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6 PORTRÄT BETROFFENER<br />
SCHAUEN, DASS MAN ZU SEINEM LEBEN KOMMT<br />
Bruno Grolimund ist seit 35 Jahren mit Heidi verheiratet. Sie haben zwei Töchter grossgezogen. Bruno<br />
nimmt sich Zeit für dieses Interview. Er fi ndet die Idee gut, das Leben mit <strong>Parkinson</strong> auch aus der Sicht des<br />
Partners und der Familie zu erzählen, und verhilft uns zu bemerkenswerten Einsichten.<br />
as hat man mit ihr nicht alles probiert!» Bruno Gro-<br />
W limund sitzt am Tisch. Sein graumeliertes Haar glitzert<br />
in der Sonne. Er geht heute später Ski fahren. Das will<br />
etwas heissen, denn das Skifahren ist seine Leidenschaft.<br />
Doch man spürt auch, dass ihn das alles interessiert, die Interviews<br />
mit der Familie, die Fotos. Natürlich geht es um<br />
seine Frau Heidi, aber auch um ihn, die Töchter, darum zu<br />
zeigen, wie alle mit einer chronischen Krankheit leben.<br />
Lange Ungewissheit<br />
Zunächst beschreibt der 60-Jährige den Zustand seiner Gattin.<br />
Erzählt, wie alles kam mit dem Unfall als junge Frau, der<br />
Odyssee durch Arztpraxen und Spitäler, den vielen Therapieversuchen.<br />
«Man wusste ja nicht, was es war», sagt er. «Und<br />
auf <strong>Parkinson</strong> kam lange niemand.» Es sei ein Leidensweg gewesen.<br />
Dass auch er gelitten habe, sagt er nicht, aber das<br />
kann man sich gut vorstellen. Dass es ihr heute gut geht, beschreibt<br />
er als grosse Erleichterung.<br />
Er kennt Heidi schon seit ihrer Jugend. Seit 35 Jahren sind<br />
sie verheiratet. Sie haben am selben Tag Geburtstag. Er kennt<br />
sie genau, vielleicht noch genauer, weil sie krank ist. Denn<br />
unweigerlich beobachtet er sie. Er merkt sofort, wenn der<br />
Spiegel ihrer Medikamente nicht stimmt oder ob sie einen<br />
guten Tag hat. Kommt er nach Hause, genügt ein Blick, und<br />
er weiss, wie es ihr geht. «Ich spüre immer, was bei ihr läuft.»<br />
Permanente Beobachtung, das mag für Aussenstehende befremdend<br />
wirken. «Das läuft ja nicht bewusst ab und hat sich<br />
über die Jahre entwickelt», sagt er. «Es ist mehr ein Instinkt,<br />
ein Kümmern.» Er fügt an: «Ihre Situation immer präzise einschätzen<br />
zu können, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.» Er<br />
kann sich darauf verlassen, dass ihm etwa rechtzeitig einfällt,<br />
dass sie ihre Medikamente nehmen muss. Er kann die Wanderung<br />
mit ihr planen, weil er weiss, wie viel sie heute schafft.<br />
Und er merkt auch, wenn es besser ist, ein gemeinsames Vorhaben<br />
fallen zu lassen, weil es Heidi nicht gut geht. Oder dass<br />
er sie auch einmal einfach nur in Ruhe lassen muss.<br />
Mitglied einer Selbsthilfegruppe<br />
Bruno scheint es zu gelingen, das alles mit seinem Leben zu<br />
vereinbaren. Als ahne er die Gedanken seines Gegenübers,<br />
sagt er: «Natürlich muss ich darauf achten, dass ich zu<br />
meinem Leben komme.» Mit einer Krankheit müsse man<br />
alles anders anschauen. Lebensqualität in einer Ehe messe<br />
sich auch daran, dass jeder seinen Interessen nachgehen<br />
kann. So leicht sei das nicht immer gewesen, zurückzustecken<br />
und den Rhythmus zu verlangsamen. Bruno ist ein<br />
sportlicher Typ, eher ein Geniesser als ein «Chrampfer». Seit<br />
einiger Zeit hat er sich einer Selbsthilfegruppe für Partner<br />
angeschlossen. Dort bekommt er Anregungen, Hilfe und<br />
Ideen für den Alltag im Leben mit <strong>Parkinson</strong>. Er schätzt es<br />
auch, dort offen reden zu können. «Wenn wir zusammen<br />
sind, kann man Probleme nicht immer gleich gut besprechen.<br />
Da hält man sich zurück, weil man den anderen nicht<br />
verletzen will.»<br />
In der Gruppe erfährt er aber auch eine Art Ausgleich. Er<br />
hört, was andere erleben, er weiss: «Es gibt ja noch viel<br />
schlimmere Dinge im Leben mit <strong>Parkinson</strong>.» Seine grösste<br />
Angst hat er durchlebt, als es vor fast 30 Jahren darum ging,<br />
ob Heidi Kinder haben könne. Heute ist er froh, ist alles gut<br />
gegangen. Doch er weiss, dass die Zukunft nicht einfacher<br />
