SPECTRUM #4 2017
You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
Fussballfan sein ist doof<br />
Dank dem FC Winterthur bringe ich meinen Lokalpatriotismus<br />
eigentlich bequem mit meiner<br />
Ansicht zusammen, dass sich Patriotismus gar nicht<br />
gehört: Mit der als Kollektivbetrieb organisierten „Liberobar“,<br />
der in einem Container untergebrachten<br />
Kunstgalerie „Salon Erika“, dem Fankurvenslogan<br />
„Bierkurve gegen Rassismus“ und der finanziellen<br />
Unterstützung durch lokale Betriebe präsentiert sich<br />
der Challenge League Verein bewusst auf dem linken<br />
politischen Spektrum. Symbolisch dafür steht<br />
Geschäftsführer Andreas Mösli, ein alteingesessener<br />
Winterthurer aus der links-alternativen Szene. Er<br />
war nicht nur bei der Gründung der Bierkurve dabei,<br />
sondern hat den FCW mit einem Jahr ehrenamtlicher<br />
Arbeit auch vor dem Bankrott bewahrt. Er schreibt<br />
Nachwuchsförderung, lokale Vernetzung und vor allem<br />
auch Solidarität gross und ist tonangebend für das<br />
linke Image des Vereins. Falls es der FCW für einzelne<br />
Berichte (zum Beispiel wenn er in Cupspielen mal<br />
wieder einen Gegner wie YB zu bezwingen vermag)<br />
mal in die nationalen Medien schafft, wird er prompt<br />
auch jedes Mal als das Schweizer Pendant zum FC<br />
St. Pauli bezeichnet, welcher für Freundschaftsspiele<br />
auch schon einige Male auf der Schützenwiese, dem<br />
Stadion des FCW, war. Also gehe ich gerne und mit<br />
gutem Gewissen an jedes Heimspiel, trinke im „einzigen<br />
Fussballstadion des Kantons Zürich“ Haldengut-Bier<br />
und unterstütze die Jugendförderung jedes<br />
Mal mit meinen Depot-Bechern. Aber eigentlich ist<br />
Fussballfansein doch doof. Statt Haldengut, das zur<br />
Heinekengruppe gehört, würde ich lieber Euelbräu<br />
oder Stadtgut trinken, und mit meiner gutgemeinten<br />
Jugendförderung spiele ich schlussendlich auch<br />
nur GC und FCZ in die Hände – dahin wandern die<br />
vielversprechendsten Jungtalente nämlich regelmässig<br />
ab. Ausserdem nehme ich trotzdem teil an einem<br />
Zirkus, der beherrscht ist von Mauscheleien im besten<br />
und Korruption im schlimmsten Fall, der von Homophobie<br />
und Nationalismus geprägt ist und fiebere als<br />
FCW Fan noch dazu jede Woche 90 Minuten lang mit<br />
elf Männern mit, nur um mich den Rest des Abends<br />
nach einer weiteren Niederlage desillusioniert zu fragen,<br />
wieso ich mir das eigentlich immernoch antue.<br />
Wahrscheinlich halte ich den wöchentlichen Frust<br />
nur aus, weil ich weiss, dass der FCW auch auf dem<br />
letzten Tabellenplatz eigentlich sicher ist vor dem Abstieg.<br />
Da spielen mir die negativen Seiten des Fussballs<br />
nämlich schön in die Hände: Der Abstieg wird<br />
wohl sowieso wieder am grünen Tisch ausgemacht.<br />
Also Hoch dem Winterthurer Fussballverein, auf die<br />
nächste Niederlage!<br />
KOMMENTAR<br />
GIOJA<br />
WEIBEL<br />
Kooperation statt Zentralismus<br />
in Bildungsfragen<br />
Vor Kurzem wurde der Vorwurf laut, in der Westschweiz<br />
würden viel mehr Schüler das Gymnasium<br />
besuchen und die Aufnahme ans Gymnasium sei<br />
viel einfacher als in der Deutschschweiz, insbesondere<br />
als in den Ostschweizer Kantonen. Dies wirft Fragen<br />
auf: Ist demzufolge das Niveau in der Westschweiz<br />
tiefer und eine Westschweizer Matura weniger wert<br />
als eine aus der Ostschweiz? Bleibt durch die stark<br />
unterschiedlichen Aufnahmeverfahren die Chancengleichheit<br />
auf der Strecke? Wenn ja, kann und sollte<br />
dieser Ungerechtigkeit mit mehr Zentralismus entgegengewirkt<br />
werden?<br />
Nein, mehr Zentralismus ist nicht die Antwort. Eine<br />
einheitliche zentralistische Lösung bezüglich Aufnahmeverfahren<br />
ans Gymnasium wäre zwar ohnehin<br />
keine „schweizerische Lösung“, wie es Franz Eberle,<br />
Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik<br />
an der Universität Zürich, im Interview mit der NZZ<br />
ausdrückt. Doch auch ganz abgesehen davon: Zu viel<br />
Zentralismus schadet, weil er zur Standardisierung<br />
führt, Schülerinnen und Schüler in ihrer Wahl zwischen<br />
wirklich verschiedenen Angeboten der einzelnen<br />
Gymnasien einschränkt und Lehrpersonen ihrer<br />
Freiheit und Eigenverantwortung in der Unterrichtsplanung<br />
beraubt. Eberle sieht die Ursache für das<br />
Problem im mangelnden Austausch unter den Kantonen.<br />
Ob ein blosser Austausch zu interkantonaler<br />
Angleichung und mehr Chancengerechtigkeit führen<br />
wird, ist jedoch fraglich, da alle Kantone an ihren seit<br />
Jahrzehnten „bewährten“ Systemen festhalten. Quoten<br />
sind ebenfalls keine Lösung, da in einem teils<br />
zweijährigen personalisierten Vorbereitungs- und<br />
Aufnahmeverfahren, wie es zum Beispiel der Kanton<br />
Schwyz kennt, kaum mit Quoten gearbeitet werden<br />
kann. Damit angesichts dieses Problems nicht der<br />
Zentralismus als Lösung avisiert wird, müssen Bund<br />
und Kantone daran arbeiten, dass der Bildungsföderalismus<br />
beziehungsweise -individualismus, eine grosse<br />
Stärke der Schweizer Bildungslandschaft, immer viel<br />
mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Es muss<br />
ein System erarbeitet werden, das den Kantonen weiterhin<br />
Gestaltungsfreiheit in ihren individuellen Verfahren<br />
zugesteht, gleichzeitig aber sicherstellt, dass<br />
der Weg zur Matura als Zugangsberechtigung für ein<br />
anschliessendes Universitätsstudium auf nationaler<br />
Ebene vergleichbar und im kantonalen Vergleich<br />
gleich viel wert ist. Dies erfordert nicht nur einen stärkeren<br />
Austausch unter den Kantonen, sondern setzt<br />
ihren Willen zur Zusammenarbeit voraus.<br />
MIRJAM<br />
SCHMITZ<br />
4 / <strong>2017</strong><br />
19