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Spectrum_06_2021

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DOSSIER

Text Lea Müller

Illustration Emanuel Hänsenberger

Sezieren: Der Körper als

Schatzkiste

Im Anatomiepraktikum sezieren Medizinstudent*innen

Leichen. Doch wie fühlt sich so etwas an?

enn du krank bist, gehst du zum Arzt.

W Er hört dir zu und findet heraus, was

dein Problem ist. Je nachdem verschreibt er

dir ein Medikament oder – in schlimmeren

Fällen – ist eine andere Behandlung nötig.

Auch bei mir reichten schon mal Medikamente

allein nicht aus, als ich meinen Blinddarm

herausnehmen musste. Ich erinnere

mich noch gut daran, wie ich etwas nervös

war vor der OP. Schliesslich würden meine

Organe Tageslicht sehen, was eigentlich

nicht der Fall sein sollte. Natürlich hatte ich

Vertrauen in meinen Arzt. Ich stellte mir

aber gleichzeitig vor, wie er das Operieren

während des Studiums beim Sezieren gelernt

haben muss und wie er sich damals

wohl gefühlt hatte.

Das Innere des Menschen

Schon seit Jahrhunderten interessiert sich

der Mensch dafür, was in seinem Inneren

abläuft. Bereits die Griechen und Römer

führten in der Antike Operationen mit metallischem

Besteck durch. Über Heilung und

Erfolg gibt es zwar wenig Informationen.

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass man

sich nicht nur für die Welt aussen, sondern

auch für die Welt im Inneren so interessiert

hat.

Eine Zeit lang war es sehr umstritten, sogar

verboten zu sezieren oder Operationen

durchzuführen, da diese meistens mit dem

Tod endeten. Zum Glück aber hat die Me-

dizin grosse Fortschritte gemacht und heute

gehört das Operieren zum Alltag von Chirurg*innen.

Um das jedoch zu lernen und die

Anatomie des Menschen besser zu verstehen,

sezieren sie im Studium Verstorbene,

die ihren Körper der Wissenschaft gespendet

haben.

Kaffeepause im Anatomielabor

Ich habe das Glück Myriam Vonnegut zu

treffen. Sie studiert im zweiten Jahr Medizin

und hat mir von ihrer Erfahrung im Anatomielabor

erzählt. Myriam erklärt mir, dass

die Anatomiepraktikas bereits im zweiten

Semester des ersten Jahres begonnen haben.

Sie beschreibt ihre erste Sezierstunde und

gibt sogar zu, etwas nervös gewesen zu sein.

Das ist verständlich. Wer wäre das nicht,

beim ersten Anblick einer Leiche? «Einige

fallen sogar in Ohnmacht», meint sie, «aber

in meiner Klasse war das nicht der Fall.» Sie

erzählt von der entspannten Atmosphäre

im Labor: «Wir sind dort zu zehnt in einem

kleinen Raum, da fühlt man sich schnell

wohl.»

Sie arbeiteten in Zweier- bis Dreiergruppen

und teilten sich einen Körper. Jede Gruppe

arbeitete allerdings an einer anderen Region

des Körpers.

Myriam erwähnt, dass in den ersten Sezierstunden

das Gesicht der Leiche abgedeckt

war. So hatten sie emotionalen Abstand von

der verstorbenen Person. Ich denke, dass die

Gesichter abgedeckt waren, könnte noch

einen weiteren Grund haben: Die gespendeten

Körper sollen mit Respekt behandelt

werden. Allgemein wissen die Medizinstudierenden

kaum etwas über das Leben der

Person, weder den Namen, noch woher sie

kommen. Lediglich das Geschlecht ist bekannt.

Für die wissenschaftliche Arbeit ist

es nicht nötig, zu wissen, was diese Menschen

für ein Leben führten.

Trotzdem kann man beim Sezieren auch

mal vergessen, dass man einen toten Men-

schen vor sich hat. Die Arbeit an der Leiche

erinnert manche an Fleisch. Myriam sagt

dazu: «Einigen ist dabei schon der Appetit

auf Fleisch vergangen.» Myriam beschreibt

das Arbeitsklima im Labor als «Kaffeekränzchen»:

«Dass eine Leiche vor einem liegt,

vergisst man schnell.» Nichtsdestotrotz

werde der Körper, der der Wissenschaft

gespendet wurde, sehr geschätzt. Sie beschreibt

ihn sehr passend als «Schatzkiste».

Auf meine Frage, was das Unangenehmste

im Labor sei, spricht sie vor allem die Gerüche

im Labor an. So etwa Formalin (ein Stoff,

der zur Konservierung der Leiche verwendet

wird) oder auch der Geruch des getrockneten

Blutes. Myriam erzählt mir von einem

Trick dagegen: Sie benutzt Tigerbalsam, den

sie sich unter die Nase schmiert, um die Gerüche

weniger gut wahrzunehmen. Myriam

findet das Anatomiepraktikum eine schöne

Abwechslung zu den Vorlesungen, die teilweise

etwas trocken sein können.

Im Labor ist man in seiner kleinen Gruppe,

kann auch selbst die Dinge in die Hand

nehmen oder auf Entdeckungstour in der

«Schatzkiste» gehen. Sie sagt dazu: «Alles

zu lernen ist schon ein grosser Aufwand,

aber beim Sezieren selbst hat man gemütlich

Zeit zum Anschauen und mit der Gruppe

zu plaudern». Das Sezieren ist ein wichtiger

Bestandteil des Medizinstudiums und hilft

die Dinge besser zu verstehen. Die Medizin

hat zwar grosse Fortschritte gemacht, aber

das Sezieren, wird auch in den kommenden

Jahren den Lehrplan des Medizinstudiums

nicht verlassen.

Die Neugier nach dem Inneren ist mindestens

so gross wie früher, nur heute weiss

man, was man finden wird. P

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