PSC 5-03 - FSP
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P s y c h o s c o p e 5 / 2 0 0 3 8/9<br />
Wenn gleichzeitig mehreres unsere<br />
Aufmerksamkeit beansprucht, wird<br />
diese Gleichzeitigkeit kognitiv in ein<br />
Nacheinander aufgelöst.<br />
Diese Ansicht bestätigt der Psychologe<br />
Ernst Pöppel: «Es kann immer nur ein<br />
Sachverhalt zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
im Mittelpunkt des Bewusstseins<br />
stehen. Das eigentliche Multitasking,<br />
dass ich gleichzeitig zwei oder drei verschiedene<br />
Dinge mit gleicher Konzentration<br />
tue, ist für das Gehirn nicht<br />
möglich. Aber wir können gleichzeitig<br />
den Fokus der Aufmerksamkeit auf<br />
einem Sachverhalt halten und im Hintergrund<br />
mit gleitender Aufmerksamkeit<br />
– wie wir es etwa beim Autofahren<br />
tun – etwas anderes mitverfolgen. Wir<br />
können also durchaus Musik hören und<br />
gleichzeitig beispielsweise einen mathematischen<br />
Sachverhalt bearbeiten»<br />
(zit. nach Krempl, 1999). «Was ansonsten<br />
aber teilweise kolportiert wird»,<br />
so Pöppel weiter, «dass gleichzeitig mit<br />
gleicher Konzentration Verschiedenes<br />
gemacht wird, ist physiologisch nicht<br />
möglich. Was dann geschieht, ist eigentlich<br />
eher etwas Negatives: Ich schalte<br />
sehr schnell zwischen verschiedenen<br />
Kontexten hin und her, konzentriere<br />
mich also drei Sekunden lang auf einen<br />
Sprachfetzen, drei Sekunden auf das<br />
Fernsehen, drei auf den Computer. Das<br />
kann ich endogen tatsächlich steuern.<br />
Aber der Effekt ist, dass es zu einer Art<br />
schizoidem Denken kommt, mit dem<br />
nichts mehr verbunden ist. Es gibt dann<br />
keine Nachhaltigkeit der Repräsentation<br />
mehr und keine Nachhaltigkeit der<br />
Informationsverarbeitung.»<br />
Multitasking führt zu Zeitverlust<br />
Die Kunst des perfekten Multitaskings<br />
bestünde somit darin, möglichst aufmerksam<br />
möglichst schnell zwischen<br />
möglichst vielen Aufgabenbereichen<br />
möglichst bruchlos hin und her zu<br />
springen. Das aber ist nicht eine Kunst<br />
der Gleichzeitigkeit, sondern der Geschwindigkeit.<br />
Kurzum: Multitasking<br />
ist ein Kind der Beschleunigung.<br />
Und wie diese führt sie letztlich nicht<br />
zu Zeitgewinn, sondern zu Zeitverlust.<br />
Gemäss einer im August 2001 im<br />
«Journal of Experimental Psychology»<br />
veröffentlichten Studie kann es nämlich<br />
beim Wechsel zwischen unterschiedlichen<br />
Aufgaben zu Zeitverzögerungen<br />
kommen, die entscheidend von der<br />
Neuheit und Komplexität der Aufgaben<br />
abhängen. In den Experimenten mussten<br />
Versuchspersonen unterschiedlich<br />
schwere mathematische Aufgaben<br />
lösen, wie beispielsweise das Multiplizieren<br />
von Zahlen oder das Anordnen<br />
geometrischer Objekte in Gruppen.<br />
Verglichen wurden dabei die benötigte<br />
Zeit bei der Wiederholung derselben<br />
Aufgaben und beim Abwechseln der<br />
Aufgaben. Beim Hin- und Herwechseln<br />
zwischen den Aufgaben unterschiedlicher<br />
Komplexität und Bekanntheit<br />
stellte sich heraus, dass der Wechsel zu<br />
bekannten Aufgaben schneller erfolgt<br />
als zu unbekannten. Dasselbe trifft für<br />
den Wechsel zu einer leichteren Aufgabe<br />
zu (vgl. Rubinstein, Meyer &<br />
Evans, 2001).<br />
