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Funnel 40/2, Inhalt - Fulbright-Kommission

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Klaus Liepelt<br />

Vom Osten zum Mittleren Westen<br />

Aus meiner Bitterfelder Abiturientenperspektive<br />

von 1949 war die Freie Universität<br />

in West-Berlin erstrebenswerter Ankerplatz<br />

für jemanden, der dem Osten den<br />

Rücken kehren wollte, um von Denkgeboten<br />

unbeschwert studieren zu können.<br />

Dort lernte ich bei den Historikern, im<br />

professionellem Umgang mit Texten, Fakten<br />

und Archiven die Dinge so zu sehen, wie<br />

sie wirklich waren.<br />

Ein <strong>Fulbright</strong>-Stipendium vermittelte mir<br />

eine Kunst, die man damals in Deutschland<br />

noch nicht erlernen konnte: den systematischen<br />

Umgang mit der Gegenwart. Wie man<br />

Sachverhalte formuliert, damit sie überprüfbar<br />

werden, wie man dazu Daten erhebt, wie man<br />

aus Daten Informationen macht, und wie man<br />

Informationen Bedeutung abgewinnt. Als Studienort<br />

hatte man für mich Ann Arbor, das<br />

Mekka der empirischen Sozialforschung ausgesucht.<br />

Damals wusste ich noch nicht, dass<br />

ausgerechnet im Mittleren Westen Amerikas<br />

eine das ganze weitere Leben bestimmende<br />

Erfahrung auf mich wartete. Ich konnte das<br />

Studienjahr mit dem MA abschließen – und mit<br />

der Einladung, in Ann Arbor zu bleiben oder<br />

jederzeit dorthin zurückzukehren. Letzteres war<br />

dann häufig der Fall.<br />

Die Analyse von Wahlen, politischen<br />

Parteien und Demokratie waren in den Mittelpunkt<br />

meiner wissenschaftlichen Aktivität<br />

gerückt. Meine wichtigsten Lehrer – Samuel<br />

Eldersveld, Morris Janowitz, Dwaine Marvick<br />

– waren Freunde und Arbeitspartner auf<br />

Lebenszeit geworden.<br />

Nach der Rückkehr aus Amerika fand ich<br />

mich mit Wolfgang Hartenstein und Günter<br />

Schubert, Studienkollegen aus der Berliner<br />

Zeit, zusammen, die ähnliche Studienerfah-<br />

rungen in Amerika gemacht hatten. Wir<br />

organisierten eine empirische Studie der<br />

bevorstehenden Bundestagswahl 1957, um<br />

die Wählerstrukturen kennenzulernen und<br />

die Bedingungen des demokratischen Wettbewerbs<br />

zu überprüfen. Es war die erste Untersuchung<br />

dieser Art in Deutschland. Aus<br />

diesem Projekt ist dann 1959 das Bad Godesberger<br />

Institut für angewandte Sozialwissenschaft<br />

entstanden, das unter der Kurzbezeichnung<br />

„infas“ bekannt wurde.<br />

Mit diesem Institut haben wir das öffentliche<br />

Leben in Bund, Ländern und Gemeinden<br />

über Jahrzehnte fachlich begleitet. Wir<br />

haben Sozialforschung betrieben, Wahlanalysen<br />

vorgenommen, TV-Einschaltquoten gemessen,<br />

Bevölkerungsbewegungen, Verkehrsströme,<br />

Energienutzung verfolgt, kleinräumige<br />

Märkte beobachtet und in Bereichen<br />

gearbeitet, die man heute e-Government<br />

nennt. Dabei haben wir mit vielen Kollegen<br />

aus unserer amerikanischen Zeit Kontakt<br />

gehalten, und neue sind hinzugekommen,<br />

auch feste Mitarbeiter für lange Jahre.<br />

Seit 1965 hat infas Fernsehen und Hörfunk<br />

der ARD mit Hochrechnungen und<br />

Analysen der Wahlergebnisse versorgt, die es<br />

den Redaktionen ermöglichten, ihr Publikum<br />

bald nach Schließung der Wahllokale präzise<br />

zu informieren. Im Laufe der Zeit haben wir<br />

über 130 Wahlen in Bund, Ländern und<br />

Gemeinden berichtet. Mehr als 30 Jahre lang.<br />

Und das in einem Prozess kontinuierlicher<br />

Innovation, um mit der rasanten Entwicklung<br />

der Informationstechnologie Schritt zu halten.<br />

Nach dem Fall der Mauer wurden Wahlen<br />

auch für meine alte Heimat im Osten berechenbar.<br />

Mit einer Punktlandung bei den<br />

ersten freien Volkskammerwahlen von 1990<br />

ALUMNI PROFILES 25<br />

konnten wir zeigen, dass die Gesetze der<br />

Statistik, wenn man sie befolgt, auch jenseits<br />

des Eisernen Vorhangs gelten.<br />

Ob Wahlen oder andere Großprojekte,<br />

die infas im Laufe der Jahre durchgeführt hat,<br />

immer wieder haben wir gern Kooperation<br />

und Hilfe von draußen in Anspruch genommen.<br />

Die Zahl der Besucher war groß,<br />

und amerikanische Freunde nutzten gern die<br />

Gelegenheit ihrer akademischen Sommerpause,<br />

um bei infas Infrastruktur und Daten<br />

für eigene Forschungsarbeiten in Anspruch<br />

zu nehmen. Aber auch in die Gegenrichtung<br />

gab es regen Reiseverkehr.<br />

Noch eines verdanken wir <strong>Fulbright</strong>: Den<br />

Mut, unseren eigenen Weg zu gehen, die<br />

Auseinandersetzung mit den Ergebnissen<br />

unserer Wissenschaft selbst in die Hand zu<br />

nehmen, anderen zu helfen, ihre Ziele zu<br />

realisieren, und dabei stets innovativ zu<br />

bleiben, hätten wir ohne die Erfahrungen aus<br />

der neuen Welt wohl nicht aufgebracht.<br />

Das gilt auch fürs Rentenalter. Derzeit<br />

entwickele ich für den neuen Medien-Fachbereich<br />

der Hochschule Mittweida einen MA-<br />

Studiengang „Information and Communication<br />

Science“, in den ein halbes Jahrhundert<br />

praktischer Erfahrung mit dem Fachgebiet<br />

einfließen sollen, das mich seit Ann<br />

Arbor nicht mehr losgelassen hat. Ich denke,<br />

es war gut, den Bitterfelder Weg nach Midwest<br />

zu gehen. Meine Kulturrevolution jedenfalls<br />

hat nicht auf einer Hängematte geendet.<br />

THE FUNNEL • VOLUME <strong>40</strong> • NUMBER 2 • SUMMER 2004

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