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AUSGABE <strong>23</strong> 31. Mai <strong>2024</strong> € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2024</strong> FOCUS STYLE /// INFOGRAPHIC<br />

Der Rechtsruck<br />

in Europa<br />

Die Schicksalswahl<br />

und die Zukunft<br />

des Kontinents<br />

Können<br />

Drogen heilen?<br />

Die Renaissance<br />

von LSD, Ecstasy<br />

und Zauberpilzen<br />

DIE FREIZEITREPUBLIK<br />

Wie faul sind die Deutschen wirklich?


JAN FLEISCHHAUER<br />

Der schwarze Kanal<br />

Die Woche der<br />

Doppelmoral<br />

Der Kanzler verurteilt in scharfen Worten die<br />

„Ausländer raus“-Partygänger von Sylt. Bei<br />

Studenten, die „Juden raus“ verlangen, bleibt er<br />

stumm. Weil er das eine schlimm findet – und<br />

das andere irgendwie nicht so schlimm?<br />

»<br />

Wenn Carsten Maschmeyer,<br />

Luisa Neubauer<br />

und Olaf Scholz im<br />

Entsetzen vereint sind,<br />

dann stehen die<br />

braunen Horden kurz<br />

vor der Erstürmung<br />

des Reichstags<br />

«<br />

Ich bin mit der Familie nach Mallorca gefahren.<br />

Gottlob nicht nach Sylt. Was ich von Sylt halte,<br />

habe ich in einer früheren Kolumne festgehalten:<br />

zu neureich, zu angestrengt, zu aufgespritzt.<br />

Wie eine 50-Jährige, die verzweifelt versucht,<br />

als 30-Jährige durchzugehen.<br />

Jetzt kommt noch die problematische politische<br />

Haltung dazu. Ich will nicht naseweis klingen: Aber wer<br />

sich seinem Urlaubsziel über den Hindenburgdamm nähert,<br />

fordert das Schicksal heraus.<br />

Auch Mallorca ist keine Antifa-Bastion. Wer will schon die<br />

Hand dafür ins Feuer legen, dass sich unter dem Volk, das<br />

sich am Ballermann versammelt, nicht Fans des neurechten<br />

Partykrachers „L’amour toujours“ finden? Aber sie tragen<br />

immerhin keine Kaschmirpullis.<br />

Dass der Fremdenfeind aus den sogenannten besseren<br />

Vierteln stammt, ist offenbar der eigentliche<br />

Skandal. Wenn er auf dem Schützenfest<br />

„Ausländer raus“ grölt, wird<br />

das unter Alltagsfaschismus abgebucht.<br />

Aber im Pony auf Sylt, wo der Eintritt<br />

150 Euro kostet und dann ist noch nicht<br />

mal ein Getränk dabei? Shocking!<br />

Ich habe ein Video gesehen, in dem<br />

eine Fernsehmoderatorin in Tränen<br />

aufgelöst bekannte, dass das Partyvideo<br />

aus Sylt das schlimmste Video<br />

sei, das sie je gesehen habe. Grundgütiger,<br />

dachte ich – ich wünschte,<br />

ich könnte das gleiche von mir sagen.<br />

Die Expertin für intersektionale<br />

Mobilität Katja Diehl filmte sich dabei,<br />

wie sie mit steinernem Gesicht erklärte,<br />

dass der Faschismus die Eliten erreicht<br />

habe. Es sei gut, dass die Bilder aus<br />

Sylt um die Welt gingen, weil sie zeigten,<br />

dass Menschen, die rechtsextrem seien, aussähen wie<br />

Menschen von nebenan. Was haben diese Leute gedacht:<br />

Dass Nazis immer Adiletten tragen?<br />

In der Ferne gewinnt man Abstand. Wenn man mit drei<br />

kleinen Kindern zwischen Strand und Ferienhaus pendelt,<br />

erreichen einen lediglich die Nachrichten, die als „Breaking<br />

News“ durchgehen. Das ist wie auf dem Sonnendeck eines<br />

Ozeandampfers, da sieht man von oben auch nur noch die<br />

großen Schaumkronen.<br />

Was war, von Mallorca aus betrachtet, in Deutschland<br />

wichtig und was eher nicht?<br />

Was eher nicht so wichtig war: Die Bombardierung eines<br />