wird. Wenn man ihm zuhört, hat man den Eindruck, er habe<br />
ein Stück dessen verinnerlicht, was er <strong>Parkinson</strong>kranken zuschreibt:<br />
dass sie toleranter sind, mehr Wertschätzung haben<br />
für das, was sie haben. «Man kann die Krankheit ja nicht<br />
aus der Welt schaffen», sagt er. Man kann nur intensiver mit<br />
dem leben, was einem bleibt.» m<br />
ÜBER ALLES REDEN<br />
Für Sarah, die jüngere Tochter von Heidi, ist die chronische<br />
Krankheit der Mutter ein Teil ihres Lebens. Sie kennt ihre<br />
Mutter nicht anders. Umso mehr freut sie sich darüber, dass<br />
es ihr seit einigen Jahren so viel besser geht.<br />
ür uns Kinder war es immer völlig normal, dass unsere<br />
F Mutter gesundheitlich reduziert ist.» Sarah Grolimund<br />
macht mit ihren Eltern im Berner Oberland Skiferien. Heute<br />
kam sie extra früher von der Piste zurück, um mit uns<br />
über Kranksein und Alltag zu sprechen. Etwas zögerlich erzählt<br />
sie zunächst. Doch mit der Zeit wird sie ausführlicher.<br />
Sie berichtet davon, wie es war, als Kind mit einer kranken<br />
Mutter aufzuwachsen. «Wir haben ja lange nicht gewusst,<br />
was sie hat», sagt sie. «Für uns Kinder war die Mutter nicht<br />
eigentlich krank. Sie war einfach so, wie sie war.» Auch Bemerkungen<br />
oder Fragen der Freunde war sie gewohnt. «Dein<br />
Mami läuft so komisch», hiess es oft.<br />
«Sie war immer für uns da»<br />
Offen über die Krankheit geredet hat die Familie eben lange<br />
nicht. «Sie hat ihre Probleme früher versucht zu verstecken,<br />
und so war die Krankheit kein Thema.» Kinder machten<br />
halt, was die Eltern ihnen vorleben, meint sie lakonisch.<br />
Doch sie erwähnt auch, dass ihre Mutter immer für sie da<br />
gewesen sei. Nie habe sie ihre Beschwerden in den Mittelpunkt<br />
gestellt oder gar gejammert. Wenn es der Mutter nicht<br />
gut ging, haben die Kinder im Haushalt mehr angepackt.<br />
«Doch eigentlich hat sie immer für uns gesorgt. Ich fühlte<br />
mich nie eingeschränkt, weil meine Mutter krank ist.»<br />
PORTRÄT BETROFFENE<br />
Heute lebt die 25-jährige Köchin in einer eigenen Wohnung.<br />
Ihre Mutter sieht sie alle paar Tage, manchmal aber auch<br />
mal eine Woche gar nicht. Doch in Verbindung sind Mutter<br />
und Tochter immer. Früher habe sich die Mutter um die<br />
Tochter gesorgt, heute scheint es umgekehrt. «Wenn sie sich<br />
nicht bei mir meldet, mache ich mir Sorgen.»<br />
Sarah bewundert den starken Willen ihrer Mutter. Es sei<br />
faszinierend, wie sie als junge, gesundheitlich schwer angeschlagene<br />
Frau von daheim wegging, heiratete und zwei<br />
Kinder grosszog. Dass ihre Mutter heute so aktiv ist, führt<br />
sie darauf zurück, dass es ihr viele Jahre nicht gut ging und<br />
sie auf vieles verzichten musste. Vielleicht hole sie etwas<br />
nach, meint Sarah. Ob sie ohne die Krankheit auch so umtriebig<br />
wäre? Aber das sei Spekulation. Entscheidend sei<br />
vielmehr, dass es ihrer Mutter heute so viel besser gehe.<br />
Ausschlaggebend war die Wahl der richtigen Medikamente.<br />
«Mit denen hat sie viel mehr Lebensqualität.» Und seit sie<br />
wisse, dass sie ein <strong>Parkinson</strong>syndrom habe und diese Krankheit<br />
akzeptiere, sei ihre Mutter selbstbewusster und aktiver<br />
geworden, kein Vergleich zu früher. Auch die Selbsthilfegruppe<br />
tue ihr gut, denn seit sie andere mit <strong>Parkinson</strong> kenne,<br />
könne sie ihre Situation besser relativieren.<br />
Sorge und Anerkennung<br />
Manchmal sinniert sie, ob die Mutter sich nicht zu viel zumute.<br />
So wie letzten Winter, als sie stürzte und sich den<br />
Arm brach. Sie habe sich zu wenig geschont, schliesslich reagiere<br />
sie nicht so schnell wie jemand Gesunder. Sarah Grolimund<br />
spricht mit einer Mischung aus Sorge, Anerkennung<br />
und Freundschaft. Der Zusammenhalt der Familie ist der<br />
Boden für beide, Mutter und Tochter. «Die Hauptsache für<br />
uns ist doch, dass wir über alles reden können.» m<br />
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