atw - International Journal for Nuclear Power | 03.2024

Ever since its first issue in 1956, the atw – International Journal for Nuclear Power has been a publisher of specialist articles, background reports, interviews and news about developments and trends from all important sectors of nuclear energy, nuclear technology and the energy industry. Internationally current and competent, the professional journal atw is a valuable source of information. www.nucmag.com Ever since its first issue in 1956, the atw – International Journal for Nuclear Power has been a publisher of specialist articles, background reports, interviews and news about developments and trends from all important sectors of nuclear energy, nuclear technology and the energy industry. Internationally current and competent, the professional journal atw is a valuable source of information.

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02.05.2024 Views

10 Feature: Environment and Safety das Produkt, im Zentrum steht [Krütli et al. 2012]. Es geht nur mit Vertrauen der Akteure in den Prozess und zueinander. Dies braucht Ressourcen: Strukturen, kompetente Institutionen, Personal, Diskurs, Zeit, Geld …. Viele Personen sind beteiligt. Das Personal der Schlüssel institutionen Vorhabenträger, Behörden, Begleitgremien braucht, wie eigentlich jedermann und jedefrau, ⁃ eine entwickelte (Gesprächs-)Kultur, ⁃ Achtung vor anderen Menschen und Meinungen, ⁃ die Größe, Fehler zugeben zu können, ⁃ Durchsetzungsvermögen und Flexibilität gleichzeitig, ⁃ die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und ⁃ die Fähigkeit zur Empathie. Misstrauende Bürgerinnen und Bürger Dies gilt umso mehr, als das deutsche Standortauswahlverfahren gemäß Gesetz partizipativ, wissenschaftsbasiert, transparent, selbsthinterfragend und lernend zu sein hat [StandAG 2017]. Eine solche Vorgabe ist nötig, da die lange Geschichte der End lagerung, gerade in Deutschland, aber lange Zeit auch in der Schweiz [Hasler-Flüeler 2022], im Grunde bisher eine Misserfolgsgeschichte gewesen ist, die keine Rückschläge mehr verträgt (Abbildung 2). Ein Befreiungsschlag war, dass die Vorhaben trägerin Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) zu Beginn des neuen Suchverfahrens Gorleben aus dem Rennen genommen hat [BGE 2020a]. Auch wenn die Begründung angefochten werden kann, es blieb ihr nichts Anderes übrig; zu lange war ohne Sicherheitsanalysen darauf beharrt und gleichzeitig dagegen gekämpft worden [Tiggemann 2019]. Weder abzusehende Altlasten [vgl. Asse: Ilg et al. 2017, Bundestag 2020, Flüeler 2005b] noch Dauerpro visorien in den Zwischen lagern können „Lösungen“ sein. Nur ein fachlicher und gesellschaftlicher Diskurs in einer systematischen Standortsuche und -findung hat eine Chance auf Erfolg. „Gorleben ist verbrannte Erde“ Umfassende Beteiligung und Interessenberücksichtigung, gerade in der Konzeptphase, sind zentral, da nur so tragfähige Entscheide über Probleme von großer Tragweite langfristig legitimiert werden können. Wynne hat zudem darauf hingewiesen, dass Information nur für jene Informationscharakter hat, die ihr zugrundeliegende Annahmen teilen, ansonsten wird sie als Artefakt (ab)gewertet [Wynne 1989]. Ein dynamisches, gegenseitiges Lernen der Akteure nimmt zwar Zeit in Anspruch, kann aber auf die Dauer effektiver (zielgerichteter) und effizienter (mit weniger Reibungs verlusten verbunden) sein. Da offensichtlich nicht alle Ziele aller Akteurs gruppen erreicht werden können, müssen sie nach ihrer jeweiligen Verantwortung ausgehandelt werden [ Linnerooth-Bayer & Fitzgerald 1984]. Es wäre vermessen und naiv anzunehmen, dass Akteure durch diese Debatte ihr Wertsystem ändern, jedenfalls nicht im Kern. Doch ist es vorstellbar, dass sie es in seinen von Sabatier so genannten „Sekundär aspekten“ Erkundungsbergwerk Gorleben Abb. 2. Dystopia oder Negativziel: Fixer und intransparenter (Standort-)Entscheid provoziert harschen Widerstand auf der Straße. *SZ 2010 Quellen (von oben nach unten): Focke Strangmann DDP, Philipp Schulze DPA (2) modifizieren könnten [Sabatier 1987], und zwar in so weit, als sie ein gemeinsames Interesse identifizieren oder, wie es Carter 1987 noch unspezifisch nannte, „ gemeinsamen Boden“ finden [Carter 1987]. Die erwähnte Definition der „sozialen Robustheit“ nach Rip verdeutlicht, dass „Prozess“ nicht „nur“ eine Frage der Beteiligung ist, sondern dass hier ganz verschiedene Aspekte aus verschiedenen Perspektiven integriert bzw. problematisiert werden. Die Konzentration auf „gemeinsamen Boden“ (und nicht auf Konsens) verdeutlicht, dass nicht so viele Ausgabe 3 › Mai