Einkaufszentrums in Charkiw, mit dem der russische Terror<br />

endgültig allgegenwärtig geworden ist. Auch nicht so wichtig:<br />

Die Fotos der Vertretung des UN-Flüchtlingshilfswerks<br />

in Dschabalia, in deren Keller man die Leichen von vier israelischen<br />

Geiseln fand.<br />

„Gebaut mit Fördergeldern der Bundesrepublik Deutschland“,<br />

steht auf einem Schild vor dem Haus. Das ist eine<br />

ziemlich brutale Widerlegung der treuherzigen Versicherung<br />

unserer Entwicklungshilfeministerin, dass kein deutsches<br />

Steuergeld in die Terrorfinanzierung fließe. Aber<br />

Schwamm drüber. Wen interessiert schon, ob die Bundesregierung<br />

eine der Finanziers der Hamas ist, wenn sie in<br />

Sylt die Sau raus lassen?<br />

Nicht mal die Ausschreitungen an der Humboldt-Uni<br />

haben es in die Abendnachrichten geschafft. Ich hätte<br />

gedacht, Studenten, die durchgestrichene Schweinsköpfe<br />

an die Wände schmieren – das wäre tagesschauwürdig.<br />

Wann war das letzte Mal, dass an deutschen Universitäten<br />

die sogenannte Judensau gezeigt wurde? Ich würde auf 1933<br />

tippen. Aber gegen die Nazi-Sause<br />

im Pony: keine Chance. Dass ein Dutzend<br />

BWL- und Jura-Studis fröhlich<br />

„Deutschland den Deutschen“ sangen,<br />

also gewissermaßen die teutonische<br />

Variante von „From the River to the<br />

Sea“, stellt alles in den Schatten.<br />

Zu Worte gemeldet haben sich hier,<br />

in absteigender Reihenfolge: Der Bundespräsident,<br />

der Bundeskanzler, der<br />

Vizekanzler, die Bundesinnenministerin,<br />

der Bundesjustizminister, der<br />

Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein,<br />

die stellvertretende Ministerpräsidentin<br />

des Landes Schleswig-<br />

Holstein, die Parteivorsitzende der<br />

Grünen, der Parteivorsitzende der<br />

CDU, der Generalsekretär der FDP.<br />

Habe ich jemanden vergessen? Ach<br />

ja, auch Carsten Maschmeyer hat sei-<br />

Fo t o : M a r k u s C . H u r e k f ü r F O C U S - M a g a z i n<br />

6 FOCUS <strong>23</strong>/<strong>2024</strong>


KOLUMNE<br />

Was war wichtig und was eher nicht?<br />

Illustration von Sören Kunz<br />

ner Empörung Ausdruck verliehen („widerlich“), gefolgt<br />

von Luisa Neubauer, die die Gelegenheit nutzte, den Wählern<br />

noch einmal einzuschärfen, am 9. Juni das Kreuz ja an<br />

der richtigen Stelle zu machen. Wenn Carsten Maschmeyer,<br />

Luisa Neubauer und Olaf Scholz im Entsetzen vereint sind,<br />

dann stehen die braunen Horden kurz vor der Erstürmung<br />

des Reichstags, sollte man meinen. Es waren dann aber nur<br />

ein paar verzogene Kinder mit zu wenig Grips und zu viel<br />

Geld von Papa.<br />

Man kann die Uhr danach stellen: Jemand<br />

vergleicht zwei Dinge, in dem Fall die Aufregung<br />

über die „Ausländer raus“-Sause<br />

auf Sylt und die „Juden Raus“-Gesänge an<br />

deutschen Hochschulen und ein anderer ruft: „Whataboutism!“.<br />

Das ist das englische Wort für den Versuch, von<br />

einer Entgleisung abzulenken, indem man auf eine andere<br />

Entgleisung verweist.<br />

Aber nicht jeder Vergleich dient der Ablenkung. Manchmal<br />

geht es darum, Zusammenhänge zu sehen und zu<br />

benennen. Was jemand für wichtig erachtet und was eher<br />

nicht, sagt einiges über seinen moralischen Kompass aus.<br />

Ich glaube zum Beispiel, dass Olaf Scholz mehr und mehr<br />

neben sich steht. Wäre er Herr seiner selbst, würde er davon<br />