Mit anderen Worten: Wer schnell zwischen<br />
neuen und komplexen Aufgaben<br />
hin und her wechseln muss, verliert im<br />
Vergleich zu demjenigen, der an einer<br />
Sache dranbleiben kann bzw. zuerst das<br />
eine und dann das andere erledigt, Zeit.<br />
Dieser Zeitverlust beträgt zwar nur<br />
einige Zehntelsekunden. Insofern aber<br />
Multitasking gerade in der Arbeitswelt<br />
propagiert wird, um der Informationsflut<br />
Herr zu werden, sind solche Zeitverluste<br />
wenig effizient. Aus Sicht der<br />
Arbeitgeber könnte es somit effizienter<br />
sein, statt Multitasking zu fördern, zur<br />
alten tayloristischen Arbeitsteilung<br />
zurückzukehren.<br />
Krankhaft oder sozial erwünscht?<br />
Der «Run auf die Offerten der Welt»<br />
(Gronemeyer) ist somit nicht zu gewinnen.<br />
Aufmerksamkeit ist und bleibt ein<br />
Flaschenhals. Die Weltoptionen lassen<br />
sich weder durchs Nadelöhr der Gegenwart<br />
schleusen noch restlos in einem<br />
Leben abhandeln. Wer mehr als bloss<br />
ein Leben gleichzeitig abgrast, ist<br />
am Ende nicht satt, sondern leidet an<br />
Durchfall: nichts wird verarbeitet.<br />
Entsprechend ist der Simultant keine<br />
evolutionäre Anpassung an die Schnellfeuer-Kultur,<br />
sondern bloss das fortgeschrittene<br />
Stadium des Aufmerksam-<br />
keitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms,<br />
gleichsam das ADS-Kind im Erwachsenenalter.<br />
Doch während bei Kindern<br />
das hyperaktive und unaufmerksame<br />
Verhalten als psychische Entwicklungsstörung<br />
diagnostiziert und mit dem<br />
Sucht erzeugenden Psychopharmaka<br />
Ritalin «therapiert» wird, gilt es bei<br />
Erwachsenen als Symbol für einen<br />
sozial erwünschten Lebensstil.<br />
Verzicht als Zeichen von Kompetenz<br />
Nicht mehr, sondern weniger tun,<br />
dieses Wenige(re) aber ganz, wäre<br />
somit ein probates Mittel gegen die<br />
allseits beklagte Zeitnot. Zwar bleibt,<br />
wo nicht alles getan werden kann, was<br />
getan werden möchte, so manches<br />
ungetan. Dies könnte aber gemäss dem<br />
Philosophen Peter Sloterdijk (1983,939)<br />
zur Einsicht führen, dass «der höchste<br />
Verhaltensbegriff nicht Tun, sondern<br />
Lassen lautet».<br />
Leben kann somit nur gelebt werden<br />
um den Preis der Selektion und wird<br />
bezahlt mit Verzicht. Verzicht wird zum<br />
Schwanengesang auf eine der Meta-<br />
Erzählungen der Moderne: dass alles<br />
gleichzeitig, jederzeit, überall, rund<br />
um die Uhr und sofort möglich sei.<br />
«Bescheidung nicht angesichts von<br />
Knappheit, sondern angesichts von<br />
Überfluss», hat der Philosoph Günther<br />
Anders diesen modernen kategorischen<br />
Imperativ schon vor Jahren auf den<br />
Punkt gebracht (1980, 393). Nicht als<br />
Zeichen von Resignation, sondern<br />
von Kompetenz. Denn kompetent sein<br />
bedeutet auch, auf manche Mittel<br />
bewusst zu verzichten.<br />
Résumé<br />
Chacune de nos décisions nous prive<br />
d’autres possibilités. Nous vivons dans<br />
une société « multioptionnelle »,<br />
écrit le Zurichois Michel Baeriswyl,<br />
psychologue social et philosophe de<br />
la culture. Pour avoir un maximum<br />
d’activités, les gens n’hésitent pas à<br />
effectuer plusieurs choses à la fois.<br />
Mais l’auteur doute que la pratique du<br />
multitasking leur soit bénéfique.