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Die Selbstbetrüger vom Amazonas (Der Spiegel)<br />
Aus Belém berichtet Jens Glüsing<br />
<strong>Press</strong> <strong>Report</strong> <strong>Europe</strong> <strong>WSF</strong> <strong>2009</strong><br />
Chaotisch, anarchisch - das Gegenmodell zum Eliteforum in Davos: So feiern Politiker und Aktivisten das<br />
Weltsozialforum in Belém. Geflissentlich übersehen sie, dass die anwesenden Präsidenten Lateinamerikas<br />
daheim ganz anders herrschen - und die geladenen Ureinwohner nur Statisten sind.<br />
“Entschuldigung, wo bitte geht es zur UFPA Básico, ICB Anexo, Pat 02?”<br />
Die junge Dame mit dem Federschmuck schenkt dem verschwitzten Deutschen ein entwaffnendes Lächeln, zuckt mit<br />
den Schultern und flötet im weichen Singsang-Portugiesisch der Amazonasbewohner: “Keine Ahnung.”<br />
Ureinwohner Brasiliens in Belém: “Magischer Moment”<br />
REUTERS<br />
Danke, das reicht, sie ist jetzt die fünfte mit dieser Antwort. Wozu studiert sie denn an dieser verflixten Uni? Warum trägt<br />
sie die grüne Weste, die sie als “Orientadora” ausweist, als menschliche Wegweiserin durch dieses Labyrinth namens<br />
UFPA? Die Abkürzung steht für “Bundesuniversität von Pará”, sie ist eines von drei Tagungszentren des<br />
Weltsozialforums in Belém an der Amazonasmündung.<br />
Irgendwo in den Eingeweiden dieses Unimonsters doziert der deutsche Politikwissenschaftler Elmar Altvater seit einer<br />
halben Stunde über die Zukunft des Regenwalds - vermutlich vor leeren Stühlen, denn ohne Satellitenortung finden nicht<br />
einmal Besucher, die des Portugiesischen mächtig sind, zu dem Professor aus Berlin.<br />
MEHR ÜBER…<br />
Weltsozialforum Belém Amazonas Elmar Altvater Finanzkrise Ana Júlia Carepa Hugo Chávez<br />
zu SPIEGEL WISSEN<br />
Gerade beschließt der genervte Besucher, den Abend mit einigen Flaschen Cerpa-Bier im Stadtzentrum zu verbringen,<br />
da erbarmt sich doch noch eine ortskundige Seele und führt ihn zu dem Hörsaal. Der Raum ist rappelvoll, bis auf den<br />
Gang drängen sich die Zuhörer. Auch der deutsche Botschafter sitzt mit verschwitztem Hemd im Publikum und macht<br />
sich Notizen.<br />
Das Weltsozialforum, früher von den Mächtigen dieser Welt als Tropen-Woodstock belächelt, ist salonfähig geworden.<br />
Davos mag mit Zahlen und Namen glänzen, aber neue Ideen gedeihen eher im “kreativen Chaos” von Belém, wie<br />
Altvater das nennt.<br />
Valdemiro Rosinho Kaixanu kam per Kanu und Dampfschiff<br />
Glücklich stapft der 70-Jährige in Baumwollhosen und Sandalen über den vom Dauerregen versumpften Campus. Er ist<br />
der Doyen unter den deutschen Globalisierungskritikern, er hat schon vor fünf Jahren das Ende des Kapitalismus<br />
vorhergesagt. Brasilien kennt er von zahlreichen Besuchen als Gastdozent, er spricht gut Portugiesisch. Jetzt freut sich<br />
der Professor aus Berlin, dass seine Thesen in Belém diskutiert werden.<br />
100.000 Besucher aus allen Ecken des Planeten sind zum Anti-Davos in die Amazonasmetropole gekommen,<br />
angesehene Intellektuelle ebenso wie der italienische “Verein zur Förderung des Sports für alle” und die “Gesellschaft<br />
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