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Spectrum_02_2022

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DOSSIER

Text Pauline Anne Meyer

Illustration Alwiya Hussein

Geschwisterrivalität statt

Geschwisterliebe

Wer war eigentlich der erste Mörder? Es war Kain, der

seinen Bruder Abel kaltblütig mit einem Stein erschlug.

Da wo Liebe ist, lässt Hass nicht lange auf sich warten.

Die Bibel erzählt uns die Geschichte

von den Brüdern Kain und Abel. Kain

ist immerzu neidisch auf Abel und betet

für sein Unglück. Eines Tages als Gott nur

Abels Geschenkgabe annimmt und die von

Kain zurückweist, wird er rasend. Kain lockt

seinen Bruder aufs Feld und ermordet ihn.

Auch Romulus tötet Remus, im Osiris-Mythos

stirbt Osiris durch die Hand seines

Bruders Seth und Shakespeare erzählt in

Hamlet die Tragödie eines Brudermordes.

In all diesen Erzählungen bildet die gemeinsame

Blutlinie den Nährboden für Rivalität

und Hass. Kunstmotiv oder Realität? Müssen

Geschwister für immer Rivalen bleiben?

Das Entthronungstrauma

Rivalität ist der Kampf um Vorrang. Bei Geschwistern

beginnt er häufig im Kleinkindalter

um die Gunst der Eltern. Ausgelöst

wird diese Konkurrenz durch die Geburt

des zweiten Kindes. Bisher war das Erstgeborene

im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Mit einem Geschwisterchen ändert

sich dies schlagartig. Der Psychotherapeut

Alfred Adler spricht um 1900 erstmals vom

so genannten «Entthronungstrauma»: Das

zweite Kind stösst das erste vom Thron. Als

Reaktion darauf versucht das Erstgeborene,

sein Revier zu verteidigen. Die Soziologin

Prof. Yvonne Schützer dokumentiert in den

1980er Jahren zwei Schwestern: Eva und

Laura. Als die Eltern die neugeborene Eva

wickeln, steigt die ältere, zweijährige Laura

auf den Wickeltisch und ruft wütend «Baby

weg! Weg!». Die Eltern greifen ein, bevor

Laura in die Nähe von Eva gelangt.

Heilt die Zeit alle Wunden?

Im Kinderzimmer entsteht also nicht nur

Geschwisterliebe. In jungen Jahren ist dies

normal und sogar förderlich. So lernen Kinder,

sich zu wehren und werden vielleicht

auch angespornt. Eva und Laura pflegen

heute, 40 Jahre später, ein gutes Verhältnis.

An ihre Rivalität im Kindesalter erinnern sie

sich kaum noch. Allgemein wird vermutet,

dass Geschwisterrivalität in Kindheit und

Jugend ausgeprägter ist als im Erwachsenenalter.

Leider heilt die Zeit aber nicht alle

Wunden. Wenn in der Familie nicht offen

kommuniziert wird, können solche Konflikte

bis ins Erwachsenenalter weitergeführt

werden. Was bleibt sind heftige Auseinandersetzungen,

Firmenteilungen oder endgültige

Funkstille. Für Betroffene sind dies

meist sehr belastende Situationen.

Im Schatten des Geschwisters

Und welche Rolle spielen die Eltern? Wenn

sie ihre Kinder vergleichen, werden Konkurrenzgefühle

gefördert. «Nimm dir doch

mal deine Schwester als Vorbild!», kann es

etwa heissen. Bessere Noten werden gelobt,

Freund*innen miteinander verglichen oder

Zukunftspläne bevorzugt. Die Psychotherapeutin

Dorothee Adam-Lauterbach meint:

«Eine ungleiche Behandlung kann die Geschwisterbeziehung

übers ganze Leben

hinweg belasten.» Sie erklärt, dass in ihrer

Praxis auch Erwachsene waren, die immer

noch stark unter der Rivalität mit ihrem

Geschwister leiden. Konfliktreicher seien

Beziehungen zwischen ähnlichen Geschwistern.

Also insbesondere gleichgeschlechtliche

Geschwister und Geschwister mit

geringem Altersunterschied. Hier besteht

ein höheres Risiko, sich zu vergleichen oder

verglichen zu werden.

Hänsel und Gretel

Die Familientherapeutin Bettina Brockmann

betont: «Eltern sollten jedes Kind so

unterstützen, fördern und behandeln, wie es

den individuellen Bedürfnissen des Kindes

entspricht.» Während Partner*innen oder

Freund*innen kommen und gehen, bleiben

unsere Geschwister unsere Geschwister. Es

ist eine der längsten Beziehungen, die wir

im Leben haben. Umso wichtiger, dass ihr

Sorge getragen wird. Von den Eltern und

von den Geschwistern selbst. Es muss also

nicht Kain und Abel sein, vielleicht entsteht

auch eine Beziehung à la Hänsel und Gretel,

aber ohne die Hexe. Ich würde es allen Geschwistern

wünschen.

20 spectrum 04.22

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