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Spectrum_03_2021

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FRÜHLING

Text und Illustration Alyna Reading

Gedanken

einer

Spaziergängerin

Am liebsten würde ich diese Seite mit Selma

Meerbaum-Eisingers Gedichten füllen. Ganz

klein und eng würde ich die Worte setzen,

vorsichtig wie Fusstritte, um keines auszulassen.

Was sie über den Frühling schreibt

¬– über Blumen, Spaziergänge, Wege, Bäume,

Sehnsucht – trifft mich tiefer als das, was

mir selbst dazu einfallen will.

Nicht, dass ich gar keine Gedanken zu dem

Thema hätte. Ich spaziere oft und mit Hingabe,

im letzten Jahr auch hin und wieder

mit einer Flasche Bier in der Hand und jemandem

an meiner Seite. Spazieren heisst

für mich nicht immer Wald, nicht immer

Blumen und Pfützen. Manchmal heisst spazieren

einfach weggehen. Den Laptop zuklappen.

Die Wäsche noch eine Stunde in

der Waschmaschine liegen lassen. In meiner

Wohnung ahne ich manchmal, wie sich der

Panther fühlt im Jardin des Plantes. Ich verstehe,

dass er daran zweifelt, ob hinter tausend

Stäben eine Welt liegt.

Meerbaum-Eisinger schreibt: «Sieh nur die

Strasse, wie sie steigt: So breit und hell, als

warte sie auf mich.» In Fribourg steigen alle

Strassen und alle führen, wenn nicht nach

Rom, so doch zu einer Kirche oder einem

Kloster. Im Wäldchen auf dem Weg zur

Chapelle de Lorette haben Spazierende mit

Filzstift Gebete auf Steine geschrieben. Auf

einem steht: «Qu’on sache qu’ici marchait un

jeune homme amoureux.» Ist das noch Gebet

oder schon Gebot?

Spazieren heisst nicht immer Wald. Manchmal

flaniere ich gerne durch die Stadt. Bei

untergehender Sonne bilde ich mir ein, der

Boulevard de Pérolles läge in Bordeaux oder

Mailand. Im Sud kaufe ich mir ein peruanisches

oder mexikanisches Bier, erinnere

mich dabei an Reisen, die ich nie unternommen

habe. Es fühlt sich falsch an, etwas zu

vermissen, das man nicht kennt und noch

weniger braucht. Das Bier schmeckt trotzdem

bittersüss, schmeckt wie dieser Abend,

der uns ans Ende des Boulevards führt. Dort

liegt der botanische Garten, zwar ohne Panther,

aber trotzdem eine Art Jardin des Plantes.

Zwischen den Blumenbeeten leuchten

gelbe Schlüsselblumen, während die Beete

selbst noch karg und öd da liegen, als trauten

sie dem Frieden nicht.

Hinter der Uni steigen wir den Kiesweg zum

Pérolles-See hinab. Beim Spazieren lässt sich

gut reden, man muss sich dabei nicht immer

Ansehen und was man sagt, sagt man in den

Wind hinein. Spaziere ich allein, halte ich

Ausschau nach Tieren im Gebüsch. Letztes

Jahr habe ich an der Saane eine Schlage gesehen,

diesen Frühling schrecke ich eine Feldmaus

und eine Eidechse auf. Auf dem Weg

von der Unterstadt zur Chapelle de Lorette

werde ich dafür von einer Katze erschreckt,

die über den Weg huscht und geschickt wie

eine Trapezkünstlerin einen Baumstamm erklimmt.

Ich habe nichts Grosses zu sagen, nur dieses

Kleine, Einfache: Es ist Frühling. Vor dem

Funiculaire öffnen sich die ersten Knospen

am Magnolienbaum. In der Gottéron-

Schlucht geht die Sonne neuerdings später

unter. Ich spaziere von einem Ende der Stadt

zum anderen, von Schönberg zur Miséricorde,

vom botanischen Garten bis Bourguillon.

Das Spazieren tut gut und doch begleitet

mich Rilkes Panther wie ein zweiter Schatten.

Es lässt sich nicht leugnen: Es ist nicht

nur der Frühling, der mich nach draussen

lockt, sondern auch die engen Wände, die

Gitterstäbe des ewigen Zuhause-Hockens,

die mich auf die Strasse zwingen. Als könnte

sich an der frischen Luft diese elende Rastlosigkeit

auflösen.

Fast alle meine Spaziergänge führen mich

zur Lorette. Vor der Kapelle sitzen die Menschen

in Pärchen auf den Bänken und lassen

zu, dass die untergehende Sonne die Fenster

der Stadt anzündet. In der Ferne blitzen

Scheinwerfer über die Poya-Brücke. Die Glocken

der Kathedrale läuten oder eben nicht.

Ich setze mich auf die Stufen der Kapelle unter

die Füsse von Heiligen, deren Namen mir

nichts sagen. Vielleicht habe ich jetzt noch

einen Schluck Bier übrig. Vielleicht denke

ich zurück an den Spaziergang. Ich blicke für

einen Augenblick hinter die Stäbe auf diese

Welt, die sich vor mir bis in den Jura ausbreitet.

Es wird langsam kalt und ich rücke

näher an Selma Meerbaum-Eisinger heran,

die neben mir auf der Treppe sitzt und ein

Gedicht summt:

Ich möchte leben.

Ich möchte lachen und

Lasten heben

Und möchte kämpfen

und lieben und hassen

Und möchte den Himmel

mit Händen fassen.

05.21

spectrum

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