YEARBOOK OF THE ALAMIRE FOUNDATION

ZUR GEDRUCKTEN ÜBERLIEFERUNG VON LASSOS BICINIEN
omnes, die Gumpelzhaimer als von ihm verfertigt bezeichnet, die Lindner demnach
übernommen haben muß; er druckt jedoch nur den ersten Teil ab. 8
Selbstverständlich zeigt sich die didaktische Absicht auch an der Faktur der 24
Bicinien Lassos: Kaum je findet sich bei Lasso Imitation so konsequent durchgeführt
wie in den Bicinien, was sowohl für die textierten als auch für die untextierten Sätze
gilt, auch wenn die Faktur beider Gruppen höchst unterschiedlich ist. Bestimmt bei
den textierten Stücken die Bindung ans Wort (Textausdeutung etc.) den Satz, so prägt
die untextierten unüberhörbar die Freude am Spiel mit motivischen Floskeln:
streckenweise entsteht der Eindruck, als wolle Lasso fast systematisch vorführen, was
mit den gewählten Motiven alles gemacht werden kann; 9 die Möglichkeiten des textierten
wie des untextierten Satzes werden jedenfalls in allen Facetten vorgeführt. Wir
haben jeweils Musterbeispiele für imitatorischen Satz vor uns; vielleicht ist es nicht
zu hoch gegriffen, von einer ‘Kompositionslehre in Beispielen’zu sprechen. Dennoch
sind die Bicinien ihrer urspünglichen Funktion nach sicherlich als Singübungen
gedacht, was auch für die untextierten gilt. Armin Brinzing legt dar, daß die Lehrtexte
des 16. Jahrhunderts außer “Beispiele[n] für das im Text Erläuterte”, die meist aus
bekannten Kompositionen stammen, 10 auch “Übungskompositionen, die ausdrücklich
als praktische exercitia gekennzeichnet sind”, enthalten. Die Beispiele und
Kompositionen sind meist textlos, gesungen wurde auf Solmisationssilben. 11 In
diesem Sinn lassen sich Lassos Bicinien als eine Sammlung von ‘exeritia’ verstehen.
Vokale Ausführung der untextierten Bicinien schreibt noch Giuseppe Paolucci im Jahr
1765 vor. Er übernimmt die Nummer 23 aus Lassos Sammlung in seine Arte practica
di contrappunto dimostrata con esempj di varj autori […] und verlangt, das Stück
8 Die Wahrscheinlichkeit, daß Lindner von Gumpelzhaimer abhängig ist, wird gestützt durch die
Datierungen der Vorreden auf November 1590 (Gumpelzhaimer) und Januar 1591 (Lindner). Identisch
findet sich ferner bei beiden ein jeweils fälschlich Lasso zugeschriebenes Bicinium Dirige nos, das
gegenüber der Originalquelle (Georg Rhaus Bicinia gallica, latina, germanica, Wittenberg, 1545, RISM
15456 , Nummer 42) um eine Quinte nach oben transponiert ist, wohl um es der Stimmhöhe von Knaben
anzupassen. (Dieses Bicinium hat auch Maternus Beringer zusammen mit einer Anzahl weiterer Sätze
von Gumpelzhaimer übernommen, wie RUHNKE, Beringer, S. 93 berichtet; Ruhnke hat indessen die
wahre Identität des Stücks nicht erkannt. Gumpelzhaimer selbst hatte sich über Beringers zahlreiche
Übernahmen beklagt, vergleiche RUHNKE, Beringer, S. 89.) — Ob Calvisius in einem Abhängigkeitsverhältnis
zu älteren Biciniendrucken steht, wurde für den vorliegenden Beitrag nicht untersucht. —
Zu späteren Biciniensammlungen vergleiche W. BOETTICHER, Orlando di Lasso und seine Zeit 1532–
1594. Repertoire-Untersuchungen zur Musik der Spätrenaissance, Band I: Monographie, Kassel, 1958,
S. 464, Fußnote 20. Zur Rezeption von Lassos Bicinien BOETTICHER, Lasso, S. 5–6.
9 Vergleiche dazu das Notenbeispiel als Übersicht über die Veränderungen des Soggettos im Bicinium
Nummer 23 bei H. LEUCHTMANN, Neues in Altem. Lasso als Initiator einer Instrumentalmusik in
B. EDELMANN und M. H. SCHMID Hrsg., Altes im Neuen. Festschrift Theodor Göllner zum 65.
Geburtstag, (Münchner Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, 51), Tutzing, 1995, S. 140–141.
10 Vergleiche die obigen Ausführungen zu zweistimmigen Passagen aus Lassos Werken bei Lindner oder
Calvisius.
11 BRINZING, Studien, Band I, S. 36–37 (Zitate nach S. 36).
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