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SPECTRUM #4 2017

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Facebook-Poesie<br />

Auf 304 Seiten führt Stefanie Sargnagel ein Tagebuch.<br />

Wer jetzt an ein herkömmliches Tagebuch<br />

mit feinsäuberlichen Einträgen in physischer<br />

Form denkt, der wird enttäuscht. Stattdessen ist es<br />

virtuell auf Facebook und für jede und jeden ersichtlich<br />

und zugänglich. Sargnagel wird also genau<br />

dafür gefeiert, wofür wir andere verachten. Sie postet<br />

an einem Tag mehr als die meisten in einem Jahr.<br />

Bereits zum vierten Mal wurde jetzt ein Best-Of<br />

dieser Statusmeldungen gedruckt. In „Statusmeldungen“<br />

schildert sie Belangloses wie ihren Alltag<br />

oder ihre Arbeit als Mitarbeiterin in einem Callcenter,<br />

schreibt aber auch über Feminismus oder ihre<br />

Depressionen. Die Länge ihrer Einträge variiert von<br />

einer Zeile bis zu eineinhalb Seiten. Sie sind nach<br />

Datum sortiert und werden dazwischen lediglich<br />

von ihren Zeichnungen unterbrochen. In ihren kurzen<br />

Texten bringt Stefanie Sargnagel vieles auf den<br />

Punkt und regt zum Denken an. Sie überzeichnet<br />

und übertreibt und ist dabei oft mehr ironisch als<br />

seriös. Sie kritisiert die Rechten und macht sich lustig<br />

über die Wohlfühl-Linken. Immer wieder eckt<br />

sie an. Bei Hassbriefen und Shitstorms verstummt<br />

sie nicht, sondern macht sie zum Thema. Gerade<br />

weil Stefanie Sargnagel kein Blatt vor den Mund<br />

nimmt, sind ihre Texte erfrischend. Stefanie Sargnagel,<br />

geboren Sprengnagel, lebt in Wien, wo sie auch<br />

aufgewachsen ist. Sie ist Mitglied der Burschenschaft<br />

Hysteria, gewann 2016 den Publikumspreis<br />

des Ingeborg-Bachmannpreises und war <strong>2017</strong> in<br />

diesem Rahmen ein halbes Jahr Klagenfurts Stadtschreiberin.<br />

Wer Wert auf Grammatik legt, dem sei<br />

von diesem Buch abgeraten, obschon, anders als<br />

auf ihrem Facebook-Profil, immerhin die Grossund<br />

Kleinschreibung richtig ist. Dass es bereits ihr<br />

viertes Buch ist, welches in der gleichen Form erscheint,<br />

ist nicht sehr originell und wird langsam<br />

etwas langweilig. Obwohl man ihr auch einfach auf<br />

Facebook folgen kann, lohnt es sich, ihre Posts als<br />

Buch zu haben. Nicht nur, weil darin die besten Statusmeldungen<br />

enthalten sind, sondern auch, weil es<br />

einfach praktischer ist, als endlos durch ihr Profil zu<br />

scrollen. Ausserdem sieht es im Zug auch einfach<br />

besser aus, wenn man in einem Buch liest, statt auf<br />

das Handy-Display zu starren.<br />

FABIENNE<br />

WIDMER<br />

KRITIK<br />

„Statusmeldungen“, Stefanie<br />

Sargnagel, Rowohlt<br />

Verlag, 304 Seiten<br />

„Warteraum mit Medikamenten“<br />

Als einen „Warteraum mit Medikamenten“ bezeichnet<br />

Alberto de Andrade in seinem Buch<br />

„Arrhythmi der Hoffnung“ das Psychiatriewesen.<br />

Gleich dieser gewitzten Umschreibung ist der gesamte<br />

Text treffend, persönlich und mit einer Prise<br />

Humor gewürzt. Die Leserinnen und Leser erhalten<br />

nicht nur Einsicht in eine individuelle Geschichte<br />

eines Menschen, der mit sich selbst und der Welt<br />

zu hadern hat, sondern erlangen auch Ansichten<br />

über Politik und Gesellschaft aus dem Blickwinkel<br />

eines sehr geradlinigen Geistes. In der autobiographischen<br />

Erzählung „Arrhythmie der Hoffnung“ erzählt<br />

Autor Alberto de Andrade seinen Lebensweg,<br />

der beginnend von schwierigen familiären Verhältnissen<br />

in einen Strudel aus Isolation, Drogen und<br />

dadurch bedingte Reizüberflutung führt – und der<br />

von temporären klinischen Aufenthalten nur sehr<br />

bedingt aufgehellt wird. Verschiedene Rückblenden<br />

zeigen auf, dass de Andrade nicht immer so<br />

hoffnungslos war, wie er jetzt ist; dass es durchaus<br />

Zeiten gab, in denen er blühte und zeigen konnte,<br />

was er draufhat. Er hatte zwei Lehrstellen, doch<br />

beide Betriebe gingen Konkurs. Als ihn nach dem<br />

Verlust dieser Lehrstellen auch noch seine Freundin<br />

verliess, stürzte er in die jetzige, von Monotonie<br />

geprägte Situation. Das Paradoxe an der Situation<br />

vieler, die an einer seelischen Erkrankung leiden:<br />

So sehr sie sich auch wünschen, sozial integriert an<br />

einem „normalen“ (was heisst schon normal?) Leben<br />

teilzunehmen, schaffen sie es dennoch nicht.<br />

Alberto de Andrade leidet an Depressionen, paranoider<br />

Schizophrenie und ADHS. Die daraus resultierende<br />

Deprivation, das kaum auszuhaltende Gefühl,<br />

nicht an einem „gesunden“ sozialen Leben mit<br />

Kollegen und vielleicht einer Freundin teilzuhaben,<br />

ist schwer auszuhalten. Da er das Gefühl kennt, von<br />

sozial integrierten Menschen mit Arbeit und Freundeskreis<br />

nicht verstanden zu werden, appelliert er<br />

an das Bewusstsein der Leserinnen und Leser, nicht<br />

über andere Menschen zu urteilen, ohne deren Geschichte<br />

zu kennen. Mit erschreckender Offenheit<br />

schildert er die Hoffnungslosigkeit, die den Alltag<br />

eines Arbeitslosen mit IV-Rente bestimmt. Die Ärzte<br />

würden zwar helfen wollen, doch seien viele Therapien<br />

standardisiert und würden nur einen sehr<br />

geringen Effekt erzielen. Die Tage sind geprägt von<br />

Nichtstun in einem „Warteraum mit Medikamenten“.<br />

Die Geschichte stimmt nachdenklich. Und als<br />

er zum Schluss ermahnt, dass wir nicht vergessen<br />

dürften, wie wertvoll wir sind, wünscht man ihm,<br />

dass auch er bald wieder an sich glauben kann.<br />

ANNA MÜLLER<br />

„Arrhythmie der Hoffnung“,<br />

Alberto De Andrade,<br />

United p.c., 112 Seiten<br />

4 / <strong>2017</strong><br />

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