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Spectrum_4_2020

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DOSSIER

Text Alyna Reading

Foto Indra Crittin

Der Stoiker im Belvédère

Sonnige Nachmittage verbringen Freiburger Studierende

gerne bei einem Glas Bier auf der Terrasse des Belvédères in

der Grand-Rue. Doch während des Lockdowns sass Inhaber

Eddy Kunz allein da mit der Aussicht auf die Unterstadt und

eine ungewisse Zukunft.

Unsicherheiten bestehen bleiben. Im

Vergleich zum Vorjahr hat das Belvédère

einen Drittel seiner Umsätze eingebüsst.

Eine der grössten Sorgen bleibt dabei

die Miete, die während der Krise nicht

weniger geworden ist.

Am 17. März liess der Bundesrat im

Zuge der «ausserordentlichen Lage»

sämtliche Bars, Restaurants und Läden

schliessen. Als Café, Restaurant und

Nachtclub litt das Belvédère gleich dreifach.

Wo sich die Leute seit 1880 gerne

auf einen Kaffee treffen, kehrte nun für

zwei Monate Ruhe ein.

Göttliche Intervention

In den Tagen und Wochen zuvor hatte

sich abgezeichnet, dass die Gastronomie

irgendwie mit dem neuen Coronavirus

würde umgehen müssen.

Verschiedene Ideen kursierten und als

der Lockdown verhängt wurde, kam die

Lösung als eine Erleichterung. Eddy

Kunz schmunzelt: «Für mich als Stoiker

war das nicht so schlimm.» Er nennt den

Beschluss des Bundesrats «eine göttliche

Intervention». Es gab nichts, was er

dagegen tun konnte.

Seit zwölf Jahren führt Kunz den Betrieb

sieben Tage die Woche. Geschlossen

wurde das Belvédère höchstens für ein

paar Tage im Jahr, um eine Grundreinigung

durchzuführen. Nun musste er die

Mitarbeitenden nach Hause schicken

und sich überlegen, was er mit all dem

angezapften Bier und den Lebensmitteln

anfangen sollte. Fast nostalgisch

denkt Kunz an die Ruhe während des

Lockdowns zurück; an das schöne Wetter

auf der Terrasse und den begehbaren

Kühlschrank voller Essen, dem er

sich mehr oder weniger allein widmen

musste.

Desinfektionsmittel statt Ferien

Als der Betrieb am 11. Mai wieder aufgenommen

wurde, kehrten die alten Unsicherheiten

zurück. Während des Lockdowns

hatte der Staat den Angestellten

achtzig Prozenz ihres Durchschnittslohns

bezahlt. Diese Aufgabe fiel nach

der Wiederöffnung erneut dem Belvédère

zu, das nun aber ausserdem strengen

Hygienevorschriften zu folgen hatte.

Die neuen Auflagen sind mühsam umzusetzen

und zum Teil auch teuer. Grössere

Abstände zwischen den Tischen

erlauben weniger Gäste. Das wiederum

bedeutet weniger Umsatz. «Das Desinfektionsmittel

kostet ausserdem tausende

von Franken, mit denen man natürlich

lieber in die Ferien fahren würde»,

meint Kunz rundheraus. Es ist nicht

immer leicht zu erkennen, ob er scherzt

oder nicht. Offensichtlich ist nur, dass

trotz des guten Sommers für Kunz viele

«C’est la vie.»

Für Kunz ist klar, dass die Situation

mindestens bis nächsten Frühling oder

Sommer anhalten wird. Die Lösung des

Problems sieht er in einer Impfung, aber

bis diese genug verbreitet sei, werde

es wohl noch eine Weile dauern. «Die

Auflagen müssen sein, aber es ist nicht

schön, so zu arbeiten», sagt Kunz bedauernd.

Das Metier sei auf engen Kontakt

mit der Kundschaft angewiesen. Die

Masken und das Desinfizieren würden

Distanz schaffen. Die Botschaft sei klar:

Alle sind als potenzielle Träger*innen

des Virus irgendwie dreckig.

Trotzdem hat das Belvédère seine

wöchentlichen Jam-Sessions wieder

aufgenommen. Auch die Spielabende

und die Lesungen frankophoner Schriftstellerinnen

finden wieder statt. Es

etabliert sich im Belvédère – wie überall

– eine neue Normalität. Wie es bei

einer zweiten Welle ohne Hilfe seitens

des Staats weitergehen sollte, weiss

Kunz auch nicht. Im Vergleich zum

geregelten Lockdown ist der restliche

Verlauf der Pandemie ungewiss. Doch

ganz im Sinne der stoischen Philosophie

lässt sich Kunz nicht zu Hirngespinsten

über die Zukunft hinreissen. Lieber

macht er weiter, organisiert Lesungen

und andere Anlässe. Spricht man ihn auf

die prekäre Lage an, sagt er schlicht: «So

ist das Leben.» Ausnahmsweise klingt

das nicht wie eine Plattitüde, sondern

wie alles was er sagt: halb Scherz, halb

Wahrheit. P

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