Feature: Environment and Safety 11 Stimmen, sondern so viele Perspektiven wie möglich gesucht werden, um alle relevanten Facetten der Dimensionen einzuschließen: ethisch, technisch, ökologisch, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich, räumlich und zeitlich. Dies ist keine Absage an Repräsentativität oder gar breite Beteiligung, sondern ein Aufruf zu einem inklusiven deliberativen Diskurs. Mit „Deliberation“ soll eine genügende Übereinstimmung in zentralen Themen durch Beratung und Überzeugung mittels sachlicher Argumente erreicht werden [Habermas 1981]: zumindest Konsent (niemand/ wenige sagen nein) statt Konsens (alle sagen ja) zum Standort. Im Hinblick auf diese Multidimensionalität kann dies ein Weg sein, dass die Gesellschaft einen nachhaltigen Abschluss („closure“) des Problems findet [Bijker 1995]. Zumindest lassen sich so jeweilige Tunnelperspektiven jeder Akteursgruppe etwas und gegenseitig erhellen. Mithilfe von Kriterien aus der Entscheidungsforschung und umfassenden Gouvernanzkonzepten lässt sich „ gemeinsamer Boden“ in einem schrittweisen Ver fahren und auf drei Diskursebenen finden [Flüeler 2023]: Wenn die drei Diskursebenen zur Gewinnung „ gemeinsamen Bodens“ in ausgewählten natio na len Entsorgungsprogrammen angewandt werden, lassen sich vor dem Hintergrund der jeweiligen Gesetzgebung und von Technik- sowie empirischen Wahrnehmungsstudien einige Aussagen machen [Flüeler 2004b, 2006b, 2009, 2014a,d, 2016, 2023] (Tabelle 1): 1. Problem(an)erkennung: Es besteht Übereinkunft, dass radioaktive Abfälle bestehen und „entsorgt“ werden müssen, unabhängig vom Ort ihrer Erzeugung. 2. Konsens zu Hauptzielen: „Lösungen“ im Inland werden bevorzugt. Der Grad von Schutz bzw. Eingriffsmöglichkeiten ist nicht überall der gleiche (keine Rückholung in den USA, 500 Jahre Rückholbarkeit in Deutschland, Rückholbarkeit solange Pilotlager offen in der Schweiz). Doch vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsziel beziehung „Schutz vs. Kontrolle“ bzw. „Prozess-“ vs. „Zielorientierung“ ist es mittlerweile klar, dass das Abfallsystem dynamisch, anpassungs fähig, ja experimentell in seinen Instrumenten sein muss [Cook 1990], aber nicht in seinem „End“-Ziel, dem passiven Schutz der heutigen und künftigen Menschen und Rahmen Entscheidungsforschung (Diskursebenen) Gouvernanz Schritt 1 Diskutieren Sich informieren Informationssammlung Problemerkennung Problemidentifizierung Problemformulierung Integrierte Wissenserzeugung Diagnose Schritt 2 Entscheiden Entscheiden Konsens zu Hauptzielen Ziele und Prioritäten Optionen Auslegung (Konsent) Umgang mit Unsicherheiten und verschiedenen Wissensarten Resilienz/Anpassungsfähigkeit: Umkehrbarkeit, Rückholbarkeit, Kontrolle, Pilotlager (Konsent) Konfliktmanagement „Spielregeln“ Starkes Netzwerk und flexible Strukturen Verfahrenstrategie Regeln, Verfahren: Gesetzgebung, Richtlinien Handlungen festlegen: Programm, Ressourcen Schritt 3 Organisieren Kohärentes Handeln Ausführen Resilienz: (regionaler) Sinn für Problemaneignung und Sorge (Schritt 4 Überprüfung/Validierung Überwachung Ressourcen zur Umsetzung: anpassungsfähige Institutionen Evaluieren) Vergleich von Ist- und Zielzustand Langzeitauswirkungen der Maßnahmen Überprüfung der interaktiven strategischen Entwicklung Vol. 69 (2024)

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das Produkt, im Zentrum steht [Krütli et al. 2012]. Es geht<br />

nur mit Vertrauen der Akteure in den Prozess und<br />

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Institutionen, Personal, Diskurs, Zeit, Geld ….<br />

