10/05/2012 - Myclipp
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Von Ralf Wiegand, Düsseldorf<br />
Sie ist die klare Gewinnerin: Die Leute mögen sie<br />
eben, diese Hannelore Kraft. Kann sie da nicht auch<br />
Kanzlerin? Kraft will nicht nach Berlin, aber ihr<br />
Wahlkampf könnte für die Bundestagswahl zum Modell<br />
werden.<br />
Als Norbert Röttgen an diesem Sonntagabend vor die<br />
Kameras trat, da wurde es plötzlich ganz still auf der<br />
bereits dampfenden Tanzfläche der Disco 3000 in<br />
Düsseldorf. In dem zum Partei-Party-Areal<br />
umgebauten Club hatten seit Punkt sechs, seit der<br />
ersten Prognose, die Sozialdemokraten gar nicht<br />
aufhören wollen zu grölen und zu johlen. Sie lieferten<br />
den Kamerateams, die sich erwartungsvoll und in sehr<br />
großer Zahl um die Gäste der SPD-Feier herum<br />
aufgebaut hatten, bereitwillig die Bilder, auf die sie<br />
schon den ganzen Nachmittag gehofft hatten. Es hatte<br />
sich ja abgezeichnet, dass Hannelore Kraft, 50, diese<br />
Wahl gewinnen würde - aber gleich so? Also flogen<br />
Arme in die Höhe, fielen Menschen einander um den<br />
Hals, hüpfte und tanzte der ganze Saal. Ja, er<br />
brodelte.<br />
Aber dann, als sie das Gesicht von Norbert Röttgen<br />
auf den Monitoren sahen und seine tonlose Stimme<br />
aus den Lautsprechern tröpfelte, wurden sie plötzlich<br />
ganz leise. Man könnte diesen ersten Moment der<br />
Stille durchaus als Respekt deuten für einen Verlierer,<br />
der - das ist nicht alltäglich im politischen Geschäft -<br />
den allerersten Moment nutzte, der Gegnerin zu<br />
gratulieren und alle Schuld auf sich zu laden und<br />
schließlich den Rücktritt anzukündigen. Der Applaus<br />
der SPD dafür fiel anständig höflich aus - Häme kam<br />
erst später dazu: "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin"<br />
sangen sie Röttgen hinterher, der nun wieder in die<br />
Hauptstadt abreist, in sein Umweltministerium.<br />
Was blieb, war der Jubel um Hannelore Kraft. Von<br />
Montag an wird die Landesmutter erleben, wie längst<br />
abgeräumte Diskussionen wieder angefacht werden,<br />
die nämlich, ob sie nicht zu Höherem berufen sein<br />
könnte. Im Prinzip gibt es ja keine rationale politische<br />
Erklärung dafür, warum die vor dem<br />
Verfassungsgericht mit ihrem Landeshaushalt und<br />
schließlich im Parlament mit einer gewagten<br />
Minderheitsregierung gescheiterte Frau mit einem<br />
solchen Kantersieg belohnt wurde. Wenn es zutrifft,<br />
was Demoskopen schon die ganze Zeit über ermittelt<br />
haben, dann ist es wohl ganz einfach so: Die Leute<br />
mögen sie eben, diese Hannelore Kraft - und das ist<br />
ein hohes Gut für eine Politikerin. Könnte sie da nicht<br />
Berlin, so nah<br />
Süddeutsche Zeitung/ - Politik, Seg, 14 de Maio de <strong>2012</strong><br />
CLIPPING INTERNACIONAL (Verfassungsgericht)<br />
auch Kanzlerin? Sie sei nach diesem Ergebnis<br />
"natürlich eine denkbare Kandidatin", sagte SPD-Chef<br />
Sigmar Gabriel schon am Wahlabend.<br />
Sie wird aber nicht plötzlich wollen. NRW ist ihr Revier,<br />
das hat sie oft genug gesagt, und da kann sie sich jetzt<br />
auch endlich ganz sicher sein. Hannelore Kraft ist<br />
nach 20 Monaten an der Spitze einer wackligen, meist<br />
von den Linken tolerierten Koalition mit den Grünen<br />
nun unumstrittene Herrscherin zwischen Rhein und<br />
Ruhr. "Wir haben alle unsere Ziele erreicht: eine starke<br />
SPD, und es geht weiter mit Rot-Grün in NRW", sagte<br />
Kraft, die schon kurz vor halb sieben aus der<br />
Parteizentrale zur ausgelassenen Siegesfeier<br />
herübergekommen war.<br />
Kraft kommt gut an: sympathischer, bürgernäher,<br />
glaubwürdiger<br />
Knapp zehn Minuten sprach sie, eingerahmt von ihrem<br />
Mann Udo und ihrem Sohn Jan, zur Partei, mit großer<br />
Herzlichkeit. Es ist diese Art, die Hannelore Kraft den<br />
Wahlsieg gebracht hat. In jenen Analysen der<br />
Demoskopen, die Wahlergebnisse ergründen sollen,<br />
dominiert die alte und künftige Ministerpräsidentin alle<br />
Kategorien, in denen die Person bewertet wird.<br />
Sympathischer, bürgernäher, glaubwürdiger ist sie den<br />
Leuten vorgekommen - so grenzte sie sich von ihrem<br />
im Umgang mit dem Wähler unbeholfenen<br />
Konkurrenten Röttgen ab. "Wir haben den Menschen<br />
in den Mittelpunkt gestellt", sagte Kraft selbst.<br />
Diese Kümmerer-SPD könnte zum Modell für das<br />
Bundestagswahljahr 2013 werden. Düsseldorf sende<br />
"ein deutliches Signal" nach Berlin, sagte Kraft; sie<br />
meinte damit einerseits die rot-grüne Option und<br />
andererseits ein bisschen auch ihre Partei. Wie etwa<br />
Olaf Scholz 2011 in Hamburg seinen Sieg errungen<br />
hat, indem er den Leuten aufmerksam zuhörte, wenn<br />
die darüber klagten, dass jede zweite Laterne im<br />
Stadtpark nicht brenne, so hat auch Kraft in<br />
Nordrhein-Westfalen mit den Menschen auf der Straße<br />
über die Themen geredet, die in deren<br />
Lebenswirklichkeit eine Rolle spielen. Dabei ist sie<br />
ihnen auf angenehme Weise so nahe gekommen,<br />
dass ihr das Scheitern der Regierung, das Image als<br />
"Schuldenkönigin" oder der Ruf als "Frau, die sich<br />
nicht traut" nichts anhaben konnten. Während sich<br />
Norbert Röttgen emsig an der Staatsverschuldung<br />
abarbeitete, an Zahlen, die der Frau und dem Mann<br />
auf der Straße längst nichts mehr sagen, nahm<br />
Hannelore Kraft auf den Marktplätzen die Leute in den<br />
Arm, als trüge sie tatsächlich ihrem Wahlkampfslogan<br />
entsprechend "NRW im Herzen".<br />
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