sein. Vielleicht noch ein Hinweis vorweg: Alle im Folgenden behandelten Autoren waren zum Zeitpunkt der hier interessierenden Ereignisse etwa im Alter von vierzig bis fünfzig Jahren. 84 Der fromme Abt: Martin von Pairis Martin, Abt des elsässischen Zisterzienserklosters Pairis, verfasste seinen Bericht nicht selbst. Sein Schreiber war Gunther, ebenfalls ein Geistlicher, früher Erzieher Konrads von Schwaben (des Sohnes Friedrichs I.), dann seit 1203 Mönch in Pairis, wo er bald nach 1210 etwa sechzigjährig starb. Gunther nahm nicht am Kreuzzug teil, sondern schrieb für seinen Abt Martin (einen Kreuzzugsprediger im Auftrag des Papstes) nach dessen Rückkehr, um 1207/8, die „Hystoria Constantinopolitana“ über die Jahre 1198 bis 1205 nieder, oder besser: er formulierte sie. Der Bericht macht auf den modernen Leser einen zwiespältigen Eindruck, da der gebildete Gunther in einem anspruchsvollem Stil schreibt, der durch an passender Stelle eingeschobene Gedichte in Hexa-

metern noch unterstrichen und gehoben wird. Dennoch versteht er es, auch die schlichte und geradlinige Denkart seiner Hauptperson, des Abtes Martin, zutreffend zu vermitteln. Denn Martin war mit den „deviationes“ des Kreuzzugs nicht einverstanden. Er bat bereits in Venedig und dann erneut in Rom, anlässlich eines Gesandtschaftsaufenthaltes, also schon nach der Eroberung Zaras, um Lösung vom Kreuzzugsgelübde – vergeblich 7 : Der Papst willigte nicht ein, und Martin reiste von Rom aus direkt in das Heilige Land weiter. Dort wurde er von denjenigen Kreuzfahrern, die Akkon seit dem dritten Kreuzzug hielten, nach Konstantinopel entsandt, um militärische Hilfe zu erbitten, und so traf er anfangs Jänner 1204 doch vor Konstantinopel ein. Er wurde also, eher ungewollt, Zeuge der Eroberung, freilich auch Nutznießer der nachfolgenden Plünderungen. Gunther mahnt den Leser schon in der Einleitung: Auch wenn er den Eindruck gewinnen mag, dass selbst von unserem Volk (den Deutschen) manches gegen die Gebote der Frömmigkeit getan wurde, so soll er doch nicht daran zweifeln, dass auch dies nach dem Willen Gottes geschieht, denn Er ist ja stets gerecht 8 . Und Gunther bemüht sich im Verlauf der Erzählung unentwegt, den verborgenen und unerforschlichen Ratschluss des göttlichen Geistes auf die Schuld der Byzantiner zurückzuführen – mehr als ein Drittel des gesamten Textes ist diesem Thema gewidmet 9 . Aus den zahlreichen Argumenten, unter denen auch die so genannte „konstantinische Schenkung“ an Papst Silvester zu finden ist 10 , sei nur eines herausgegriffen, das die so schnelle Eroberung Konstantinopels erklärt: ... ich glaube, sagt er, es ist nur durch ein sichtliches Wunder der göttlichen Gnade möglich geworden, dass diese schwer befestigte Stadt, der ganz Graecia (dies der Name von Byzanz in den westlichen Quellen) zu Diensten stand, so urplötzlich, so vor aller Welt und so leicht in die Hände von wenigen gegeben wurde 11 . Zu dem Rechtfertigungsbedürfnis passen die – bewussten oder unbewussten – Versuche des Abtes Martin, die Ereignisse zu beschönigen. So minimiert er die Opfer in den eroberten Christenstädten, schon in Zara 12 , und erst recht in Konstantinopel, wo er versichert, die seiner geistlichen Obhut und Leitung anvertrauten Deutschen hätten, zum Unterschied von den anderen Eroberern, nur ganz wenige Gegner getötet 13 . Vom Plündern hielt ihn dies freilich nicht ab: 7 Gunther von Pairis, c. 6, 9 (123, 131 Orth; 47f., 56f. Assmann). 8 Gunther von Pairis, c. 1 (107, Orth; 32 Assmann). 9 Von insgesamt 25 Kapiteln große Teile der c. 1, 2, 6-8, 11-13, 16f., 19, 22-24. 10 Gunther von Pairis, c. 16 (150f. Orth; 75f. Assmann). 11 Gunther von Pairis, c. 19 (161 Orth; 87 Assmann). 12 Gunther von Pairis, c. 7 (125 Orth; 49 Assmann). 13 Gunther von Pairis, c. 18 (156 Orth; 81f. Assmann). 85

