153 - Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek

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06.12.2012 Views

einleitung LV Die Einbeziehung der Geschichte in das Arbeitsprogramm der neuen Sozietät der Wissenschaften (vgl. oben S. XLII) nimmt Leibniz zum Anlaß, um freien Zugang zu den brandenburgischen Archiven und Bibliotheken nachzusuchen (N. 431, N. 432, N. 450), fast in denselben Worten, wie er es 1696 in Hannover bei Ludolf Hugo getan hatte (Tagebuch vom 16. August 1696; gedr. in: Pertz, Werke, 4, 1847, S. 198). 10. Sprachwissenschaft Leibniz’ Berührung mit Fragen der Sprachwissenschaft ist im Berichtszeitraum des vorliegenden Bandes besonders vielfältig. Neben seit Jahren diskutierten Fragen taucht auch völlig Neues auf. So lehnt auf der einen Seite Hiob Ludolf nochmals entschieden Leibniz’ gewagte Versuche ab, Bärenhäuter und Hahnrei etymologisch zu deuten (N. 330); andererseits mahnt Leibniz wohl ohne große Hoffnung noch einmal Ludolfs einst in Aussicht gestellte ” tabula harmonica‘‘ der Alphabete an (N. 248), deren Herstellung aus Kostengründen letztlich unterbleibt. Die Korrespondenz mit dem kranken Gerhard Meier, der soeben seine Frau verloren hat, ist wesentlich weniger umfangreich als in den vergangenen Jahren, doch scheint die langwierige Geschichte des niederdeutschen Wörterbuchs sich endlich ihrem Ende zu nähern: Meier stellt den Abschluß der Arbeit in Aussicht und kündigt das Erscheinen eines Probedruckes an (N. 141) — aus beidem ist freilich nichts geworden. Auch Leibniz’ Bestrebungen, die vorhandenen Vaterunser-Sammlungen durch neu erschlossenes Material zu ergänzen, haben bereits Tradition; doch dringt er nun stärker auf die Berücksichtigung des Alltagswortschatzes, den er in kleinen Glossaren zusammenzustellen empfiehlt (N. 222), kann er doch nur auf einer möglichst breiten lexikalischen Grundlage hoffen, Sprachen und ihre Wanderungen zu identifizieren und damit eine vorschriftliche Völkergeschichte zu rekonstruieren, wobei die von der antiken Überlieferung nur am Rande berücksichtigten Räume wie der Norden Europas und Asiens von besonderem Interesse sind. Andererseits wird Leibniz auch mit ihm gänzlich Unbekanntem konfrontiert, und zwar gerade in Erfüllung seines immer wieder geäußerten Wunsches nach einer tabellarischen Übersicht über die Schriftzeichen der Völker und ihren Lautwert. Der schwedische Slavist und Orientalist Johan Gabriel Sparwenfeld hatte mit I, 17 N. 111 eine solche Tabelle für den slavischsprachigen Bereich zusammengestellt, ohne zu bedenken, daß es Leibniz weitgehend an den Voraussetzungen zu deren Verständnis fehlte. Entsprechend

LVI einleitung zahlreich sind dessen Nachfragen in der jetzt erst endgültig auf den Weg gebrachten Antwort (N. 174), insbesondere zu den Namen der Buchstaben und ihrem jeweiligen Lautwert sowie dem Verhältnis des kyrillischen zum glagolitischen Alphabet. Rasch kommt er aber auch hier über phonetische Fragen zurück auf seine Idee, sämtliche Sprachen mittels des um diakritische Zeichen erweiterten lateinischen Alphabets zu schreiben, analog der jüdischen Praxis, vom Arabischen bis zum Altokzitanischen alles mit Hilfe der eigenen Lettern zu transliterieren. Sparwenfeld freilich ist an den einzelnen slavischen Sprachen, in denen er nur verderbte Abarten des für ihn im Russischen am reinsten erhaltenen Slavisch erkennen will, nur mäßig interessiert (N. 206); die historische Entwicklung der einzelnen Alphabete hat für ihn bestenfalls akademisches Interesse, und das kyrillische durch das lateinische Alphabet zu ersetzen lehnt er strikt ab. Trotz seines sehr ausführlichen Briefes ist die Korrespondenz damit in einer Sackgasse gelandet; Leibniz antwortet nicht, der Briefwechsel ruht für zwei Jahre. Durch Vermittlung von Hiob Ludolf tritt Leibniz auch mit den koptischen Studien des in der Vaticana arbeitenden Augustiners Guillaume Bonjour in Kontakt (N. 248). Es bleibt aber nicht bei seinem Stoßseufzer angesichts der ihm gänzlich unzugänglichen Sprache; auf einem Briefkonzept hat sich ein Versuch erhalten, anhand einer Vaterunserbilingue einzelne koptische Wörter und morphologische Einzelheiten zu identifizieren (vgl. N. 204 Erl.). Die Versetzung des französischen Botschafters in Wolfenbüttel Du Heron nach Warschau ist Anlaß für Leibniz’ Versuch, sich anstelle von P. Kochański, der noch im Mai stirbt, eine neue Quelle für die skythischen‘‘ Sprachen Osteuropas zu erschließen (N. 335). ” Eine wieviel zuverlässigere Quelle scheint ihm doch die auf diesem Wege erschlossene ” cognatio gentium‘‘ als die nach Rudbeck auch von Otto Sperling betriebene historische Auslegung der nordischen Sagas, gegen die er zum wiederholten Mal sich zu wenden Anlaß findet (N. 360; vgl. bereits I, 16 N. 444, S. 724 f.) . Notizen zur Wortgeschichte finden sich in demselben Brief an Sperling (baptisterium), in der Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage Joachim Meiers (N. 239 : poledrarius) und, sehr viel ausführlicher, in dem von Burkhard Gotthelf Struve erbetenen Abriß zur Entstehungsgeschichte der Turniere (N. 319 : torneamentum; knecht). In Leibniz’ Besprechung von P. Hostes L’Art des armées navales (N. 222) wird darüber hinaus noch einmal sein Interesse an technischem Vokabular, hier der Seemannssprache, deutlich. Bei der Begründung der Sozietät der Wissenschaften hatte Kurfürst Friedrich III. großen Wert darauf gelegt, daß die Pflege der deutschen Sprache in ihr Programm auf-