Viele Personen sind beteiligt. Das Personal der<br />

Schlüssel institutionen Vorhabenträger, Behörden,<br />

Begleitgremien braucht, wie eigentlich jedermann<br />

und jedefrau,<br />

⁃ eine entwickelte (Gesprächs-)Kultur,<br />

⁃ Achtung vor anderen Menschen und Meinungen,<br />

⁃ die Größe, Fehler zugeben zu können,<br />

⁃ Durchsetzungsvermögen und Flexibilität<br />

gleichzeitig,<br />

⁃ die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und<br />

⁃ die Fähigkeit zur Empathie.<br />

Misstrauende Bürgerinnen und Bürger<br />

Dies gilt umso mehr, als das deutsche Standortauswahlverfahren<br />

gemäß Gesetz partizipativ, wissenschaftsbasiert,<br />

transparent, selbsthinterfragend und<br />

lernend zu sein hat [StandAG 2017]. Eine solche Vorgabe<br />

ist nötig, da die lange Geschichte der End lagerung,<br />

gerade in Deutschland, aber lange Zeit auch in der<br />

Schweiz [Hasler-Flüeler 2022], im Grunde bisher eine<br />

Misserfolgsgeschichte gewesen ist, die keine Rückschläge<br />

mehr verträgt (Abbildung 2). Ein Befreiungsschlag<br />

war, dass die Vorhaben trägerin Bundesgesellschaft<br />

für Endlagerung (BGE) zu Beginn des neuen<br />

Suchverfahrens Gorleben aus dem Rennen genommen<br />

hat [BGE 2020a]. Auch wenn die Begründung angefochten<br />

werden kann, es blieb ihr nichts Anderes übrig;<br />

zu lange war ohne Sicherheitsanalysen darauf beharrt<br />

und gleichzeitig dagegen gekämpft worden [Tiggemann<br />

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2017, Bundestag 2020, Flüeler 2005b] noch Dauerpro visorien<br />

in den Zwischen lagern können „Lösungen“ sein. Nur<br />

ein fachlicher und gesellschaftlicher Diskurs in einer<br />

systematischen Standortsuche und -findung hat eine<br />

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Umfassende Beteiligung und Interessenberücksichtigung,<br />

gerade in der Konzeptphase, sind zentral, da<br />

nur so tragfähige Entscheide über Probleme von großer<br />

Tragweite langfristig legitimiert werden können.<br />

Wynne hat zudem darauf hingewiesen, dass In<strong>for</strong>mation<br />

nur für jene In<strong>for</strong>mationscharakter hat, die<br />

ihr zugrundeliegende Annahmen teilen, ansonsten<br />

wird sie als Artefakt (ab)gewertet [Wynne 1989]. Ein<br />

dynamisches, gegenseitiges Lernen der Akteure nimmt<br />

zwar Zeit in Anspruch, kann aber auf die Dauer effektiver<br />

(zielgerichteter) und effizienter (mit weniger<br />

Reibungs verlusten verbunden) sein.<br />

Da offensichtlich nicht alle Ziele aller Akteurs gruppen<br />

erreicht werden können, müssen sie nach ihrer<br />

jeweiligen Verantwortung ausgehandelt werden<br />

[ Linnerooth-Bayer & Fitzgerald 1984]. Es wäre vermessen<br />

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Debatte ihr Wertsystem ändern, jedenfalls nicht<br />

im Kern. Doch ist es vorstellbar, dass sie es in<br />

seinen von Sabatier so genannten „Sekundär aspekten“<br />

Erkundungsbergwerk Gorleben<br />

Abb. 2.<br />

Dystopia oder Negativziel: Fixer und intransparenter<br />

(Standort-)Entscheid provoziert harschen Widerstand<br />

auf der Straße. *SZ 2010<br />

Quellen (von oben nach unten):<br />

Focke Strangmann DDP, Philipp Schulze DPA (2)<br />

modifizieren könnten [Sabatier 1987], und zwar in so<br />

weit, als sie ein gemeinsames Interesse identifizieren<br />

oder, wie es Carter 1987 noch unspezifisch nannte,<br />

„ gemeinsamen Boden“ finden [Carter 1987]. Die erwähnte<br />

Definition der „sozialen Robustheit“ nach Rip<br />

verdeutlicht, dass „Prozess“ nicht „nur“ eine Frage der<br />

Beteiligung ist, sondern dass hier ganz verschiedene<br />

Aspekte aus verschiedenen Perspektiven integriert<br />

bzw. problematisiert werden.<br />

Die Konzentration auf „gemeinsamen Boden“ (und<br />

nicht auf Konsens) verdeutlicht, dass nicht so viele<br />

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