annales historici prešoviensis anno 2005 - Prešovská univerzita v ...
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SELEKTIVE ERINNERUNG BEI ZEITZEUGEN: BERICHTE ÜBER DIE EROBERUNG KONSTANTINOPELS IM JAHR 1204 JOHANNES KODER KODER, J.: Selective memory: Eyewitness accounts of the conquest of Constantinople in the year 1204. In: Annales historici Prešoviensis. Anno 2005. Prešov : Universum, 2005, pp. 80-98. In the period from 9th to 13th April 1204, the participants of the Fourth Crusade, proclaimed by Pope Innocent III, conquered Constantinople, the capital of the Christian Byzantine Empire, instead of Jerusalem. After three days of pillaging, the “Crusaders” made the city the centre of the short-lived so-called “Latin Empire” on the Bosporus. Four contemporary witnesses are called upon to comment on the momentous events: two “Latins” and two Byzantines. On one side we learn from Martin, Abbot of the Alsatian monastery of Pairis, and Robert of Clari, an ordinary knight in the service of Bishop Pierre of Amiens . Reporting from the Byzantine side are the ecclesiastical dignitary Nikolaos Mesarites and the statesman and historian Niketas Choniates. Feelings for justice among contemporary witnesses? Crusade or war of conquest? In any case, the reports offer immediate insights from drastically different viewpoints, uncoloured by historical interpretation, into contemporary witnesses’ perceptions, or into that which they wanted to leave to us as their personal truth. The final word is given to the Minnesänger Walther von der Vogelweide, a critical and even satirically polemicizing observer of the political and ecclesiastical developments of his time, who represents the perceptions of the Crusades in his native country. Am Beginn der folgenden Überlegungen stehen zwei einander widersprechende Zitate aus Augenzeugenberichten: Stadt, o Stadt, du aller Städte Augapfel, überall auf Erden berühmt, ein überirdischer Anblick, du Nährmutter der Kirchen, Anführerin des Glaubens, Leiterin der Rechtgläubigkeit, Pflegerin der Wissenschaften, du alles Schönen Heimstatt! O du, die von der Hand des Herrn den Zornesbecher trinken musste! 1 So klagt ein berühmter Zeithistoriker der Byzantiner, Niketas Choniates, über die Eroberung Konstantinopels. Anders sieht dies ein Angehöriger des Kreuzheeres, Abt Martin von Pairis: Als nun die Sieger die besiegte Stadt, die sie nach Kriegsrecht zu der ihren gemacht hatten, … plünderten, da begann der Abt Martin auch an seine eigene Beute zu denken, und um nicht allein leer auszugehen, wo alle anderen reich wurden, nahm er sich vor, auch seinerseits seine geweihten Hände zum Raub auszustrecken. Da er es aber für unwürdig hielt, mit diesen Händen weltliches 1 Niketas Choniates 576 (van Dieten), 153 (Grabler). 80
Gut anzutasten, begann er, sich an Heiligenreliquien, von denen es dort, wie er wusste, eine große Menge gab, ein gut Teil einzusammeln. 2 Auch in der Geschichte der christlichen Kirchen gibt es, wie in jedem Bereich der Geschichte, negative Ereignisse, die als besonders einschneidend und nachhaltig empfunden werden. Bei einigen Ereignissen reifte die Erkenntnis über deren Tragweite erst allmählich, so im Falle der Niederlegung der Bannbulle am Altar der Hagia Sophia vor 950 Jahren, im Jahr 1054. Bei anderen kam die Erkenntnis der Bedeutsamkeit sogleich, zum Zeitpunkt des Ereignisses. Dies gilt zweifellos für die Eroberung Konstantinopels durch die Teilnehmer am vierten Kreuzzug im Jahr 1204. Im Zusammenhang mit solchen kollektiven menschlichen Fehlleistungen werden häufig Fragen der folgenden Art gestellt: Wer hätte was wann wissen können oder müssen? Wer hat was nicht gewusst oder verschwiegen oder verdrängt? Gibt es eine kollektive Wissensschuld? Wenn solche Fragen schon für Katastrophen unserer Zeit oft schwer oder nicht angemessen zu beantworten sind, so wird man angesichts der Quellenlage zur Eroberung des Byzantinischen