LVI einleitung<br />

zahlreich sind dessen Nachfragen in der jetzt erst endgültig auf den Weg gebrachten Antwort<br />

(N. 174), insbesondere zu den Namen der Buchstaben und ihrem jeweiligen Lautwert<br />

sowie dem Verhältnis des kyrillischen zum glagolitischen Alphabet. Rasch kommt er aber<br />

auch hier über phonetische Fragen zurück auf seine Idee, sämtliche Sprachen mittels<br />

des um diakritische Zeichen erweiterten lateinischen Alphabets zu schreiben, analog der<br />

jüdischen Praxis, vom Arabischen bis zum Altokzitanischen alles mit Hilfe der eigenen<br />

Lettern zu transliterieren. Sparwenfeld freilich ist an den einzelnen slavischen Sprachen,<br />

in denen er nur verderbte Abarten des für ihn im Russischen am reinsten erhaltenen<br />

Slavisch erkennen will, nur mäßig interessiert (N. 206); die historische Entwicklung der<br />

einzelnen Alphabete hat für ihn bestenfalls akademisches Interesse, und das kyrillische<br />

durch das lateinische Alphabet zu ersetzen lehnt er strikt ab. Trotz seines sehr ausführlichen<br />

Briefes ist die Korrespondenz damit in einer Sackgasse gelandet; <strong>Leibniz</strong> antwortet<br />

nicht, der Briefwechsel ruht für zwei Jahre.<br />

Durch Vermittlung von Hiob Ludolf tritt <strong>Leibniz</strong> auch mit den koptischen Studien<br />

des in der Vaticana arbeitenden Augustiners Guillaume Bonjour in Kontakt (N. 248).<br />

Es bleibt aber nicht bei seinem Stoßseufzer angesichts der ihm gänzlich unzugänglichen<br />

Sprache; auf einem Briefkonzept hat sich ein Versuch erhalten, anhand einer Vaterunserbilingue<br />

einzelne koptische Wörter und morphologische Einzelheiten zu identifizieren (vgl.<br />

N. 204 Erl.).<br />

Die Versetzung des französischen Botschafters in Wolfenbüttel Du Heron nach Warschau<br />

ist Anlaß für <strong>Leibniz</strong>’ Versuch, sich anstelle von P. Kochański, der noch im Mai<br />

stirbt, eine neue Quelle für die skythischen‘‘ Sprachen Osteuropas zu erschließen (N. 335).<br />

”<br />

Eine wieviel zuverlässigere Quelle scheint ihm doch die auf diesem Wege erschlossene<br />

” cognatio gentium‘‘ als die nach Rudbeck auch von Otto Sperling betriebene historische<br />

Auslegung der nordischen Sagas, gegen die er zum wiederholten Mal sich zu wenden<br />

Anlaß findet (N. 360; vgl. bereits I, 16 N. 444, S. 724 f.) .<br />

Notizen zur Wortgeschichte finden sich in demselben Brief an Sperling (baptisterium),<br />

in der Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage Joachim Meiers (N. 239 : poledrarius)<br />

und, sehr viel ausführlicher, in dem von Burkhard Gotthelf Struve erbetenen Abriß<br />

zur Entstehungsgeschichte der Turniere (N. 319 : torneamentum; knecht). In <strong>Leibniz</strong>’ Besprechung<br />

von P. Hostes L’Art des armées navales (N. 222) wird darüber hinaus noch<br />

einmal sein Interesse an technischem Vokabular, hier der Seemannssprache, deutlich.<br />

Bei der Begründung der Sozietät der Wissenschaften hatte Kurfürst Friedrich III.<br />

großen Wert darauf gelegt, daß die Pflege der deutschen Sprache in ihr Programm auf-

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