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KRITIKEN

Banale Entscheidungen mit

fatalen Folgen

Könnten Sie das hier für Ihren Nachbarn

annehmen? Kein Problem, denkst du dir. Auch

Emma hatte sich nichts dabei gedacht, als eines

Tages der Postbote vor der Türe steht und ihr ein

schuhkartongrosses Paket entgegenstreckt.

Emma Stein, die Protagonistin des Psychothrillers

von Sebastian Fitzek, ist eine junge Psychiaterin. Als

Referentin wird sie zu einem Kongress in Berlin eingeladen.

Das kostenlose Angebot einer Hotelübernachtung

nimmt sie gerne an. Eine Entscheidung

mit furchtbaren Folgen. Auf ihrem Zimmer wird sie

vergewaltigt und ihr wird der Kopf kahlgeschoren.

Emma ist sich sicher, dass sie Opfer eines bekannten

Psychopathen, dem «Friseur», geworden ist. Damit

wäre sie die erste Überlebende, weshalb ihr niemand

glauben will.

In den Monaten danach leidet sie unter Verfolgungsängsten.

Nicht einmal mehr zu Hause fühlt

sie sich sicher. Schliesslich nimmt sie nichtsahnend

das Paket eines mysteriösen Nachbarn an. Damit

scheint Emma erneut eine fatale Entscheidung zu

treffen – ihr Alptraum beginnt. Unerklärliche Dinge

geschehen, geliebte Menschen scheinen nicht zu

sein, was sie vorgeben. Nach und nach verliert sie

den Verstand. Was ist in der Nacht im Hotel wirklich

geschehen? Und wem kann sie noch vertrauen? Was

ist Realität und was Wahn?

Das ganze Geschehen erzählt Fitzek in kurzen Kapiteln

mit viel Tempo. Damit führt er die Leser*innen

immer wieder an der Nase herum. Besonders die

vielen Wendungen werfen, vor allem zu Beginn,

viele Fragen auf. Verwirrung und hohe Spannung

scheinen endlos zu sein. Zudem spielt der Psychothriller

auf zwei Zeitebenen. Den Lesenden ist

zwar zu jeder Zeit klar, auf welcher Ebene sich das

Geschehen abspielt, doch die Grenzen von Realität

und Wahn scheinen mehr und mehr zu verblassen

– nicht nur für Emma.

Nach und nach werden Fragen geklärt, Lichter gehen

auf und die Ungewissheit schwindet. Dennoch

tappen sowohl die Leser*innen als auch die Protagonistin

Emma bis zuletzt im Dunkeln. Wer ist der

eigentliche Täter in der Geschichte? Fitzek bleibt

undurchschaubar und bietet mit der Auflösung ein

dramatisches Finale. Damit setzt er den Höhe punkt

seines äusserst gelungenen Thrillers. Aus einer einfachen

Alltagssituation kreiert er ein absolutes Horrorerlebnis.

Teilweise erscheint dieses leider etwas

absurd und zu extrem, weshalb es für mich nicht

sein bestes Werk ist. Für alle Krimi- und Thrillerfans

lohnt sich die Lektüre aber allemal.

Anja Blaser

Das Paket

Sebastian Fitzek

Droemer Knaur

2016

368 Seiten

Die Droge unserer Zeit?

Durch die vereinfachte und schnelle Kommunikation

über die sozialen Medien werden uns

Türen zur anderen Welt geöffnet. Klingt doch ganz

gut, oder? Doch wie schon der Dichter Sophokles zu

Zeiten des antiken Griechenlands erkannte: «Nichts

Grosses hält ohne Fluch Einzug in die Welt der

Sterblichen.» Gegen diesen Fluch sind auch soziale

Medien nicht immun, wie in der Netflix-Dokumentation

«The Social Dilemma» gezeigt wird. Ehemalige

Mitarbeiter*innen grosser Tech-Plattformen wie

Twitter, Google oder Pinterest setzen sich zusammen,

um reinen Tisch zu machen: Nun sei es an der

Zeit, dass jemand das Innenleben dieser Plattformen

transparent mache und sich traue, den Mund

zu öffnen.

Zwei Milliarden Menschen werden laut Tristan

Harris täglich wie Marionetten von den digitalen

Medien beeinflusst, bis ihre Gedanken von ihnen

gesteuert werden. Harris sass bis ins Jahr 2013

selbst als Design-Ethiker hinter dem Hebelpult

von Google und half bei der Steuerung der

Nutzer*innen. Der Algorithmus, der diesen Vorgang

möglich macht, sucht nach einer Lücke im Profil, die

anschliessend mit ähnlichen Beiträgen gefüllt wird.

Die Internetdienste versuchen damit, Nutzer*innen

so lange wie möglich im Netz «gefangen» zu halten,

sodass die Bildschirmzeit optimiert und ihr Profit

dadurch erhöht wird. Denn wir können schliesslich

alle Informationen gratis und zu jeder Zeit konsumieren.

Oder müssen wir? Ist der Konsum schon

ein Zwang? Wie eine herkömmliche Redewendung

besagt, die Tristan Harris erwähnt: «Wenn du nicht

für das Produkt bezahlst, dann bist du das Produkt.»

Die Tatsache, dass das Internet nichts vergisst

und alle Daten speichert, ist wohl allen bekannt.

Wirklich bewusst ist es uns aber noch nicht und

genau das leistet die Dokumentation «The Social

Dilemma». Sie wurde zwar beinahe zu düster

und trist umgesetzt, schneidet aber sehr wichtige

Themen an. Zum Beispiel das des Klassikers «1984»

von George Orwell: Totalitäre Überwachung.

Was wür de geschehen, wenn die Macht über die

Tech-Plattformen in falsche Hände gerät?

Meiner Meinung nach wird es deshalb immer

wichtiger, sich mit dem Einfluss sozialer Medien

auseinanderzusetzen. Passend dazu nochmals ein

Zitat von Tristan Harris: «Wie wachst du aus der

Matrix auf, wenn du nicht weisst, dass du drin bist?»

Ella Lory

Das Dilemma mit den sozialen

Medien

Jeff Orlowski

Netflix

2020

1h34

10.20

spectrum

23

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