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Frankfurter Allgemeine Zeitung/ - Politik, Qua, 16 de Maio de <strong>2012</strong><br />
CLIPPING INTERNACIONAL (Verfassungsgericht)<br />
EU Integration durch Solidarität<br />
Kann Wolfgang Schäuble zugleich deutscher<br />
Finanzminister und Vorsitzender der Eurogruppe sein?<br />
Die Grünen meinen, es sei für Deutschland nicht<br />
förderlich, wenn Schäuble bei den schwierigen<br />
Verhandlungen zur Euro-Krise „gleichzeitig den<br />
Kompromiss aushandeln und die deutschen<br />
Interessen vertreten muss“. Ein Identitätsproblem?<br />
Das liegt freilich in der Natur der Sache und galt auch<br />
für den bisherigen Amtsinhaber, den Luxemburger<br />
Jean-Claude Juncker. Aus Sicht der deutschen<br />
Bundesregierung gibt es hier erst recht keinen<br />
Widerspruch: Deutsche Interessen sind demnach mit<br />
europäischen deckungsgleich.Das aktuelle Ziel ist die<br />
zügige gemeinsame Ratifizierung des Fiskalpakts und<br />
des ständigen Euro-Rettungsmechanismus ESM. Der<br />
Parlamentarische Geschäftsführer der<br />
CDU/CSU-Fraktion, Peter Altmaier, wünscht sich mit<br />
Blick auf die Zukunft des Euro „ein klares Zeichen der<br />
Geschlossenheit der deutschen Politik“. Schließlich<br />
habe es sich als gefährlich und problematisch<br />
erwiesen, wichtige europäische Vorhaben mit<br />
nationalen Wunschvorstellungen zu verknüpfen.Die<br />
angemahnte „gemeinsame staatspolitische<br />
Verantwortung“ dient dem Ziel einer europäischen<br />
Fiskalunion, auch wenn natürlich niemand den Begriff<br />
der Haftungsgemeinschaft in den Mund nehmen will.<br />
Wer soll sie vorantreiben, wenn nicht Schäuble mit<br />
seinem Mantra „Wir brauchen mehr Europa“?Auch<br />
Altmaier macht in diesen Tagen unermüdlich Werbung<br />
dafür. Und dafür, dass es zum eingeschlagenen Weg<br />
keine Alternative gebe. „Der Fiskalpakt ist auch mit<br />
Blick auf unsere Glaubwürdigkeit geboten“, sagte er<br />
gerade auf einer vom Berliner Staats- und<br />
Europarechtler Christian Calliess in der Hauptstadt<br />
veranstalteten Tagung zu europäischer Solidarität und<br />
nationaler Identität. Nichts gegen Wachstum, aber das<br />
müsse in den Grenzen des Fiskalpakts stattfinden.<br />
Schließlich hätten die Märkte den Pakt<br />
gutgeheißen.Europa hat sich für das deutsche Modell<br />
entschieden. Und mag auch Italien mit seiner<br />
Inflationspolitik, das wurde in Berlin angedeutet, gar<br />
nicht so schlecht gefahren sein - so setze eine<br />
gemeinsame Währung jedenfalls ähnliche Strukturen<br />
zwischen den Mitgliedstaaten voraus.Henrik Enderlein<br />
von der Hertie School of Governance erinnerte einmal<br />
mehr daran, dass eine Währungsunion ohne politische<br />
Union nicht möglich sei. Nur wenn die Länder sich<br />
sehr ähneln, könne ein solches Experiment gelingen.<br />
Enderlein sieht in der jetzigen Währungsunion „zwei<br />
Blöcke, die sich immer weiter voneinander entfernen“.<br />
Was ist zu tun? Den Euro „in die Tonne zu treten“, wie<br />
der Ökonom formulierte, komme aus politischen<br />
Gründen nicht in Betracht: „Wir können nicht zurück.“<br />
Damit die gemeinsame Währung überleben könne, sei<br />
freilich ein weitreichendes Transfersystem nötig:<br />
„Dagegen ist der ESM ein Klacks.“ Es bleibe nur der<br />
Weg in eine Fiskalunion stehen, die aber - wie<br />
Enderlein sich bemühte hinzuzufügen - kein<br />
Bundesstaat sein müsse.Wie hilfreich dieser Begriff<br />
oder der der Souveränitätsverlagerung auch sein mag:<br />
Der Kritik des Ökonomen, in den jüngsten<br />
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur<br />
Euro-Rettung spiele die wirtschaftliche Diskussion<br />
keine Rolle, widersprach der frühere<br />
Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein: Er sieht<br />
die neue Karlsruher Rechtsprechung in der<br />
Konsequenz des Maastricht-Urteils von<br />
1993.Tatsächlich hatte das Bundesverfassungsgericht<br />
schon damals entschieden, dass es zuvörderst die<br />
Staatsvölker der Mitgliedstaaten seien, „die die<br />
Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben durch die<br />
Europäische Union über die nationalen Parlamente<br />
demokratisch zu legitimieren hätten“. Damit seien der<br />
Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der<br />
Europäischen Gemeinschaften „vom demokratischen<br />
Prinzip her Grenzen gesetzt.“ Dem Deutschen<br />
Bundestag müssten Aufgaben und Befugnisse „von<br />
substantiellem Gewicht verbleiben“.Der Berliner<br />
Europarechtler Ingolf Pernice hob wieder einmal<br />
hervor, das Zeitalter der Kooperation sei am Ende, erst<br />
recht in der Schuldenkrise. Das Ziel laute<br />
Vergemeinschaftung. Pernice rief die Weltkriege als<br />
„constitutional moments“ in Erinnerung. Was auch<br />
immer man daraus für die europäische<br />
Staatsschuldenkrise ableiten kann: Zwar werde der<br />
Staat seine „zentrale Rolle“ behalten, er könne aber<br />
die heutigen Probleme nicht mehr lösen. Dagegen<br />
meinte der Göttinger Staatsrechtslehrer Hans Michael<br />
Heinig, der Nationalstaat sei zwar nicht das Ende der<br />
Geschichte, „aber man sollte der Gegenwart ihr<br />
Gewicht lassen“.Was aber ist mit der europäischen<br />
Solidarität? Ist die Karriere dieses Begriffs nicht<br />
Ausdruck einer europäischen Krise? Da sich die<br />
Empathie der Bürger nicht in dem erhofften Maße<br />
eingestellt habe, so der Göttinger Staatsrechtslehrer<br />
Frank Schorkopf, müsse Europa seinen Mehrwert<br />
vermarkten. Solidarität sei dafür ein tragender<br />
Baustein. „Wir wissen aber auch: Wer Solidarität sagt,<br />
will zwar nicht betrügen, will aber etwas haben.“Dabei<br />
ist „Solidarität“, so unklar die konkreten Folgen sind,<br />
durchaus ein Rechtsbegriff, einer, der auch Eingang in<br />
den Vertrag von Lissabon gefunden hat. Nach dem<br />
Grundgesetz darf Deutschland nur bei der Entwicklung<br />
der Europäischen Union mitwirken, wenn diese etwa<br />
sozialen Grundsätzen verpflichtet ist. Der vielleicht<br />
bedeutendste Entwicklungsschritt der Union in diesem<br />
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