PSC 5-03 - FSP
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«ADS ist nicht nur ein<br />
Aufmerksamkeit<br />
Zeitphänomen»<br />
Was ist ADS? Markus<br />
Stucki beschäftigt<br />
sich in seiner Arbeit<br />
regelmässig mit<br />
Menschen, die von<br />
der Aufmerksamkeitsstörung<br />
betroffen<br />
sind. Der Fachpsychologe<br />
für Psychotherapie<br />
<strong>FSP</strong> erzählt von<br />
zappelnden Kindern<br />
und verträumten<br />
Spaziergängern und<br />
erklärt, warum Ritalin<br />
keine Droge ist.<br />
Markus Stucki, in<br />
der zweiten Auflage<br />
des «Struwwelpeter»<br />
hat der deutsche<br />
Psychiater Heinrich<br />
Hoffmann 1846 die<br />
Figur des Zappelphilipp<br />
eingeführt.<br />
Würden Sie bei diesem<br />
hyperaktiven<br />
Kind die Ferndiagnose<br />
ADS stellen?<br />
Ja, falls ich von der<br />
Annahme ausgehe,<br />
dass die Diagnose<br />
ADS auf den Symptomen<br />
einer ausgeprägten<br />
Hyperaktivität,<br />
einer erheblichen<br />
Störung der Aufmerksamkeit<br />
und<br />
einer eingeschränkten Impulskontrolle<br />
aufbaut. Hoffmanns Zappelphilipp<br />
erfüllt diese Kriterien und ist damit die<br />
erste berühmte Darstellung der angesprochenenVerhaltensstörung.<br />
Dasselbe<br />
gilt für Astrid Lindgrens «Michel», der,<br />
getrieben von seiner Impulsivität, den<br />
Kopf in die Suppenschüssel steckt.<br />
Ich bin zudem der Ansicht, dass Hoffmann<br />
beim Hans Guckindieluft auch<br />
das ADS ohne Hyperaktivität, eine<br />
zweite Ausprägung der Aufmerksamkeitsstörung,<br />
beschrieben hat. Der<br />
Junge beobachtet den Flug der Schwalben<br />
und spaziert geradewegs ins<br />
Wasser.<br />
Die ruhige Verhaltensweise des verträumten<br />
Hans passt so gar nicht in die<br />
Vorstellung, dass die Diagnose ADS mit<br />
Hyperaktivität einhergeht.<br />
Das Verhalten von Hans ist eine der<br />
Äusserungsformen von ADS, die nicht<br />
mit Hyperaktivität gekoppelt ist.<br />
Kinder und Erwachsene, die diese Diagnose<br />
aufweisen, sind vom Tonus her<br />
eher schlaff. In der Öffentlichkeit wird<br />
das Syndrom eher mit impulsiven,<br />
unruhigen Kindern assoziiert.<br />
d o s s i e r<br />
A u f m e r k s a m k e i t<br />
Wie kommt es laut gängiger Lehrmeinung<br />
zu den beiden ADS-Ausprägungen<br />
Hyperaktivität und Verträumtheit?<br />
Es besteht heute weit gehend Einigkeit<br />
darüber, dass ADS eine erbliche Störung<br />
ist, bei der bis zu 15 Gene beteiligt<br />
sind. Noch während meines Studiums<br />
besagte die gängige Lehrmeinung,<br />
dass die Ursache für ADS eher in einer<br />
früh erworbenen Hirnschädigung liege.<br />
Beide Ausprägungen gehen mit einer<br />
Unteraktivierung von Teilen des Zentralnervensystems<br />
einher, vor allem des<br />
Frontalhirns. Bei Hyperaktiven dient<br />
das Zappeln dem Ziel, «überhaupt da<br />
zu sein» und den Hirnstoffwechsel zu<br />
aktivieren.<br />
Können Sie beschreiben, wie sich ein<br />
Kind mit der Diagnose ADS fühlt?<br />
Falls Nichtbetroffene übermüdet und<br />
etwas alkoholisiert an einer Party sind<br />
und das Gefühl haben, die Flut der<br />
Reize nicht mehr bewältigen zu können,<br />
