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Departures Germany Spring 2017

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KULTUR-INDEX Aktuelles

KULTUR-INDEX Aktuelles aus dem Kunstbetrieb NEO-EXPRESSION Clemente in seinem Atelier in NoHo am 19. September letzten Jahres RASPUTIN Ein Gespräch mit dem Maler, der in Italien geboren wurde und sich inspirieren lässt von Indien, am Vorabend seiner jüngsten Ausstellung in Florida. VON JULIAN SANCTON D er Maler Francesco Clemente hat eine unkonventionelle Reise durch die Kunstwelt hinter sich. Nein, durch die Welt im Allgemeinen. 1952 in Neapel geboren, brach er sein Architekturstudium ab und schloss sich der Arte-Povera-Bewegung an, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien den Ton angab. Dann brach er nach Indien auf, das seine farbenfrohen fantasmagorischen Werke nach wie vor inspiriert. Als er nach New York zog, war die Malerei aus der Mode gekommen, doch bei den sogenannten Neoexpressionisten – darunter auch Julian Schnabel und Jean-Michel Basquiat – IM GESPRÄCH TEA TIME BEI FRANCESCO CLEMENTE fand er Anklang. Kürzlich empfing mich der 64-jährige Clemente in seinem Atelier im New Yorker Stadtteil NoHo. Einige Pfeiler sind mit Farbtupfern und aufgekritzelter Poesie versehen und an einer Wand weiter hinten hängen Porträts von Freunden wie Pedro Almodóvar oder Scarlett Johansson. Clemente ist gerade aus Peking zurückgekommen und bietet mir eine Tasse des starken Tees an, den er dort gekauft hat. Dann setzt er sich, um mit mir über seine rastlose Karriere und seine aktuelle Ausstellung mit dem Namen Dormiveglia im NSU Art Museum Fort Lauderdale zu sprechen. Bis 23. April 2017; nsuartmuseum.org » DEPARTURES-INTERNATIONAL.COM 51

KULTUR-INDEX Es sieht so aus, als ob sich dieser Ort seit Jahrzehnten nicht verändert hätte. Ich weiß. Ich glaube, dass inzwischen sogar die Erinnerung an dieses New York verblasst ist. Wenn mich jüngere Freunde hier besuchen, sind sie begeistert. Für sie steht das hier nicht für die Vergangenheit, sondern für eine alternative Form der Gegenwart. Und das ist es auch. Schließlich verändert sich doch alles. Das nennt man Vergänglichkeit. Erzählen Sie mir über Ihre Reise nach China. Was haben Sie dort gemacht? Ich habe den Sommer in Peking verbracht. Ich hatte dort eine Ausstellung in einer Privatgalerie. Nachdem ich vor Ort ein wenig gearbeitet habe, bin ich noch einen Monat dort geblieben. Haben Sie sich inspirieren lassen? Meine nomadische Lebensweise ist keine Erfindung. Ich mache es mir zunutze, in ungewohnten Umgebungen zu sein, und ich mag es, so zu arbeiten. Für mich ist ein Hotelzimmer der ideale Arbeitsplatz. Sogar für Ölgemälde? Das ist natürlich problematisch. Meine Hotelzimmer sind normalerweise auch sehr klein. Das in Peking war winzig. Ich habe dort in einem sehr alten Stadtteil gewohnt. Sie bleiben nie lange an einem Ort. Woher kommt diese Wanderlust? Tja, ich laufe eben davon. Finden Sie nicht, dass es viele Gründe gibt, davonzulaufen? Waren Sie nicht glücklich in Italien? Diese Frage wurde mir schon vor 40 Jahren gestellt. Es war im Himalaya, eine Bauersfrau sprach mich an und fragte, „Wo kommen Sie her?“ Ich sagte, „Italien“, und sie fragte, MEDITERRANE MUSEN Im Uhrzeigersininn von oben links: Dormiveglia II, 1998; Dormiveglia VI, 1998; Selbstporträt I, 1982 „Ist Italien ein guter Ort?“ Und ich sagte, „Ja.“ Sie fragte, „Warum sind Sie dann hergekommen?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Und ich weiß es auch heute nicht. Es scheint, als hätten Sie Zuflucht in der Kunstgeschichte gesucht. Sie haben zu einer Zeit gemalt, als die Konzeptkunst allgegenwärtig war. Naja, für mich besteht die Geschichte nicht aus den letzten 15 Jahren, sondern aus den letzten 5.000 Jahren. Natürlich denke ich an die Vergangenheit, aber wir alle denken dabei an die Vergangenheit, die wir uns aussuchen. Ich überspringe das 19. Jahrhundert und meide das 18. Jahrhundert. Ich bin im 15. Jahrhundert glücklich. Ich bin glücklich, wenn ich in einer Höhle die Malereien sehe. Wir alle suchen uns unsere Vergangenheit aus, damit wir uns die Zukunft so ausmalen können wie wir wollen. Haben Sie sich als Künstler weiterentwickelt? Nein, denn ich denke niemals linear, auch nicht was meine eigene Arbeit betrifft. Ich denke radial und will verschiedene Wege gehen, wobei diese Wege auch irgendwann zusammenlaufen können. In Indien bin ich auf den Begriff Tantra gestoßen, den ich sehr mag. Er deckt eine Vielzahl von Praktiken und Traditionen ab. Tantra heißt Gewebe, und die Form meiner Arbeit ist wie ein Gewebe. Eine Linie wird sichtbar, tritt hervor und taucht wieder ab, sodass wir sie nicht mehr sehen, aber sie ist irgendwie immer noch da. Was hat Sie nach Indien geführt? Ich war sehr unzufrieden mit dem, was ich zu der Zeit in Europa sah. Ich fand, dass sich alles auf eine Sackgasse zubewegte. Also buchte ich ein Flugticket nach Indien. Ein Freund von mir, Theosoph, hatte die Gespräche eines Mystikers aus Nordindien übersetzt. Ich nahm seine Übersetzungen mit, um sie diesem Mann zu zeigen und dann kam eins zum anderen. Was fanden Sie an diesem Land so anziehend? Ich habe mich nicht in die ethnische Seite Indiens verliebt. Ich habe mich in den Typ im Postamt verliebt. Ich musste immer wieder an einen von Rilkes Briefen an einen jungen Dichter denken, in dem er schreibt, wie schön es ist, keinen künstlerischen Beruf zu haben. Und dass ein bodenständiger Beruf einem die Freiheit gibt, sich Lieder und Poesie auszudenken und zu genießen. Indien war zu dieser Zeit ein sozialistisches Land. Voll mit Leuten, die in einem Büro gestrandet sind. Sie verpacken viele Ideen. Warum drücken Sie sich nicht direkter über Texte oder Gedichte aus? Ich verbringe viel Zeit damit, zu verheimlichen, dass ich ein Maler bin. Sie werden mich nicht dabei erwischen, wie ich übers Malen spreche. COURTESY THE ARTIST, KIM HEIRSTON ART ADVISORY, NEW YORK, © FRANCESCO CLEMENTE 52 DEPARTURES-INTERNATIONAL.COM

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