metern noch unterstrichen und gehoben wird. Dennoch versteht er es, auch die<br />

schlichte und geradlinige Denkart seiner Hauptperson, des Abtes Martin, zutreffend<br />

zu vermitteln. Denn Martin war mit den „deviationes“ des Kreuzzugs<br />

nicht einverstanden. Er bat bereits in Venedig und dann erneut in Rom, anlässlich<br />

eines Gesandtschaftsaufenthaltes, also schon nach der Eroberung Zaras,<br />

um Lösung vom Kreuzzugsgelübde – vergeblich 7 : Der Papst willigte nicht ein,<br />

und Martin reiste von Rom aus direkt in das Heilige Land weiter. Dort wurde<br />

er von denjenigen Kreuzfahrern, die Akkon seit dem dritten Kreuzzug hielten,<br />

nach Konstantinopel entsandt, um militärische Hilfe zu erbitten, und so<br />

traf er anfangs Jänner 1204 doch vor Konstantinopel ein. Er wurde also, eher<br />

ungewollt, Zeuge der Eroberung, freilich auch Nutznießer der nachfolgenden<br />

Plünderungen.<br />

Gunther mahnt den Leser schon in der Einleitung: Auch wenn er den Eindruck<br />

gewinnen mag, dass selbst von unserem Volk (den Deutschen) manches<br />

gegen die Gebote der Frömmigkeit getan wurde, so soll er doch nicht daran<br />

zweifeln, dass auch dies nach dem Willen Gottes geschieht, denn Er ist ja stets<br />

gerecht 8 . Und Gunther bemüht sich im Verlauf der Erzählung unentwegt, den<br />

verborgenen und unerforschlichen Ratschluss des göttlichen Geistes auf die<br />

Schuld der Byzantiner zurückzuführen – mehr als ein Drittel des gesamten<br />

Textes ist diesem Thema gewidmet 9 . Aus den zahlreichen Argumenten, unter<br />

denen auch die so genannte „konstantinische Schenkung“ an Papst Silvester<br />

zu finden ist 10 , sei nur eines herausgegriffen, das die so schnelle Eroberung<br />

Konstantinopels erklärt: ... ich glaube, sagt er, es ist nur durch ein sichtliches<br />

Wunder der göttlichen Gnade möglich geworden, dass diese schwer befestigte<br />

Stadt, der ganz Graecia (dies der Name von Byzanz in den westlichen Quellen)<br />

zu Diensten stand, so urplötzlich, so vor aller Welt und so leicht in die Hände<br />

von wenigen gegeben wurde 11 .<br />

Zu dem Rechtfertigungsbedürfnis passen die – bewussten oder unbewussten<br />

– Versuche des Abtes Martin, die Ereignisse zu beschönigen. So minimiert<br />

er die Opfer in den eroberten Christenstädten, schon in Zara 12 , und erst recht<br />

in Konstantinopel, wo er versichert, die seiner geistlichen Obhut und Leitung<br />

anvertrauten Deutschen hätten, zum Unterschied von den anderen Eroberern,<br />

nur ganz wenige Gegner getötet 13 . Vom Plündern hielt ihn dies freilich nicht ab:<br />

7 Gunther von Pairis, c. 6, 9 (123, 131 Orth; 47f., 56f. Assmann).<br />

8 Gunther von Pairis, c. 1 (107, Orth; 32 Assmann).<br />

9 Von insgesamt 25 Kapiteln große Teile der c. 1, 2, 6-8, 11-13, 16f., 19, 22-24.<br />

10 Gunther von Pairis, c. 16 (150f. Orth; 75f. Assmann).<br />

11 Gunther von Pairis, c. 19 (161 Orth; 87 Assmann).<br />

12 Gunther von Pairis, c. 7 (125 Orth; 49 Assmann).<br />

13 Gunther von Pairis, c. 18 (156 Orth; 81f. Assmann).<br />

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