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1 couverture - Bibliothèques de l'Université de Lorraine

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wohl <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r durch die Wand zu treten vermag in eine an<strong>de</strong>re Welt, ins Imaginäre?<br />

Das wäre falsch; jenseits und diesseits <strong>de</strong>r Wand ist die gleiche Welt, nur eine gibt es, die, in<br />

<strong>de</strong>r wir leben. Illusionen helfen nicht. Wir bleiben dieselben, ob wir dies o<strong>de</strong>r jenes tun. Heutzutage<br />

gebraucht man ein wenig schönes Fremdwort: Escapismus. Das kann Kunst nicht mehr sein, ist echte<br />

Kunst nie gewesen. Unsere jungen Leute glauben, sich - wie begreiflich! - von <strong>de</strong>r Last einer<br />

fürchterlichen Vergangenheit loskaufen zu können, in<strong>de</strong>m sie das Zeitalter mit 1933 o<strong>de</strong>r 1945 neu<br />

beginnen lassen, in<strong>de</strong>m sie auf <strong>de</strong>n Nullpegel einstellen. Das ist nicht möglich, ist Selbsttäuschung.<br />

Wer ihr verfallt, verfallt schon wie<strong>de</strong>r neuer Schuld, <strong>de</strong>r Mitschuld an einer finster herandrängen<strong>de</strong>n,<br />

kaum durchschaubaren Zukunft. Geschichte reißt nicht ab, ist nicht zum Stillstand zu bringen, aus<br />

ihrem Kontinuum kann niemand beliebig ausbrechen, das hat es bisher nicht gegeben, schon gar nicht<br />

jetzt, auf dieser einen, klein gewor<strong>de</strong>nen Er<strong>de</strong>, im stets reißen<strong>de</strong>ren Strom <strong>de</strong>r Kulturbeschleunigung;<br />

wir haften für die Sün<strong>de</strong>n unserer Vater wie unsere Kin<strong>de</strong>r für die unsrigen haften wer<strong>de</strong>n.<br />

Manche Kritiker halten mir vor, meine Bücher seien esoterisch, ich beschäftigte mich mit weit<br />

abliegen<strong>de</strong>n Figuren <strong>de</strong>r Historie. Vielleicht hören diese Kritiker nicht genau genug hin. Ich mochte<br />

hier bekennen, daß ich nie auch nur eine Zeile geschrieben habe, die nicht aufs allerunmittelbarste mit<br />

unserer brennen<strong>de</strong>n Gegenwart verbun<strong>de</strong>n wäre. Weshalb fragen wir <strong>de</strong>nn einen Kaiser Justinian,<br />

einen Muley Boabdil, <strong>de</strong>n letzten Maurenherrscher von Granada, ja noch fernere, schattenhafte<br />

Gestalten aus <strong>de</strong>m Orient? Doch nur, um ihre Antwort zu vergegenwärtigen, die sie in einer <strong>de</strong>r<br />

unseren ähnlichen "Grenzsituation" (wie Jaspers sagt) gegeben haben, daß im Damals das Jetzt, das<br />

Kommen<strong>de</strong> aufleuchte, uns <strong>de</strong>n Weg zu zeigen. Odysseus wie Aeneas steigen in <strong>de</strong>n Ha<strong>de</strong>s hinab, um<br />

bei <strong>de</strong>n Verstorbenen etwas über die Zukunft zu erfahren. Bangen um die Zukunft laßt uns<br />

Vergangenes als Gegenwärtiges <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n, Bangen um die Zukunft unserer Kin<strong>de</strong>r und Enkel,<br />

unseres Europa, ja <strong>de</strong>r ganzen Menschheit, <strong>de</strong>r Freiheit. In diesem Sinn, und nur in diesem, darf, soll<br />

<strong>de</strong>r Schriftsteller, <strong>de</strong>r Dichter „engagiert“ sein, nicht für eine Partei, ein Programm, ein System, eine<br />

Zeitströmung, eine Clique. Sich um das Ganze mühen das habe ich als unseren Auftrag empfun<strong>de</strong>n.<br />

Darum nicht nur ein Buch von <strong>de</strong>r Stadt Soest, Europäische Inschriften, nicht nur Leute unserer<br />

Familie aus Megara, son<strong>de</strong>rn auch die Herabkunft <strong>de</strong>r Ganga, die Welt mit Dschingis-Khan. Sich <strong>de</strong>m<br />

