Spectrum_03_2021
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FREIBURG
Text und Foto Matthias Venetz
Bücher, die Geschichte
erzählen
Carole Jeanneret ist Restauratorin im Freiburger Franziskanerkloster.
Täglich pflegt, restauriert und säubert sie
mittelalterliche Codices, damit nicht einmal der Dreck
der Jahrhunderte verloren geht.
Im Alltag von Carole Jeanneret verlieren Buchstaben und Worte ihre
Beliebigkeit.
anchmal erkennt man in einem Tintenfleck
einen Fingerabdruck», sagt
M
Jeanneret. «In solchen Momenten muss ich
mir Zeit nehmen, um zu staunen.» Jeanneret
liest nicht nur Buchstaben, sondern auch
das Unscheinbare. Tintenkleckse, Korrekturen
zwischen den Zeilen, feine Risse in den
Seiten, den individuellen Stil der Schreibenden.
Es sind Hinweise auf die Geschichte
eines Buches und die Menschen, die es lasen.
«Jahrhunderte später lesen wir all das
und die Schreiber waren sich dessen nicht
bewusst», sagt Jeanneret.
Konzentration und Faszination
Während den verschiedenen Arbeitsprozessen
müsse sie ihre Faszination aber
ausblenden, sagt Jeanneret. Allzu viel Zeit
für Tagträumereien bleibt nicht. Ihr Beruf
erfordert Konzentration und eine ruhige
Hand. Nicht immer gingen Restaurator*innen
mit dieser Sorgfalt an die Arbeit.
Wenn Jeanneret durch die Codices blättert,
fallen ihr solche Fehler auf. «Ah, voila, schau
hier, bei dieser Initiale.»
Unter einer Initiale
versteht Jeanneret einen
aufwendig gestalteten
Buchstaben zu Beginn
eines Kapitels. In diesem
Fall handelt es sich
um eine «bewohnte Initiale».
Die Heilige Maria
ist auf blauem Grund im
Buchstaben zu erkennen.
Derartige Darstellungen
waren aufwendig und
äusserst kostspielig.
Über zwei Drittel der
Seite setzt sich aber
rundherum ein grosser
Fleck vom übrigen Pergament
ab. Ein Fettfleck? «Nein das war
ein Versuch, die Seite zu restaurieren», sagt
Jeanneret. Heute verfolgen Jeanneret und
ihre Kolleg*innen einen grundverschiedenen
Ansatz.
Spuren lesen und erhalten
Eingriffe sind nur vorgesehen, wenn der
Erhalt des Codices gefährdet ist. Etwa durch
einen zerfallenden Buchrücken. Kritzeleien
späterer Jahrhunderte bleiben hingegen
unbehelligt. «Schliesslich gehört auch das
zur Geschichte dieser Bücher», sagt Jeanneret.
Sie beschäftigt sich mit unterschiedlichen
Materialen aus unterschiedlichen
Zeiten. 173 mittelalterliche Manuskripte
und 143 Inkunabeln aus der frühen Neuzeit
lagern in der Klosterbibliothek. Inkunabeln
sind Früh drucke, die ebenfalls handschriftliche
Verzierungen enthalten. «Bei den
Inkunabeln muss ich oft kleine Risse mit Japanpapier
flicken», sagt Jeanneret. Das Material
eignet sich dazu ideal. Jahrhunderte
altes Papier reagiert extrem empfindlich
auf Säure.
«Sicher, auch Inkunabeln sind schön, alles ist
einheitlich formatiert, alles sehr gerade, ein
einheitliches Erscheinungsbild.» Doch am
liebsten sind Jeanneret die handschriftlichen
Codices aus dem Mittelalter. Sie lagern hinter
einer zentnerschweren Panzertür in einem
kühlen Raum. Hier gerät Jeanneret ins
Schwärmen. Fein säuberlich sortiert stehen
und liegen mittelalterliche Bücher in allen
Formaten. Der Dreck, der sich im Laufe der
Zeit sammelte, wird ebenfalls aufbewahrt.
«Vielleicht profitiert die Forschung irgendwann
davon», sagt Jeanneret.
Verborgene Schätze
Je grösser die Bücher, desto reicher verziert
sind ihre Seiten. Messbücher, lateinische Bibelübersetzungen,
Antiphonarien mit gregorianischen
Gesängen. Melodien, die bis
heute gesungen werden. Für Jeanneret verbirgt
sich der eigentliche Schatz jedoch auf
den Innenseiten der mit Leder und Metall
beschlagenen Buchdeckel. Hier haben die
Mönche ältere Handschriften übereinander
geklebt. Eine Collage. Für Forscher*innen
eine Fundgrube.
Jeder Pergamentfetzen wird untersucht und
unter UV-Licht treten manchmal verlorengeglaubte
Texte zum Vorschein. Jeanneret
ist in ihrem Element. «Das ist ein offenes
Fenster in die Geschichte. Jede kleine Notiz,
jedes Fragment. Beinahe lebendig.» Sie
holt Buch für Buch aus dem Regal hervor.
Zuletzt ein Exemplar, nicht grösser als eine
Handfläche. Hunderte Seiten Pergament,
winzige Buchstaben mit geduldiger Hand
geschrieben. Pergament war teuer, der Platz
prekär. Hier, hinter der Panzertür der Klosterbibliothek,
haben Bücher beinahe sakralen
Charakter. P
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