Spectrum_02_2022
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GESELLSCHAFT
Text Katharina Schatton
Foto ZVG
«Etwas zurückgeben»
Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden, sind leider
nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine Teil europäischer Realität.
Die Freiburgerin Mary Wenker setzt sich seit Jahren in Griechenland
für Asylsuchende ein. Im Interview mit Spectrum spricht sie
über ihre Arbeit.
Wie kam es dazu, dass du dich
so intensiv im Flüchtlings- und
Asylbereich einsetzt?
Ich hatte keine einfache Jugendzeit. Aber
ich hatte Glück: Ein paar Monate vor meinen
Maturaprüfungen fand mich mein
Chemielehrer tränenüberströmt auf dem
Weg zu mir nach Hause und lud mich auf
einen Kaffee ein. Ich bin mir sicher, dass
ich meinen Abschluss nicht geschafft hätte,
wenn er sich in dem Moment nicht meiner
angenommen hätte. Ich habe also etwas
von jemandem bekommen, ohne, dass eine
Gegenleistung von mir erwartet wurde. Der
Wunsch, etwas zurückzugeben, prägt deshalb
bis heute mein Tun und ist zu einer Art
Lebensphilosophie geworden. Zu teilen und
zu unterstützen gibt meiner Existenz Sinn.
Wie wirkt sich diese Haltung auf deine
Arbeit aus?
Ich hoffe, dass die Menschen, die ich unterstütze,
ähnlich reagieren. Dass sie in der
Lage sind, etwas beizutragen. Viele von
ihnen tun dies bereits. Hasan zum Beispiel
ist selbst als Flüchtling nach Griechenland
gekommen, wir haben ihn über zwei Jahre
beherbergt. Heute ist sein Asylgesuch angenommen
und er arbeitet als Freiwilliger eng
mit ChooseHumanity zusammen.
Ich bin der Ansicht, dass ich durch Zufall in
diesem Land geboren wurde. Auch die damit
verbundenen Privilegien sind uns durch
Zufall zuteilgeworden und wir müssen sie
teilen. Natürlich bin ich stolz auf alles, was
ich in meinem Leben schon geschafft habe.
Mein Studium, meine Arbeit, mein Engagement.
Mein Schicksal wäre aber ganz anders
verlaufen, wenn ich in Afghanistan oder in
einem afrikanischen Land geboren wäre.
Wir dürfen nichts als Selbstverständlichkeit
ansehen und müssen uns unserer Privilegien
bewusst sein.
Wie sieht heute der Rhythmus deiner
Freiwilligenarbeit aus?
Ich bin aktuell durchschnittlich zehn Tage
pro Monat in Griechenland. Fixe Projekte
habe ich mit meiner Organisation Choose-
Humanity nicht. Wir sind sehr flexibel und
passen uns den aktuellen Umständen an, je
nachdem, was gerade gebraucht wird. Deshalb
hatte ich schon sehr unterschiedliche
«Mir ist klar, dass sich
nicht alle so engagieren
können, wie ich es tue.
Aber wir können einander
Sorge tragen.»
Mary Wenker
Aufgaben: Ich habe Geflüchtete bei der Ankunft
von Booten in Empfang genommen,
Essen und Kleider verteilt, aber auch als
Therapeutin und Übersetzerin gearbeitet
und kreative Workshops angeboten. Wir finanzieren
auch Wohnplätze, medizinische
Massnahmen und Lebensmittelgutscheine.
Generell hat sich meine Arbeit weg von
den Camps hin zu einem individuelleren
Austausch mit Menschen auf der Flucht gewandelt.
Wir arbeiten eng mit anderen Organisationen
zusammen. Es ist wichtig unsere Kräfte
zu bündeln. Dadurch entstehen auch enge
Freundschaften mit anderen Freiwilligen.
Das ist sehr motivierend und essenziell, um
durchzuhalten.
Auf was für Schwierigkeiten stösst du
bei deiner Arbeit?
Als ich zum ersten Mal in Griechenland war,
dachte ich «Ah – endlich habe ich meinen
Platz gefunden.» Davor hatte ich immer Probleme
mit meinen Vorgesetzten. Mir wurde
aber schnell klar, dass die humanitäre Arbeit
ähnliche Schwierigkeiten mit sich bringt, die
oft mit Machtkonflikten und Egos zu tun haben.
Ich hinterfrage auch die Motive mancher
Menschen: Ist man ehrenamtlich tätig, um
etwas zu erleben? Um eine Rubrik in seinem
Lebenslauf hinzuzufügen? Wie sieht
die Hilfe aus, die man leistet? In dem Team,
in dem ich arbeitete, mussten wir eine Art
Verhaltenskodex unterschreiben, in dem
es hiess, dass wir uns zurückhalten und die
Geflüchteten nicht für geleistete Dienste
bezahlen sollten. Ein Geflüchteter zum Beispiel
schnitt mir die Haare und ich sah nicht
ein, wieso ich ihn nicht bezahlen sollte.
Weil wir in der Schweiz ja auch unseren
Coiffeur bezahlen?
Genau. Wir sind nicht da, um den Geflüchteten
zu ‘dienen’, indem wir uns von ihnen
distanzieren. Für mich geht es darum, zu
teilen und ihnen mehr Menschlichkeit zu
bieten, uns auf Augenhöhe mit ihnen auszutauschen.
Zwei Erwachsene, die sich bei
einer Tasse Tee oder Kaffee zum Beispiel
über ihre Kinder, ihr Leben und auch ihre
Werte austauschen.
Ein anderes Problem stellt für mich die oft
unzureichende oder fehlende Vorbereitung
und Betreuung der Freiwilligen dar. Schon
die Ankunft eines Boots kann bei manchen
Freiwilligen traumatisch wirken. Deshalb ist
es wichtig, dass sie zu jeder Zeit mit einer
Vertrauensperson sprechen können, wenn
sie das brauchen und dass ihnen auch nach
einem Einsatz psychologische Unterstützung
angeboten wird. Auch der Austausch
mit anderen Freiwilligen ist beim Heimkommen
oft hilfreich.
6 spectrum 04.22