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Ruidos y susurros de las vanguardias - Medialab Prado

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welchem das Wissen um die Gesichtszüge an die Stelle <strong>de</strong>r kindlichen Unschuld<br />

tritt, wird man für das eigene Aussehen immer mehr verantwortlich gemacht. Und<br />

so musste, durch die Pubertät, <strong>de</strong>r Augenblick kommen, in <strong>de</strong>m Richar<strong>de</strong>n die<br />

zynische Mimik seiner Nase sittlich zugerechnet wur<strong>de</strong>. Das geschah bereits<br />

während <strong>de</strong>s Konfirman<strong>de</strong>nunterrichtes bei Pastor Schämel: ,,Pfui Pfujek! Was<br />

machst du mit <strong>de</strong>iner Nase? Übedir gefälligst mal vorm Spiegel ne<br />

hochanständige Nase ein, bevor Du hier zur Religionsstun<strong>de</strong> kommst!" Von<br />

diesem Moment an begannen für Richar<strong>de</strong>n die Qualen <strong>de</strong>s radikalen<br />

Verkanntwer<strong>de</strong>ns. Die Unschuld seiner Nase, ob auch nicht seiner Seele, war<br />

dahin. Aber dahin war auch die Unwissenheit seiner Seele um diese ihre zynische<br />

Maskierung. Das stereotype Erlebnis, <strong>de</strong>m er begegnete, war die Verwechslung<br />

seines Gesichtsausdrucks mit seinem Innern. Als <strong>de</strong>r Jüngling einst in <strong>de</strong>r<br />

Dämmerung durch die Strassen ging und zuffällig ein Mä<strong>de</strong>chen genauer<br />

anblickte, geriet dieses in eine höllische Begeisterung und legte auf ihn Beschlag,<br />

in<strong>de</strong>m es <strong>de</strong>n sich höflich Sträuben<strong>de</strong>n energisch mit sich zog. Auf diese Weise<br />

wur<strong>de</strong> er, gegen seinen Willen, immer wie<strong>de</strong>r verführt; nur die bare<br />

Schamlosigkeit seiner Nase, keineswegs sein eigener WilIe, war daran schuld.<br />

Es ging soweit, dass er zu Frem<strong>de</strong>n kein harmloses Wort mehr sprechen konnte.<br />

Sobald er z. B. einen Schutzmann auch nur ansah, wollte <strong>de</strong>r ihn sofort notieren.<br />

O<strong>de</strong>r er fragte irgendwen nach <strong>de</strong>r Wegrichtung, und <strong>de</strong>r antwortete in listigem<br />

Einverständnis: ,,Gleich hier um die Ecke das mit <strong>de</strong>r roten Laterne sehr<br />

hübsche Dinger drin." Es stimmt aber lei<strong>de</strong>r nicht, dass <strong>de</strong>r Mensch so aussieht,<br />

wie er ist. Ja, Richards Fall beweist gera<strong>de</strong> das Gegenteil; er kann so wer<strong>de</strong>n, wie<br />

er aussieht Allmählich wur<strong>de</strong> Richard es mü<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Nase und <strong>de</strong>r durch sie<br />

fortwährend hervorgerufenen Verkennung Wi<strong>de</strong>rstand zu leisten. In einer Art<br />

trotziger Verbissenheit lebte er sein Wesen in die Rolle hinein, welche ihm von<br />

seiner Nase vorgeschrieben war. Er lebte dieser lü<strong>de</strong>rlichen Nase nach. Und<br />

son<strong>de</strong>rbarerweise fand alle Welt das in <strong>de</strong>r Ordnung. Er stand sich besser mit <strong>de</strong>n<br />

Menschen als vorher, da er ihnen als Heuchler gegolten hatte, weil seine Seele<br />

nichts von seiner Nase zu wissen schien. Er war zum Ludrian abgestempelt; fast<br />

auch für sich selber. Nur noch im geheimsten Winkel seines Innern fühlte er sich<br />

Gefolgschaft losgesprochen, die er seiner Nase zu leisten hatte, wenn er nicht<br />

alle Welt gegen sich aufbringen wollte. Als er jedoch in seinem 37. Lebensjahre<br />

starb, gewann er die Kraft, seinem Antlitz und sogar auch <strong>de</strong>r bis dahin so<br />

wi<strong>de</strong>rspenstigen Nase die hehrsten, majestätischsten Linien zu geben; es<br />

erregte allgemeine Verwun<strong>de</strong>rung und war erklärlich genug: Unschuld liebt so oft<br />

das lü<strong>de</strong>rlichste Inkognito.<br />

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