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KURZGESCHICHTE

Text Natalie Meleri

Operation Zukunft

edankenversunken läuft sie die Strasse entlang. Die Hochhäu-

aus Stahl und Glas, die sich links und rechts der Strasse

Gser

erheben, nimmt sie kaum wahr. Es ist ein kühler Herbsttag, die

schwachen Sonnenstrahlen vermögen den Asphalt nicht mehr zu

wärmen. Doch wie sich Kälte anfühlt, weiss sie gar nicht. Ihre Gedanken

kreisen um die Auseinandersetzung mit ihrer Chefin von

letzter Woche. Ihre Vorgesetzte hatte sie ungehalten ange herrscht

und die ganze Abteilung hatte es mitbekommen. Mel steigt sofort

wieder die Röte ins Gesicht. Ein Ping ertönt und stört ihre Gedanken.

Eine mechanische Frauenstimme warnt: Achtung, negative Gedanken

entdeckt. Bitte umdenken. Wollen Sie eine Liste positiver

Gedankengänge konsultieren? Sie seufzt und tippt mit dem Zeigefinger

zwei Mal an ihre Schläfe. Dann denkt sie an das bevorstehende

Essen mit ihrer Freundin Kate. Die letzten zwei Tage hat sie

sich bewusst gesund ernährt, damit sie sich heute etwas gönnen

kann. Seit sie ihre neue Stelle angetreten hat, kommt es nicht oft

vor, dass sie ausgeht. Wenn sie sich also schon einmal die Zeit nimmt,

in ein Restaurant zu gehen, möchte sie ungern nur Gemüsesticks

essen müssen.

Das Lokal ist bereits in Sichtweite und ihre Vorfreude steigt. Da

Kate oft im Ausland ist, sehen sich die beiden Freundinnen nur

selten. Sie betritt das warme Lokal und spürt sofort, wie ihre Kleidung

die Temperatur reguliert.

Kate sitzt bereits an einem Zweiertisch und nippt an einem Glas

Wein. Lächelnd geht sie auf ihre Freundin zu und sie umarmen sich

herzlich.

«Gut siehst du aus!», bemerkt Kate, als sie sich gesetzt haben.

Sie lächelt. Es ist eine Floskel, die sich hartnäckig hält, auch wenn

seit der Grossen Reform jeder immer gut aussieht.

«Ich habe mich die letzten Tage bewusst zurückgehalten, damit wir

uns einen richtig schönen Abend machen können», sagt Mel und

ihre Augen blitzen vor Vorfreude auf.

«Braves Mädchen. Ich habe es versucht, aber ein Dessert wird heute

nicht drin liegen», erwidert Kate und seufzt enttäuscht.

«Dann lass uns mal herausfinden, was drin liegt», sagt sie und legt

ihren Zeigefinger an die linke Schläfe. Willkommen! Sie haben

heute noch 800 Kilokalorien übrig. Dafür können sie aus folgenden

Optionen wählen: Grüner Salat, Lasagne, Tiramisu. Oder: Grüner

Salat, Pizza Crudo, Panna Cotta. Oder… Die mechanische Frauenstimme

zählt so viele Optionen auf, dass Mel irgendwann abbricht.

Kate scheint es genauso zu gehen. Gerade verdreht sie die Augen

und nimmt den Zeigefinger wieder von der Schläfe.

«Zum Glück listet sie die Optionen nach unseren Präferenzen auf!

Nicht auszudenken, wenn wir uns das alles anhören müssten.»

Mel nickt zustimmend. Kurz darauf bringt ein menschenähnlicher

Roboter ihre Getränke und den Salat.

«Ich frage mich schon, weshalb sie den Salat bei jeder Option

aufzählt. Er ist ohnehin Pflicht», sagt sie und greift nach ihrer Gabel.

Kate lacht zustimmend. Im Restaurant befinden sich noch andere

Leute, doch deren Gespräche sind nicht hörbar. Jeder Tisch verfügt

über eine eigene Schalldämpfung und leise Hintergrundmusik

sorgt für Ambiente. Es muss schrecklich gewesen sein, als man sich

vor der Grossen Reform ständig mit dem Lärm anderer Menschen

herumschlagen und ihre Gespräche mitanhören musste. Heutzutage

ist jeder Restaurantbesuch so intim, als befände man sich zu

Hause – wenn man mal davon absieht, dass die High-Tech-Mikrofone

jedes Gespräch aufzeichnen und auf Bedrohungen überprüfen.

«Ich habe Neuigkeiten», kündigt Kate freudestrahlend an.

Mel sieht sie erwartungsvoll an.

«Ich wurde für die Operation Zukunft ausgewählt!»

Sie springt begeistert auf und stösst dabei fast ihr Glas um. «Das

ist fantastisch! Herzlichen Glückwünsch!» Sie umarmen sich

euphorisch.

Mel selbst wird nie für das Projekt ausgewählt werden. Ihre Position

ist zu wichtig, als dass man sie für ein Jahr entbehren könnte.

«Kennst du deinen Spender schon?»

«Nein, das werden wir morgen erfahren. Luke und ich sind richtig

aufgeregt!»

«Jetzt verstehe ich auch, weshalb du dein Glas Wein so geniesst»,

sagt sie augenzwinkernd und hebt ihr eigenes Glas. «Auf euch!»

Bravo, es wurden gerade Endorphine ausgeschüttet, unterbricht

die mechanische Frauenstimme ihren Glücksrausch. Kate sieht sie

fragend an, doch Mel schüttelt nur den Kopf.

«Ich bin heute auf einen Artikel gestossen, der vor der Grossen

Reform datiert ist. Im Jahr 2020 gab es anscheinend Bewegungen

gegen den Algorithmus!»

Kate sah ihre Freundin ungläubig an: «Wirklich? Stell dir mal vor,

die hätten Erfolg gehabt! Dann müssten wir unsere Entscheidungen

ständig selbst treffen. Wie furchtbar!». P

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