06.07.2014 Views

Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

Brigitte Kronauer<br />

Seiten weisgemacht wird, in erster Linie auf die schönen, nachgeschmeckten<br />

Vokabeln an? Wer hat die Architektur ins, ja ins Nichts –«, hier schien<br />

er selbst etwas zu erschrecken, vollendete aber verstockt: »geliefert?« »Der<br />

Autor, der Autor, kein anderer«, erriet jetzt Schnurrers Frau, überraschend<br />

gefaßt. Auch sie schrieb manchmal Geschichten, gar nicht ganz schlechte,<br />

aber wohl nur, um die vielen Momente, in denen sie kindisch reagierte,<br />

als sich selbst Durchschauende zu rechtfertigen und mit ihren Untugenden<br />

und Ticks wuchern zu dürfen und auch noch gut dazustehen.<br />

Und all das, obwohl ihr Lieblingslied, gelegentlich von morgens bis abends,<br />

so ein Quatsch war wie: »0 pardon, sind Sie der Graf von Luxemburg? 0<br />

pardon, sind Sie der große Mann von Welt?« mit immerhin einer Variationsmöglichkeit,<br />

nämlich der, das Ganze in französischem Akzent vorzutragen,<br />

um es noch zu verschlimmern.<br />

Der letzte Ausbruch des Schriftstellers hatte Schnurrer verblüfft. Davon<br />

lenkte ihn auch seine Frau nicht ab. Dieses erbitterte Beben der Lippen,<br />

gekoppelt mit einem leichten Hochrücken beider Ohrmuscheln, konnte<br />

Frank der Junge nicht vom Meister abgesehen haben, von keinem! Es saß<br />

wie angegossen und über jeden Zweifel erhaben, es mußte etwas Reelles<br />

sein. Nun galt es doch, dieses Gesicht einmal genauer zu betrachten.<br />

Schnurrer benötigte nicht viel Zeit dafür. Er wußte es mit einem Ruck.<br />

Es war nackt! Im Ruhezustand ohne die geringste Falte und Gravierung,<br />

ausdruckslos. Es war die Blöße schlechthin, ein schierer Fleischesakt in<br />

aller Öffentlichkeit, fast wund vor Nacktheit am hellichten Tage und<br />

schneckenhaft weich. Zur Besinnung gekommen, kämpfte es schon<br />

wieder um Fassung durch die Mienenanweisungen seines Vorbilds,<br />

rutschte nach unten, der gesamte Mann rutschte tief in den Sessel. Besiegelnd<br />

wieder die gestreckten Arme, die kapitulierend geöffneten Hände.<br />

Jung Frank arbeitete ununterbrochen, und Schnurrer verstand, daß er<br />

gar nicht anders konnte. Jede Sekunde war er damit beschäftigt, die Rüstung<br />

zu festigen für das ungeformte Fleisch der Wangen, den undeutlichen<br />

Lippenschwung. Schnurrer begann heftig zu rauchen, um sich nicht<br />

genieren zu müssen vor so viel Rührendem und, hoffentlich ohne daß<br />

Frank oder Müller es ahnte, rettungslos in die Enge Gedrängtem. Daraus<br />

konnte ja wahrhaftig noch was werden! Ach Gott, wie der Junge näselnd<br />

und mäklerisch und dämlich das »ä« nach streng gelernter Lektion dehnte<br />

und dabei zur Ruhe kam für einen verdienten Augenblick.<br />

Schnurrer aber, während er seinen Gast den »guten Tropfen« altväterlich<br />

nach Art des Meisters loben ließ, sah sich hoch über einem Fluß<br />

stehen, von einem Hang hinabblickend in die grützegraue Weltuntergangslandschaft<br />

der Werften und Raffinerien. Er sah sich sogar im Prinzip jetzt<br />

über allen ihm bekannten Landschaften schweben, auch über Städten,<br />

wenn noch ein bißchen geologischer Rest sichtbar geblieben war, und<br />

sah sich das unter ihm Ausgebreitete lange, lange anstarren und dabei<br />

immer tiefer – und es war kein Leichtes, sondern eine Anstrengung –,<br />

tief zurücksinken in die Zeit, in Jahrhunderte, Jahrtausende, so daß sich<br />

die Landschaft immer unzivilisierter zeigte. Er hatte es bisher wohl meist<br />

so gemacht, es aber nie von sich gewußt. Er sah hin und wieder hin, bis er<br />

33

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!