Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
DOSSIER
Text Alyna Reading
Foto Indra Crittin
Der Stoiker im Belvédère
Sonnige Nachmittage verbringen Freiburger Studierende
gerne bei einem Glas Bier auf der Terrasse des Belvédères in
der Grand-Rue. Doch während des Lockdowns sass Inhaber
Eddy Kunz allein da mit der Aussicht auf die Unterstadt und
eine ungewisse Zukunft.
Unsicherheiten bestehen bleiben. Im
Vergleich zum Vorjahr hat das Belvédère
einen Drittel seiner Umsätze eingebüsst.
Eine der grössten Sorgen bleibt dabei
die Miete, die während der Krise nicht
weniger geworden ist.
Am 17. März liess der Bundesrat im
Zuge der «ausserordentlichen Lage»
sämtliche Bars, Restaurants und Läden
schliessen. Als Café, Restaurant und
Nachtclub litt das Belvédère gleich dreifach.
Wo sich die Leute seit 1880 gerne
auf einen Kaffee treffen, kehrte nun für
zwei Monate Ruhe ein.
Göttliche Intervention
In den Tagen und Wochen zuvor hatte
sich abgezeichnet, dass die Gastronomie
irgendwie mit dem neuen Coronavirus
würde umgehen müssen.
Verschiedene Ideen kursierten und als
der Lockdown verhängt wurde, kam die
Lösung als eine Erleichterung. Eddy
Kunz schmunzelt: «Für mich als Stoiker
war das nicht so schlimm.» Er nennt den
Beschluss des Bundesrats «eine göttliche
Intervention». Es gab nichts, was er
dagegen tun konnte.
Seit zwölf Jahren führt Kunz den Betrieb
sieben Tage die Woche. Geschlossen
wurde das Belvédère höchstens für ein
paar Tage im Jahr, um eine Grundreinigung
durchzuführen. Nun musste er die
Mitarbeitenden nach Hause schicken
und sich überlegen, was er mit all dem
angezapften Bier und den Lebensmitteln
anfangen sollte. Fast nostalgisch
denkt Kunz an die Ruhe während des
Lockdowns zurück; an das schöne Wetter
auf der Terrasse und den begehbaren
Kühlschrank voller Essen, dem er
sich mehr oder weniger allein widmen
musste.
Desinfektionsmittel statt Ferien
Als der Betrieb am 11. Mai wieder aufgenommen
wurde, kehrten die alten Unsicherheiten
zurück. Während des Lockdowns
hatte der Staat den Angestellten
achtzig Prozenz ihres Durchschnittslohns
bezahlt. Diese Aufgabe fiel nach
der Wiederöffnung erneut dem Belvédère
zu, das nun aber ausserdem strengen
Hygienevorschriften zu folgen hatte.
Die neuen Auflagen sind mühsam umzusetzen
und zum Teil auch teuer. Grössere
Abstände zwischen den Tischen
erlauben weniger Gäste. Das wiederum
bedeutet weniger Umsatz. «Das Desinfektionsmittel
kostet ausserdem tausende
von Franken, mit denen man natürlich
lieber in die Ferien fahren würde»,
meint Kunz rundheraus. Es ist nicht
immer leicht zu erkennen, ob er scherzt
oder nicht. Offensichtlich ist nur, dass
trotz des guten Sommers für Kunz viele
«C’est la vie.»
Für Kunz ist klar, dass die Situation
mindestens bis nächsten Frühling oder
Sommer anhalten wird. Die Lösung des
Problems sieht er in einer Impfung, aber
bis diese genug verbreitet sei, werde
es wohl noch eine Weile dauern. «Die
Auflagen müssen sein, aber es ist nicht
schön, so zu arbeiten», sagt Kunz bedauernd.
Das Metier sei auf engen Kontakt
mit der Kundschaft angewiesen. Die
Masken und das Desinfizieren würden
Distanz schaffen. Die Botschaft sei klar:
Alle sind als potenzielle Träger*innen
des Virus irgendwie dreckig.
Trotzdem hat das Belvédère seine
wöchentlichen Jam-Sessions wieder
aufgenommen. Auch die Spielabende
und die Lesungen frankophoner Schriftstellerinnen
finden wieder statt. Es
etabliert sich im Belvédère – wie überall
– eine neue Normalität. Wie es bei
einer zweiten Welle ohne Hilfe seitens
des Staats weitergehen sollte, weiss
Kunz auch nicht. Im Vergleich zum
geregelten Lockdown ist der restliche
Verlauf der Pandemie ungewiss. Doch
ganz im Sinne der stoischen Philosophie
lässt sich Kunz nicht zu Hirngespinsten
über die Zukunft hinreissen. Lieber
macht er weiter, organisiert Lesungen
und andere Anlässe. Spricht man ihn auf
die prekäre Lage an, sagt er schlicht: «So
ist das Leben.» Ausnahmsweise klingt
das nicht wie eine Plattitüde, sondern
wie alles was er sagt: halb Scherz, halb
Wahrheit. P
10.20
spectrum
15