YEARBOOK OF THE ALAMIRE FOUNDATION
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ZUR GEDRUCKTEN ÜBERLIEFERUNG VON LASSOS BICINIEN<br />
Fassen wir die Beobachtungen zusammen: Lassos Bicinien weisen eine so große<br />
Vielfalt an Lesarten, Überlieferungsvarianten und Fassungen auf, die derart extrem<br />
bei keiner anderen Werkgruppe des Komponisten zu beobachten ist. (Bearbeitungen<br />
finden sich sonst in erster Linie in den Bereichen der Parodie und der Kontrafaktur,<br />
die bei den Bicinien keinerlei Rolle spielen.) Desweiteren ist Lassos Absicht, sowohl<br />
die ‘tyrones’ als auch die fertigen Musiker mit seinen zweistimmigen Sätzen anzusprechen,<br />
eine Besonderheit. Aus der doppelten Funktion der Bicinien resultiert<br />
schließlich ihr Auftreten in drei verschiedenen Typen von Drucken: in ausgesprochenen<br />
Lehrwerken (Gumpelzhaimer), in Biciniensammlungen mit kurzen Lehrtexten<br />
(Lindner, Calvisius) und schließlich in Drucken ohne theoretische Textzusätze.<br />
Dies wiederum korrespondiert mit der Tatsache, daß die Bicinien außer in<br />
Lehrwerken oder dem sämtliche Motetten Lassos enthaltenden Magnum opus<br />
Musicum stets gesondert überliefert sind, die Aufnahme in Drucke mit Motetten verschiedener<br />
Stimmenzahl blieb ihnen verwehrt.<br />
Schon hinsichtlich des Überlieferungsspielraums, der Funktion und der Überlieferungsform<br />
kann also gesagt werden, daß die Bicinien eine Sonderstellung einnehmen,<br />
sie bilden einen eigenen Typus. Dazu kommt bei Lasso die Satztechnik; nie<br />
sonst hat er dermaßen konsequent die Imititation als Kompositionsprinzip eingesetzt,<br />
was sich sicherlich aus dem didaktischen Zweck erklärt. 26 In diesem Kontext stellt<br />
sich die Frage, ob wir es mit einer eigenen Gattung zu tun haben: Die textierten Sätze<br />
lassen sich noch mit einigem Recht der Gattung Motette zuordnen, sie bilden aufgrund<br />
der Funktion etc. eine Art Unterabteilung zu didaktischen Zwecken. Die untextierten<br />
haben mit der Motette nichts zu tun, da hier das einzige Gattungskriterium,<br />
das die Motette von ihren Anfängen bis zur Gegenwart aufweist, eben der Text, nicht<br />
erfüllt wird. Die enge Verwandtschaft zu den textierten Bicinien ergibt sich jedoch<br />
aus dem didaktischen Zweck im Sinne von Singübungen. Die Bezeichnung Ricercar<br />
in italienischen Drucktiteln verweist darüber hinaus auf ihre wenigstens regional zu<br />
beobachtende Verwendung als Instrumentalmusik. In der Tat sind die untextierten<br />
Sätze von der Freude am Spiel mit motivischen Floskeln und ihrer kontrapunktischen<br />
Verarbeitung geprägt, quasi abstrakt und musikalisch völlig aus sich heraus<br />
komponiert, da ja auf Sprache, Wortbetonung, Textgliederung und -ausdeutung etc.<br />
keinerlei Rücksicht genommen werden muß. Nicht von ungefähr greift Calvisius nur<br />
bei den untextierten Sätzen bearbeitend ein; auch die Nivellierung der Notenwerte,<br />
die bei Phalèse 1609 gezeigt wurde, ist nur bei den textlosen Sätzen zu finden.<br />
Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen textierten und untextierten Sätzen läßt sich<br />
also kaum eine eigenständige Gattung Bicinium postulieren, schon deshalb nicht,<br />
weil die textierten Stücke durchaus der Motette zugeordnet werden können. Die oben<br />
26 Vergleiche oben Fußnote 6.<br />
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