Reiches in den Jahren 1203 und 1204 gut daran tun, zurückhaltend zu sein und nicht vorschnell zu urteilen. Vor allzu rasches, vermeintliches Verstehen ist, im Bewusstsein einer manchmal unüberwindlichen Distanz und Fremdheit, ein Fragezeichen zu setzen 3 : Ich meine hier zunächst allgemein die Fremdheit, die uns von anderen Epochen und Kulturen trennt und die Barbara Tuchman in ihrem „Distant Mirror“ so überzeugend zum Ausdruck gebracht hat; weiters aber konkret die Fremdheit gegenüber den drei am Ende ideologisch und kulturell unterschiedlich geformten, ursprünglich jedoch auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehenden, mittelalterlichen Gesellschaften der Mittelmeerökumene zur Zeit der Kreuzzüge: der Byzantiner bzw. der Christen des Ostens, die sich ja selbst nie als „Byzantiner“ bezeichneten, sondern stets, bis in die Neuzeit als „Römer“ (Romaioi); der „römischen“, „lateinischen“ Christen, die das entstehende Europa prägten; und der Muslime, die ihre Religion als Vollendung einer dreistufigen Entwicklung verstanden (symbolisiert durch drei heilige Bücher: Altes Testament, Neues Testament, Koran). Die von mir angesprochene Fremdheit beziehe ich auch auf die Kreuzzüge – es wäre wenig zielführend, im heutigen thematischen Zusammenhang etwa eine Grundsatzdebatte darüber zu führen, ob die Kreuzzüge als solche gottgewollt und gottgefällig sind. 2 Gunther von Pairis, c. 19 (158ff. Orth; 84ff. Assmann). 3 Zur Fremdheit des Mittelalters: Barbara Tuchman, A Distant Mirror — The Calamitous 14th Century, New York 1978 (deutsch: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert. Düsseldorf 1980, München 1985). 81
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Gut anzutasten, begann er, sich an Heiligenreliquien, von denen es dort, wie er<br />
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über deren Tragweite erst allmählich, so im Falle der Niederlegung der Bannbulle<br />
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am vierten Kreuzzug im Jahr 1204.<br />
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nicht angemessen zu beantworten sind, so wird man angesichts der Quellenlage<br />
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rasches, vermeintliches Verstehen ist, im Bewusstsein einer manchmal unüberwindlichen<br />
Distanz und Fremdheit, ein Fragezeichen zu setzen 3 : Ich meine hier<br />
zunächst allgemein die Fremdheit, die uns von anderen Epochen und Kulturen<br />
trennt und die Barbara Tuchman in ihrem „Distant Mirror“ so überzeugend<br />
zum Ausdruck gebracht hat; weiters aber konkret die Fremdheit gegenüber den<br />
drei am Ende ideologisch und kulturell unterschiedlich geformten, ursprünglich<br />
jedoch auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehenden, mittelalterlichen Gesellschaften<br />
der Mittelmeerökumene zur Zeit der Kreuzzüge: der Byzantiner bzw.<br />
der Christen des Ostens, die sich ja selbst nie als „Byzantiner“ bezeichneten,<br />
sondern stets, bis in die Neuzeit als „Römer“ (Romaioi); der „römischen“, „lateinischen“<br />
Christen, die das entstehende Europa prägten; und der Muslime,<br />
die ihre Religion als Vollendung einer dreistufigen Entwicklung verstanden<br />
(symbolisiert durch drei heilige Bücher: Altes Testament, Neues Testament,<br />
Koran). Die von mir angesprochene Fremdheit beziehe ich auch auf die Kreuzzüge<br />
– es wäre wenig zielführend, im heutigen thematischen Zusammenhang<br />
etwa eine Grundsatzdebatte darüber zu führen, ob die Kreuzzüge als solche<br />
gottgewollt und gottgefällig sind.<br />
2 Gunther von Pairis, c. 19 (158ff. Orth; 84ff. Assmann).<br />
3 Zur Fremdheit des Mittelalters: Barbara Tuchman, A Distant Mirror — The Calamitous 14th<br />
Century, New York 1978 (deutsch: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert. Düsseldorf<br />
1980, München 1985).<br />
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