Gesamtwissen <strong>de</strong>r Menschheit offenhalten, ihrem Gesamterleben und Erlei<strong>de</strong>n. Daß niemand vermag,<br />

auch nur einen Bruchteil dieses Gesamtwissens aufzunehmen, ein Quant dieses Erlebens<br />

nachzuvollziehen, das Weltleid an<strong>de</strong>rs auszutragen als unter <strong>de</strong>r Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s eigenen Daseins - wer<br />

zweifelte daran? Solche Gewißheit entbin<strong>de</strong>t uns aber nicht von <strong>de</strong>r Verpflichtung, es immer und<br />

immer wie<strong>de</strong>r zu versuchen, unsere Pflugspur durch das ganze Feld zu ziehen, unser Haus im Ortlosen<br />

zu bauen. Je<strong>de</strong> Art inneren Spezialistentums, das Absperren vom Mitmenschen, von <strong>de</strong>r Zeit, be<strong>de</strong>utet<br />

Escapismus.<br />

Wie <strong>de</strong>nn nun? Ist also zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Berufen am En<strong>de</strong> gar kein Unterschied, verlaufen<br />

ihre Grenzen? Doch nicht. Der zweite stiftet, in<strong>de</strong>m er die ganze Er<strong>de</strong>, die ganze Menschheit, <strong>de</strong>n<br />

ganzen Lauf <strong>de</strong>r Geschichte in <strong>de</strong>n Blick nimmt, Distanz. Distanz läßt Atem holen, rückt in <strong>de</strong>n<br />

Abstand und ver<strong>de</strong>utlicht dadurch. Wer sich aus <strong>de</strong>r unmittelbaren Bedrängnis einen Fußbreit Raum<br />

rettet, verschätzt sich nicht mehr so leicht in <strong>de</strong>n Entfernungen <strong>de</strong>s Herzens.<br />

Wohl, dieses Lufthäutchen um die Er<strong>de</strong>, darin wir unser Drosophila-Dasein fristen, ist ein<br />

Nichts vor <strong>de</strong>r endlosen Finsternis <strong>de</strong>s Universums; alle Gestalt löst geschärfter Blick in das Zucken<br />

von Urpartikeln auf, und die Deutungen <strong>de</strong>r Natur als Fressen und Gefressen-Wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>s Lebens als<br />

einer Krankheit zum To<strong>de</strong>, sind unwi<strong>de</strong>rleglich. Doch auch umgekehrt ist <strong>de</strong>r Weg gangbar: aus <strong>de</strong>r<br />

Nacht, <strong>de</strong>r anorganischen Starrheit ist das bunte Spiel <strong>de</strong>r Farben entstan<strong>de</strong>n, Muscheln, Blumen und<br />

Schmetterlinge, zierliche und ausdrucksvolle Gestalt aller Wesen, aus winzigen Reglersystemen <strong>de</strong>s<br />

Zufalls lebendiges Plasma, Erinnerung, Geist, Liebe. Wenn es <strong>de</strong>nn stimmt, daß alles nichts sei und<br />

be<strong>de</strong>ute, wie behauptet wird, dann bleibt <strong>de</strong>nnoch staunenswert, was dieses Nichts an Weltsubstanz,<br />

an Seelenspannung enthält und immer neu hervorbringt. So gesehen dünkt die Schöpfung dann doch<br />

ein Wun<strong>de</strong>r, unabsehbarer Möglichkeiten, <strong>de</strong>r Zukunft voll, und wi<strong>de</strong>rlegt das Verstummen. Wer nur<br />

<strong>de</strong>n einen Weg weist, weist bewußt o<strong>de</strong>r unbewußt in die Irre, sich und an<strong>de</strong>re. Nur bei<strong>de</strong> zusammen<br />

schließen <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r menschlichen Existenz, dieser von Ewigkeit zu Ewigkeit gefähr<strong>de</strong>ten; nach<br />

bei<strong>de</strong>n Seiten ist er auszuschreiten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Finsternis und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Lichtes, <strong>de</strong>r Verzweiflung und <strong>de</strong>r<br />

Hoffnung, daß er endlich umfange - nicht kryptisch verschlüsselt o<strong>de</strong>r ins Skurrile, ins Gespenstische<br />

überreizt, son<strong>de</strong>rn je<strong>de</strong>m verständlich, klar erkennbar - <strong>de</strong>n Sinn.<br />

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