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Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

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Peter Weber<br />

Die Halle<br />

Aus: Bahnhofsprosa<br />

Ich sitze in der Bahnhofshalle im üppig aufwachsenden Gerede, das zum<br />

Gebrabbel wird, die Decke entlangufert. Wieder und wieder hatte ich festgestellt,<br />

daß es im Hauptbahnhof Orte gibt, an denen das Gerede aufwächst<br />

wie in der Sixtinischen Kapelle, wo es ein einmaliges Gerede gibt,<br />

zusammengesetzt aus Sprachen aller Welt. Laute der unterschiedlichsten<br />

Formung verbinden sich zu einem Brei, der Blasen treibt, steigt, als würde<br />

er hochgekocht werden von geheimem Feuer, bald an der Decke<br />

anschwappt, Wellen wirft, die zu Winden werden, die man Sprechwinde<br />

nennt. In diesen Sprechwinden, die stark variieren, bei hohem Anteil<br />

Deutschsprechender oder Englischsprechender zu Turbulenzen werden,<br />

bleibt einiges an Feuchtigkeit, teils des Atems, teils des Speichels wegen.<br />

Die Feuchtigkeit in den Sprechwinden ist Gift für die Farben der Fresken<br />

und wird ursächlich in Verbindung gebracht mit dem Gilb, der sich, von<br />

der Decke her, die Wände hinabgefressen hat. Sprechwinde sind dem Gilb<br />

günstige Nahrung, ja je mehr geredet wird in der Sixtinischen Kapelle,<br />

desto eifriger frißt er sich herab, als würde er sich nähren von den<br />

Staunlauten, den Steigerungsformen, den sich wiederholenden Ausrufen<br />

des Kaum-zu-Glaubens, die zur Decke geschickt werden. Das geheime<br />

Feuer, das dieses Gerede aufheizt, ist die freigewordene Hitze der Sprechladungen<br />

der Reisenden aus aller Welt, je größer die Worte, die ihnen aus<br />

größer werdenden Mündern kommen, desto heftiger werden die<br />

Sprechwinde, und zu immer gröberen Verallgemeinerungen lassen sich<br />

die Menschen aus aller Welt hinreißen, nur Großes, Wichtiges, Bedeutsames<br />

hört man, die Hälse leeren sich, immer neues Sprechholz lagert<br />

sich ab, woraus sich das Feuer selbstredend speist. Benommene sitzen<br />

die Wände entlang auf den immervollen Bänken im Hall und starren in<br />

die Höhe, sie sind gefahren, geflogen, durch unzählige Säle und Gänge<br />

geeilt, vor ihren Augen beginnen sich die gemalten Figuren zu regen.<br />

Zu reden wäre in der Sixtinischen Kapelle eigentlich verboten, weshalb<br />

alle paar Minuten, wenn das Gerede zum Gebrodel geworden und also<br />

bedrohlich aufgewachsen ist, ein Wächter sein Zischen zwischen die Leute<br />

schickt, eine langgezogene, geschliffene Konsonantenreihung, als würde<br />

er von großen Schiffen und von großen Fischen sprechen, worauf das<br />

Gerede verebbt, ganz einsickert.<br />

Ich habe diese Männer beobachtet. Sie tragen schöne schwarze<br />

Uniformen mit schwarzen Kapitänsmützen, auf die mit goldenem Faden<br />

silenzio gestickt ist. Sie tragen ihre Uniformen mit schnittigem Ernst, es<br />

handelt sich, könnte man meinen, um Studenten des Konservatoriums,<br />

die im Nebenerwerb arbeiten. In Wahrheit muß man dafür berufen sein.<br />

Maresciallo del silenzio, so die offizielle Bezeichnung für diesen Beruf,<br />

ist ein geschützter Titel, damit verbunden eine strenge Ausbildung. Gesucht<br />

werden alleinstehende, alleinwohnende Männer zwischen dreißig und<br />

vierzig, die den Bund der Ehe nicht eingehen wollen, sich ganz der Stille<br />

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