absehen, in einer Woche, in der es an allen Ecken und<br />

Enden brennt, seinen Twitter-Account dafür zu nutzen, ein<br />

paar aperolselige Sylt-Krakeeler in den Senkel zu stellen.<br />

Sind die zwölf Sekunden aus der Sylter Außengastronomie<br />

befremdlich? Sogar mehr als das. Ist es ein Thema für einen<br />

Kanzler? Das will gut überlegt sein.<br />

Insbesondere für einen Regierungschef gilt der Satz von<br />

Paul Watzlawick, wonach man nicht nicht kommunizieren<br />

könne. Wenn er zu einem vergleichsweise unbedeutenden<br />

Vorfall starke Worte des Abscheus findet („eklig“), im Fall<br />

antisemitischer Ausschreitungen aber schweigt, muss man<br />

annehmen, dass er letztere halt nicht so eklig findet.<br />

Für jeden, der sich als Ausländer fühlt, ist das Sylt-Video<br />

ein Schlag in die Magengrube. Wer ohnehin das Gefühl<br />

hat, kritisch beäugt zu werden, den bestätigt es in seinen<br />

schlimmsten Befürchtungen. Insofern mag es tröstlich sein,<br />

wenn die Spitzen der Gesellschaft ihre Empörung äußern.<br />

Nur, haben jüdische Studenten nicht die gleiche Form der<br />

Solidarität verdient? Und was ist mit den Opfern von Inländerfeindlichkeit?<br />

Für Doppelmoral haben die Bürger einen feinen Sinn.<br />

Wenn sie etwas noch weniger ausstehen können als gespielte<br />

Empörung, dann, wenn diese selektiv erfolgt. Auch<br />

so verliert man als Politiker Vertrauen: Indem man sich<br />

schrecklich aufregt, wenn sich alle aufregen, aber schweigt,<br />

sobald man den Eindruck hat, ein deutliches Wort könnte<br />

vielleicht ein paar Stimmen kosten.<br />

Die Gesichtserkennungssoftware ist inzwischen<br />

so weit fortgeschritten, dass binnen 24 Stunden<br />

nahezu jeder identifiziert ist, der sich daneben<br />

benommen hat. Dass dieselben Leute, die normalerweise<br />

schon bei einer Videoüberwachung im öffentlichen<br />

Raum einen Herzkasper kriegen, die Sofort-Identifikation<br />

der Missetäter feiern – geschenkt. Schwerer wiegt schon,<br />

wenn auch in Medien, die sich auf ihre Seriosität viel einbilden,<br />

nach den Namen und Adressen gefragt wird, gleichzeitig<br />

aber Riesenempörung über den „Fahndungsjournalismus“<br />

der „Bild“ herrscht, wenn diese die Namen der<br />

ärgsten Hamas-Fans nennt. Die Betreiber des Oktoberfests<br />

haben vorsorglich ein Aufführungsverbot für den Partysong<br />

„L’amour tojours“ erteilt. Das Verbot gilt für alle Varianten,<br />

auch die Ursprungsversion, die vom Glück der Liebe handelt.<br />

Man wird sehen, wie weit sie damit kommen. Die Übertabuisierung<br />

hat mitunter unerwünschte Folgen. Je stärker<br />

der Bann, desto größer der Drang, dagegen zu verstoßen.<br />

Am Montag führte „L’amour tojours (small Mix)“ die<br />

iTunes-Charts an. Gefolgt von „Wunder“ von Ayliva und<br />

Apache 207 und „L’amour toujours“ in der Originalversion<br />

von Gigi D’Agostino. Schon beim Aufführungsverbot<br />

für „Layla“ hat man sehen können, wie sich die Aufführungspraxis<br />

vom Liedtext löst. Irgendwann ist der Gesang<br />

Protestgeste gegen eine Politik, deren Verbote als hohl<br />

empfunden werden. 7<br />

Jan <strong>Fleischhauer</strong> ist Kolumnist und Buchautor. Er sieht sich als Stimme<br />

der Vernunft - was links der Mitte naturgemäß Protest hervorruft<br />

FOCUS <strong>23</strong>/<strong>2024</strong><br />

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