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Spectrum_05_2022

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Kirchen. Je weiter eine religiöse Praktik in

China vom christlichen Modell entfernt

war, desto heftiger begegneten ihr die Reformbewegungen.

Alles was sich nicht einer

Religion zuordnen liess, galt als Aberglauben.

Professor Gauthier weist darauf

hin: «Aberglauben ist nicht nur eine erfundene

Kategorie, sondern eine zutiefst christliche.»

Zwar gab es bereits unter dem Kaiser Riten

und Praktiken, die als akzeptabel oder

inakzeptabel galten. Doch eine klare Trennung

zwischen Religion und Aberglauben

entstand erst unter westlichem Einfluss.

Abergläubische Praktiken wurden verboten.

Um dem Verdacht des Aberglaubens zu entkommen,

vollzogen viele Praktiken einen

Wandel. Die Kampfkunst distanzierte sich

von ihrer «religiösen» Komponente und

legte einen Fokus auf den Sport. Die Traditionelle

Chinesische Medizin unterzog

sich einer «Verwissenschaftlichung», damit

sie ergänzend zur westlichen Medizin weiterbestehen

konnte.

Mao und die Kulturrevolution

Als die Kommunistische Partei 1949 die

Macht übernahm, übernahm sie auch das

Begriffspaar der Religion und des Aberglaubens.

Karl Marx bezeichnete Religion

als das Opium des Volkes, weil sie das Leid

der Arbeiter*innen betäubt und den Status

Quo aufrechterhält. In einer sozialistischen

Gesellschaft hat Religion demnach

nicht nur keinen Platz, sondern auch keine

Funktion. Denn wenn die materiellen Bedürfnisse

aller gestillt sind – so die Theorie

– braucht es keinen religiösen Trost mehr.

Trotzdem durften die unterschiedlichen

Religionsgemeinschaften unter kommunistischer

Herrschaft erstmal in streng regulierter

Form weiter existieren. Sie durften

den Kommunismus jedoch nicht hinterfragen.

Das, was die Partei aber als «feudaler

Aberglauben» bezeichnete, wurde verboten.

So instrumentalisierte die Kommunistische

Partei den Begriff des Aberglaubens, um die

religiöse Freiheit einzuschränken.

Mao Tse-tung lancierte 1966 eine politische

Kampagne, um mit alten Traditionen

zu brechen und einen modernen,

sozialistischen Staat aufzubauen. Während

dieser «Kulturrevolution» verschwanden

viele Spuren von Religion aus dem öffentlichen

Leben. Hatten um 1900 in China

noch über eine Million Tempel gestanden,

fanden sich nach 1976 gerade mal ein paar

Dutzend. Auch Mönche und Priester, die

nicht der Parteilinie folgten, verschwanden.

«Abergläubische» Traditionen, wie z.B. das

Verbrennen von «Geistergeld» als Opfergabe

für die Ahnen, liessen sich schlechter

regulieren als Religion und wurden ganz

unterdrückt.

Gegenwart

Nach Maos Tod und der Marktreform von

1978 erlebte China einen religiösen Boom.

Dabei blühten viele spirituelle Praktiken wieder

auf, die in den Jahrzehnten zuvor als Aberglaube

definiert worden waren. Auch offizielle

Gebäude besitzen nach 1978 Gebetsschreine

oder sie werden nach der Lehre des Fengshui

eingerichtet. Die Körperübungen des

Qi-Gongs finden zum Teil in grossen Stadien

statt. Zwar blieben die Gesetze gegenüber

diesen Praktiken strikt, doch je nach Region

wurden sie weniger streng durchgesetzt. Als

politischer Begriff ist der Aberglauben in China

weniger präsent als früher.

«Im frühen 20. Jahrhundert steckte China Religiosität

in eine klare Schublade, doch nach

1978 sprengten die religiösen Praktiken diese

Schublade wieder», erklärt Professor Gauthier.

Die grossen, religiösen Institutionen bleiben

in China unter staatlicher Kontrolle, doch

die Mehrheit der gelebten Religion findet ausserhalb

dieser «Schublade» statt. Heute gibt es

in China statt der wenigen Dutzend nach der

Kulturrevolution zwei Millionen Tempel. Die

Logik der globalisierten Marktwirtschaft hat

auch die Religion erreicht: Es gibt ein vielfältiges

Angebot an religiösen Praktiken, aus denen

die chinesische Bevölkerung theoretisch

auswählen kann. Jedenfalls so lange der Staat

dieses Angebot selbst regelt und jede Praxis

die «sozialistischen Kernwerte» vertritt. P

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