fühlen sie sich vermutlich ähnlich<br />
wie ein ADS-Kind.<br />
Dieses ist vielleicht im Schulzimmer<br />
und wird nervös, da es eine Fülle an<br />
Informationen erhält. Das Kind ist<br />
überfordert, da seine «gating»-Funktion<br />
nicht greift – es kann die Datenflut<br />
nicht filtern, wird zunehmend desorientiert<br />
und langweilt sich, weil es den<br />
«roten Faden» verloren hat.<br />
Wie wirkt das Medikament Ritalin bei<br />
einer solchen Funktionsstörung?<br />
Ritalin mit seinem Wirkstoff Methylphenidat<br />
kam 1954 als «Psychotonikum»<br />
auf den Markt. Es wurde auch<br />
als Appetithemmer und zur Behandlung<br />
von Antriebsstörungen eingesetzt.<br />
Amphetamin und Amphetaminderivate<br />
haben immer eine anregende Wirkung.<br />
Das scheinbar Paradoxe ist, dass sich<br />
unruhige Kinder mit einem anregenden<br />
Medikament «beruhigen». In der<br />
Schweiz gelangte Ritalin ab den Siebzigerjahren<br />
zur Behandlung von ADS<br />
zum Einsatz.<br />
Der Wirkstoff Methylphenidat regt den<br />
Dopaminstoffwechsel an. Ritalin aktiviert<br />
also das System. Dies lässt sich<br />
und ihre<br />
Störungen<br />
mit der Positronen-Emissions-Tomographie<br />
nachweisen: Die Aktivität in<br />
einem Hirn ist kleiner, falls der betreffende<br />
Patient nicht mit Ritalin behandelt<br />
wurde.<br />
Ich vergleiche das Medikament mit<br />
einer Brille: Ein Kurzsichtiger setzt<br />
sich seine Gläser auf, damit er seine<br />
Umwelt schärfer sieht und sie dadurch<br />
besser unter Kontrolle hat. Diese<br />
Eigenschaft fehlt einem ADS-betroffenen<br />
Kind, aber durch Ritalin wird die<br />
«gating»-Funktion in Gang gebracht;<br />
das Kind kann Informationen wieder<br />
geordnet und gefiltert aufnehmen und<br />
verarbeiten.<br />
Einen guten Ruf geniesst das Medikament<br />
ja nicht gerade. Der Beipackzettel<br />
listet eine Fülle von Nebenwirkungen<br />
auf.<br />
Ich kenne viele Personen, darunter<br />
mein Sohn, die Ritalin nehmen. Vor<br />
allem zwei Nebenwirkungen sind mir<br />
begegnet: Zum einen die Appetitlosigkeit,<br />
die jedoch sofort aufhört,<br />
wenn die Wirkung des Medikaments<br />
nachlässt. Zum anderen Einschlafstörungen,<br />
die jedoch nicht wegen des<br />
Ritalins auftreten, sondern weil die<br />
Wirkung des Mittels am Abend nachlässt.<br />
Es stimmt, dass, wenn auch nur<br />
vereinzelt, noch andere Nebenwirkungen<br />
auftreten.<br />
Kritische Stimmen sprechen von der<br />
«Ruhigstellung» unserer Jugend und<br />
behaupten, eine mögliche Spätfolge von<br />
Ritalin sei eine Schüttellähmung, das<br />
Parkinson-Syndrom.<br />
Zuerst zur zweiten Behauptung: In der<br />
mehr als 40-jährigen Geschichte des<br />
Ritalins wurden sehr viele Studien zur<br />
Wirkung dieses Medikaments verfasst.<br />
Es gibt absolut keine Hinweise, die<br />
einen kausalen Zusammenhang zwischen<br />
der Verwendung von Ritalin und<br />
dem Auftreten von Parkinson beweisen.<br />
Zur behaupteten «Ruhigstellung» muss<br />
ich anfügen, dass ein Kind durch Ritalin<br />
tatsächlich apathisch werden kann.<br />
Dies ist aber ganz klar eine Folge einer<br />
falschen Dosierung.