Spectrum_02_2022
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DOSSIER
Text und Illustration Alyna Reading
Die Ameise und der Mensch
Was wir von Ameisen über Kooperation, Konflikt und
Konkurrenz lernen können – und was nicht.
e r e i t s
beim griechischen
Dichter
Äsop gelten
Ameisen
als
Symbol
für die Tugenden
des Fleisses
und
der harten
Arbeit.
Sie leben
in «Insektenstaaten» mit bis zu mehreren
Millionen Individuen zusammen. Statt
miteinander um Ressourcen zu konkurrieren,
arbeiten sie zusammen am Erhalt der
Kolonie. Gemeinsam können sie schwere
Lasten tragen und jedes Mitglied der «Gesellschaft»
- ob Königin, Arbeiterin oder
saisonales Männchen – leistet einen Beitrag
zum Erhalt ihrer Kolonie. Könnten solche
Ameisengesellschaften auch uns Menschen
als Vorbild für ein kooperatives Zusammenleben
dienen?
Ameisen als Vorbilder
Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt ungefähr
15'000 verschiedene Ameisenarten, die sich
in ihrer Sozialstruktur stark unterscheiden.
Manche leben in sehr grossen, kooperativen
Kolonien, andere in kleineren, in denen die
einzelnen Ameisen auch individuelle Ziele
verfolgen. Prof. Adria LeBoeuf erforscht im
«Social Fluids Lab» der Universität Freiburg
das Sozialverhalten von Insekten. Diese Forschung
lässt sich vielseitig anwenden.
Zum Beispiel in der Robotik: Die Strategie
der Ameisen beim kollektiven Bewegen von
Objekten hilft uns effizientere Maschinen zu
entwickeln. Wie sich die Kooperation der
Ameisen auf die menschliche Gesellschaft
übertragen lässt, ist da schon schwieriger zu
beurteilen. «Wir dürfen die Ameisen nicht
vermenschlichen», sagt Prof. LeBoeuf, «aber
wir können trotzdem verschiedene Strategien
der Kooperation beobachten und daraus
wertvolle Schlüsse ziehen.»
Gemeinsamer Stoffwechsel
Wie der Name des Labors «Social Fluids
Lab» bereits andeutet, untersucht Prof.
LeBoeuf insbesondere den Austausch von
Flüssigkeiten zwischen sozialen Insekten.
Dieser Prozess nennt sich «Trophallaxis».
Er erlaubt den Ameisen Nährstoffe und
Hormone von Mund zu Mund auszutauschen
und benötigt viel Kooperation innerhalb
einer Kolonie. «Manche Kolonien sind
so kooperativ, dass man sich die individuellen
Ameisen als Zellen eines einzigen Körpers
vorstellen kann», erklärt Prof. LeBoeuf.
Enge Kooperation könnte einigen Ameisenarten
evolutionäre Vorteile verschaffen. Die
Ameisenkönigin scheint, laut der Forschung
am «Social Fluids Lab», keinen eigenen
Stoffwechsel zu unterhalten. Alle Nährstoffe,
die sie braucht, erhält sie per Trophallaxis
von ihren Arbeiterinnen. Die Zellen der
Königin nutzen sich weniger schnell ab, weil
die Arbeiterinnen ihr die Stoffwechselarbeit
abnehmen. Sie kann daher all ihre Energie
in die Fortpflanzung investieren. Dadurch
wächst die Kolonie schneller, als solche deren
Mitglieder mehr individuelle Ziele verfolgen.
Ausserdem lebt sie dreissigmal länger
als die Arbeiterinnen, deren Körper sich
durch den Stoffwechsel abnutzen.
Die Kraft des Konflikts
Dr. Sanja Hakala hat in ihrer Doktorarbeit
an der Universität von Helsinki Konflikte
innerhalb von Ameisenkolonien erforscht.
Dass Ameisen eng zusammenarbeiten müssen,
bedeutet nicht, dass keine Konflikte
ausbrechen können. Die Larven einer Kolonie
konkurrieren um Nahrung. Manchmal
auch darum, welche sich zur nächsten Königin
entwickeln kann. Unterschiedliche Kolonien
kämpfen miteinander um Lebensräume
und Ressourcen. Dr. Hakala sagt: «Wo
es einen Konflikt gibt, muss eine Lösung
gefunden werden.»
Dies gilt auch für Fische, Vögel und Säugetiere
– wie eben der Mensch. Je härter die
Lebensbedingungen sind, desto mehr Kooperation
ist nötig, um das Überleben zu
sichern. Kooperation entsteht also nicht
ohne Konflikte, sondern wird gerade in
solchen immer wieder neu verhandelt.
Das «Social Fluids Lab» untersucht Ameisenarten
mit hoher Kooperation und solche
mit mehr Individualität. Beides sind
Modelle, die funktionieren. Es gibt offenbar
nicht einen einzigen «richtigen» Weg,
wie Ameisen zusammenleben sollten, so
wie es vielleicht auch nicht einen einzigen
«richtigen» Weg gibt, wie Menschen
zusammenleben sollten. «Welche Strategie
am Ende erfolgreicher ist, lässt sich
nicht sagen. Es gibt in der Evolution kein
Ende», sagt Prof. LeBoeuf schmunzelnd. P
04.22
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