YEARBOOK OF THE ALAMIRE FOUNDATION
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188 BERNHOLD SCHMID Beispiel 5: Nummer 10, Takt 1 – Takt 14
ZUR GEDRUCKTEN ÜBERLIEFERUNG VON LASSOS BICINIEN Sowohl quia in pauca als auch fuisti fidelis werden im Original imitiert. Der Text ist mit Ausnahme der Paenultimae syllabisch unterlegt. Die dritte Stimme greift zwar den soggetto zu quia in pauca in geraffter Form auf, nicht hingegen denjenigen zu fuisti fidelis. Die Paenultima wird jeweils zu langen melismatischen Wendungen gedehnt, wobei das erste fidelis des Second Dessus (ab Takt 3) die langen Melismen der dritten Stimme angeregt haben mag. Dem kanonischen Ineinandergreifen der beiden originalen Stimmen widerspricht die Faktur der Zusatzstimme, die die ganze Passage mit ihren Melismen in raschen Notenwerten überspannt und damit im Grund genommen die Konzeption des Originals stört. (Ähnliches ließe sich an Nummer 11 aus Fulgebunt iusti, ab Takt 15 demonstrieren.) Die Beispiele zeigen, daß die dritte Stimme eindeutig nachträglich geschaffen ist, keineswegs der Konzeption der originalen Zweistimmigkeit entspricht, diese stattdessen eher verschleiert oder stört. Entgegen der Behauptung des Verlegers dürfte Lasso schon aufgrund der Faktur als Autor ausscheiden, wofür auch die vergleichsweise häufige Verwendung von Semifusae im Premier Dessus spricht. 17 Die Beliebtheit der Bicinien mag zur Erstellung der dreistimmigen Fassung geführt haben; durch die behauptete Autorschaft Lassos wird quasi eine ‘legitime’ Alternativfassung neben das Original gestellt. Ob zudem didaktisches Interesse als Grund für das Aufstocken zur Dreistimmigkeit zu sehen ist oder nicht, muß offen bleiben. Weder der Titel noch die Mitteilung an den Leser geben entsprechende Hinweise. Auf didaktischen Zweck kann lediglich geschlossen werden, wenn man den le Roy & Ballard-Druck in eine Traditionslinie zu Susatos beiden Büchern mit Chansons a deux ou a trois parties stellen will. Susato hatte 1544 und 1552 damals bekannte Chansons niederländischer und fränzösischer Komponisten arrangiert, die entweder mit zwei oder mit drei Stimmen gesungen werden konnten; die Chansons waren für musikalische Anfänger gedacht, erfüllten also didaktische Aufgaben. 18 Didaktisches Interesse wird kaum der Grund für das Aufstocken zur Dreistimmigkeit gewesen sein. Eher mag die Beliebtheit der Bicinien zur Erstellung einer dreistimmigen Fassung geführt haben; durch die behauptete Autorschaft Lassos wird quasi eine ‘legitime’Alternativfassung neben das Original gestellt. Im Jahr 1625 publizierte Gaspar Vincentz bei Johann Volmar in Würzburg zum gesamten Magnum opus musicum Lassos (ursprünglich München, Nicolaus Heinrich, 1604) einen Generalbaß. Dabei übernimmt er fast durchgehend die Baßstimme, die meist nur sparsam beziffert wird. Gelegentlich, wenn der Tenor unter den Baß geht, 17 BOETTICHER, Bicinien-Ausgabe, S. 68–69 diskutiert ausführlich die Frage der Authentizität des Premier Dessus und ebenfalls zur Auffassung daß Lasso nicht der Autor sein kann. 18 Vergleiche L. F. BERNSTEIN, Art. Chanson, III. Ca. 1520 bis ca. 1600, 2. Die Chanson in den Niederlanden, in L. FINSCHER Hrsg., Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Band 2, Kassel und Stuttgart, 1995, Spalte 591. 189
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