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FREIBURG

Text und Foto Matthias Venetz

Bücher, die Geschichte

erzählen

Carole Jeanneret ist Restauratorin im Freiburger Franziskanerkloster.

Täglich pflegt, restauriert und säubert sie

mittelalterliche Codices, damit nicht einmal der Dreck

der Jahrhunderte verloren geht.

Im Alltag von Carole Jeanneret verlieren Buchstaben und Worte ihre

Beliebigkeit.

anchmal erkennt man in einem Tintenfleck

einen Fingerabdruck», sagt

M

Jeanneret. «In solchen Momenten muss ich

mir Zeit nehmen, um zu staunen.» Jeanneret

liest nicht nur Buchstaben, sondern auch

das Unscheinbare. Tintenkleckse, Korrekturen

zwischen den Zeilen, feine Risse in den

Seiten, den individuellen Stil der Schreibenden.

Es sind Hinweise auf die Geschichte

eines Buches und die Menschen, die es lasen.

«Jahrhunderte später lesen wir all das

und die Schreiber waren sich dessen nicht

bewusst», sagt Jeanneret.

Konzentration und Faszination

Während den verschiedenen Arbeitsprozessen

müsse sie ihre Faszination aber

ausblenden, sagt Jeanneret. Allzu viel Zeit

für Tagträumereien bleibt nicht. Ihr Beruf

erfordert Konzentration und eine ruhige

Hand. Nicht immer gingen Restaurator*innen

mit dieser Sorgfalt an die Arbeit.

Wenn Jeanneret durch die Codices blättert,

fallen ihr solche Fehler auf. «Ah, voila, schau

hier, bei dieser Initiale.»

Unter einer Initiale

versteht Jeanneret einen

aufwendig gestalteten

Buchstaben zu Beginn

eines Kapitels. In diesem

Fall handelt es sich

um eine «bewohnte Initiale».

Die Heilige Maria

ist auf blauem Grund im

Buchstaben zu erkennen.

Derartige Darstellungen

waren aufwendig und

äusserst kostspielig.

Über zwei Drittel der

Seite setzt sich aber

rundherum ein grosser

Fleck vom übrigen Pergament

ab. Ein Fettfleck? «Nein das war

ein Versuch, die Seite zu restaurieren», sagt

Jeanneret. Heute verfolgen Jeanneret und

ihre Kolleg*innen einen grundverschiedenen

Ansatz.

Spuren lesen und erhalten

Eingriffe sind nur vorgesehen, wenn der

Erhalt des Codices gefährdet ist. Etwa durch

einen zerfallenden Buchrücken. Kritzeleien

späterer Jahrhunderte bleiben hingegen

unbehelligt. «Schliesslich gehört auch das

zur Geschichte dieser Bücher», sagt Jeanneret.

Sie beschäftigt sich mit unterschiedlichen

Materialen aus unterschiedlichen

Zeiten. 173 mittelalterliche Manuskripte

und 143 Inkunabeln aus der frühen Neuzeit

lagern in der Klosterbibliothek. Inkunabeln

sind Früh drucke, die ebenfalls handschriftliche

Verzierungen enthalten. «Bei den

Inkunabeln muss ich oft kleine Risse mit Japanpapier

flicken», sagt Jeanneret. Das Material

eignet sich dazu ideal. Jahrhunderte

altes Papier reagiert extrem empfindlich

auf Säure.

«Sicher, auch Inkunabeln sind schön, alles ist

einheitlich formatiert, alles sehr gerade, ein

einheitliches Erscheinungsbild.» Doch am

liebsten sind Jeanneret die handschriftlichen

Codices aus dem Mittelalter. Sie lagern hinter

einer zentnerschweren Panzertür in einem

kühlen Raum. Hier gerät Jeanneret ins

Schwärmen. Fein säuberlich sortiert stehen

und liegen mittelalterliche Bücher in allen

Formaten. Der Dreck, der sich im Laufe der

Zeit sammelte, wird ebenfalls aufbewahrt.

«Vielleicht profitiert die Forschung irgendwann

davon», sagt Jeanneret.

Verborgene Schätze

Je grösser die Bücher, desto reicher verziert

sind ihre Seiten. Messbücher, lateinische Bibelübersetzungen,

Antiphonarien mit gregorianischen

Gesängen. Melodien, die bis

heute gesungen werden. Für Jeanneret verbirgt

sich der eigentliche Schatz jedoch auf

den Innenseiten der mit Leder und Metall

beschlagenen Buchdeckel. Hier haben die

Mönche ältere Handschriften übereinander

geklebt. Eine Collage. Für Forscher*innen

eine Fundgrube.

Jeder Pergamentfetzen wird untersucht und

unter UV-Licht treten manchmal verlorengeglaubte

Texte zum Vorschein. Jeanneret

ist in ihrem Element. «Das ist ein offenes

Fenster in die Geschichte. Jede kleine Notiz,

jedes Fragment. Beinahe lebendig.» Sie

holt Buch für Buch aus dem Regal hervor.

Zuletzt ein Exemplar, nicht grösser als eine

Handfläche. Hunderte Seiten Pergament,

winzige Buchstaben mit geduldiger Hand

geschrieben. Pergament war teuer, der Platz

prekär. Hier, hinter der Panzertür der Klosterbibliothek,

haben Bücher beinahe sakralen

Charakter. P

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