Spectrum_06_2021
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UNIPOLITIK
Text Sophie Sele
Foto Marion Savoy
Infamiae causa? Kontroverse um
Ehrendoktortitel
Die Vergabe des Ehrendoktortitels der Uni Freiburg am
Dies Academicus an Mario Gattiker, Staatssekretär für
Migration, hat bei linken Organisationen heftige Reaktionen
ausgelöst.
Mitglieder von Poya Collectif protestieren am Dies Academicus gegen
die Verleihung des Ehrendoktortitels an Mario Gattiker.
igentlich sollte der Dies Academicus ein
E Tag des Feierns sein. Die Universität
nutzt diesen vorlesungsfreien Tag, um ihre
Werte nach aussen erkenntlich zu machen,
indem sie fünf Persönlichkeiten für deren
herausragende Leistungen mit der Vergabe
eines Ehrendoktortitels einer ihrer Fakultäten
ehrt. Dieses Jahr waren dies Jean Jacques
Pérennès, Jan Jenisch, François Nordmann,
Susan M. Gasser sowie Mario Gattiker. Die
Vergabe des Ehrendoktors an letzteren
löste in linken Kreisen heftige Reaktionen
aus: Sie erachten dessen Migrationspolitik
als zu streng. Wir haben Poya Collectif, das
Rektorat, sowie das Staatssekretariat für
Migration um eine Stellungnahme gebeten.
Humanistische Werte der Universität?
Guy Zurkinden ist seit vier Jahren Mitglied
von Poya Solidaire, einer freiburgischen Organisation,
welche für die Rechte von Migrant*innen
kämpft. Über die Verleihung des
Ehrendoktortitels an Mario Gattiker war er
empört. Laut ihm wolle Gattiker durch die
strenge Anwendung kontinuierlich erhärteter
Gesetze Migrant*innen entmutigen,
in der Schweiz Asyl zu beantragen.
Konkret sei Gattikers
Migrationspolitik beispielsweise
für das Verwehren der
Erleichterung von humanitären
Visen an Geflüchtete
des Talibanregimes in Afghanistan
verantwortlich.
So auch für das Zurückschicken
von Geflüchteten
nach Äthiopien trotz des
sich dort verschlimmernden
Bürgerkriegs: «Die Tatsache,
dass eine humanistische Universität
jemanden mit einer
solch inhumanen Politik
auszeichnet, zeugt entweder
von einer ungeheuren Unwissenheit oder
von Zynismus. Die Universität rechtfertigt
und legitimiert eine solche Politik, wenn
sie dessen Vormann dekoriert.» Aus diesem
Grund schloss sich Poya Solidaire mit anderen
linken Organisationen zusammen und
verfasste einen Brief an die Rektorin mit der
Bitte, Herrn Gattiker keinen Ehrendoktortitel
zu verleihen.
Imagegewinn oder -verlust
Die Rektorin der Universität Fribourg, Astrid
Epiney, hat nicht direkt auf den Brief
geantwortet. Allerdings bestätigte sie gegenüber
den Freiburger Zeitungen Liberté
und Freiburger Nachrichten, dass der Ehrendoktortitel
an Gattiker trotz der Kritik verliehen
werde: «Als Institution ist es nicht
unsere Aufgabe, über die Asylpolitik des
Bundes und deren Umsetzung zu urteilen.»
Weder das Rektorat noch die Politik hätten
Einfluss auf die Wahl des Ehrendoktors
durch die fünf Fakultäten. Das sei auch gar
nicht die Absicht, denn «der Preis wird nicht
nach einem Imagegewinn oder -verlust für
die Institution vergeben, sondern um herausragende
Persönlichkeiten zu ehren.»
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät habe
Herrn Gattiker gewählt, da er als ein Mitgestalter
grundlegender Konzepte des Asylrechts,
als wissenschaftlicher Autor sowie
als Experte für Asylpolitik wahrgenommen
werde.
Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats
Obwohl der Brief nur an die Universität und
die Medien geschickt wurde, erklärte sich
das Staatssekretariat für Migration (SEM)
auf Anfrage dennoch bereit, dazu Stellung zu
beziehen: «Wir freuen uns natürlich über die
Verleihung des Ehrendoktortitels an Herrn
Gattiker. Uns ist aber auch bewusst, dass das
Thema Asyl komplex und oft auch emotional
ist.» Dennoch sei eine sachliche Debatte
darüber sehr wichtig. Das SEM setze das
Schweizer Asylgesetz um, welches von der
Stimmbevölkerung mit grosser Mehrheit
angenommen worden sei. Selbstverständlich
sei es aber auch jederzeit möglich, eine
Petition zur Änderung dieses Gesetzes einzureichen.
Rechtsstaatlichkeit bedeute allerdings
auch, dass rechtskräftige Entscheide
umgesetzt werden müssen: «Wird etwa ein
Asylgesuch definitiv abgelehnt, so muss die
betroffene Person die Schweiz verlassen.»
Denn wenn rechtskräftige Entscheide nicht
umgesetzt werden würden, untergrabe
das die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats.
Trotzdem stellt sich dabei die Frage: Wo
bleibt die Glaubwürdigkeit der Menschenrechte
für Geflüchtete, die in lebensbedrohliche
Gebiete zurückgeschickt werden? P
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