23.01.2024 Aufrufe

Leseprobe aus Meer von Sonnenblumen

Dies ist eine Leseprobe aus dem Roman "Meer von Sonnenblumen" von Karoline Hugler. Karoline Hugler Meer von Sonnenblumen 84 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung Der Erzählverlag 2024, ET: 4. März 2024 ISBN 978-3-947831-97-5 18,00 €

Dies ist eine Leseprobe aus dem Roman "Meer von Sonnenblumen" von Karoline Hugler.
Karoline Hugler
Meer von Sonnenblumen
84 Seiten, 13,5 x 21,5 cm,
Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung
Der Erzählverlag 2024, ET: 4. März 2024
ISBN 978-3-947831-97-5
18,00 €

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Meer</strong> <strong>von</strong> <strong>Sonnenblumen</strong><br />

Karoline Hugler<br />

Der Erzählverlag<br />

3


Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

ist ohne Zusmmung des Verlags unzulässig und straar. Das gilt insbesondere<br />

für Vervielfälgungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und das<br />

Speichern und Verarbeiten in elektronischen Systemen.<br />

Die Deutsche Naonalbibliothek verzeichnet diese Publikaon in der Deutschen<br />

Naonalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet<br />

über hp://dnb.d-nb.de abruar.<br />

1. Auflage | Januar 2024<br />

© 2024 Der Erzählverlag | Reiherbeize 26 | D-14169 Berlin-Zehlendorf<br />

Umschlagillustraonen: Maryna Hromenko, Berlin<br />

Foto: Alan Ovaska, Berlin<br />

Satz und Gestaltung: Peter Amsler, Berlin<br />

Druck und Bindung: Central Dabas Prinng House, Ungarn<br />

ISBN 978-3-947831-97-5<br />

www.erzaehlverlag.de<br />

4


Für den Frieden!<br />

»Jeder einzelne macht einen Unterschied.«<br />

Jane Goodall<br />

5


6


1<br />

Es war Sommer, als ich aufs Land kam. Ich war<br />

zehn Jahre alt und hatte meine Eltern verloren, im<br />

Krieg, mein Vater war gefallen als Soldat an der<br />

Front. Und meine Mutter ... meine Mutter hatte<br />

mich in ein Dorf geschickt, weil sie meinte, ich wäre<br />

dort sicherer. Sie konnte nicht mitkommen, weil<br />

sie arbeiten musste. Sie führte bei reichen Leuten<br />

den H<strong>aus</strong>halt.<br />

Als ich wiederkam, war sie nicht mehr da.<br />

Manche sagten, sie wäre tot, aber das wollte ich<br />

nicht glauben. Tagelang lief ich durch die Stadt und<br />

suchte sie, und nachts weinte ich. Eine Nachbarin<br />

<strong>von</strong> früher entdeckte mich. Sie schickte mich dann<br />

wieder aufs Land in ein Kinderheim. Sie meinte, sie<br />

wäre das meiner Mutter schuldig. Das verstand ich<br />

nicht, meine Mutter hätte nie gewollt, dass ich in<br />

ein Kinderheim komme.<br />

Aber auf dem Land gab es, obwohl es Krieg war,<br />

mehr zu essen als in der Stadt, weil die Menschen<br />

ihre Gärten und die Felder hatten. Manchmal<br />

durfte ich bei den Familien <strong>von</strong> anderen Kindern<br />

<strong>aus</strong> dem Dorf mitessen, in dem Heim gab es nämlich<br />

wenig und immer nur das gleiche.<br />

Die meisten Erzieherinnen waren sehr streng.<br />

Die eine zog mir oft an den Ohren, dass es weh tat.<br />

Einmal riss es sogar ein und ich blutete. Alle waren<br />

gemein – außer Margarethe. Ich war heimlich in sie<br />

verliebt, und sie mochte mich auch. Sie war nicht<br />

7


so alt wie die anderen, eigentlich war sie auch fast<br />

noch ein Kind.<br />

Sie lebte unter dem Dach in einer Kammer. Die<br />

ersten Tage, als ich nicht schlafen konnte, legte sie<br />

sich einmal abends zu mir und streichelte mir über<br />

das Haar. Seitdem kam sie nachts manchmal in den<br />

Schlafsaal. Ganz früh morgens schlich sie sich<br />

wieder r<strong>aus</strong>. Wenn ich <strong>von</strong> den ersten Sonnenstrahlen<br />

geweckt wurde, war sie nicht mehr da,<br />

aber ich sah auf dem Kissen, wo ihr Kopf gelegen<br />

hatte.<br />

Dann kam die böse Erzieherin, die wir »die alte<br />

Schachtel« nannten. Sie schimpfte immer mit mir,<br />

weil ich nicht so schnell war. Es war so gemütlich<br />

im Bett. Waschen war langweilig, Zähneputzen<br />

auch. Ich übte lieber Jonglieren mit meinen Socken<br />

und dem Unterhemd. Aber das nahm sie mir alles<br />

weg und drohte, ich müsste nackig zur Schule<br />

gehen, wenn ich damit »Unsinn« machte. An<br />

diesem Tag war es auch, dass sie mir so sehr am Ohr<br />

zog, dass ich blutete.<br />

Unter der Matratze hatte ich ein Foto versteckt,<br />

<strong>von</strong> meiner Mutter, genauer gesagt <strong>von</strong> meinen<br />

Eltern. Es war nämlich ein Hochzeitsfoto. Aber<br />

meinen Vater habe ich fast gar nicht gekannt. Ich<br />

war noch so klein, ich kann mich kaum an ihn erinnern,<br />

nur dass sich manchmal jemand über mein<br />

Bett beugte und etwas in einer tiefen Stimme sagte.<br />

Ich weiß nur, dass ich mich dann wohl fühlte. Ich<br />

fragte meine Mutter, als ich größer war, wer das<br />

gewesen sei, und da fing sie an zu weinen.<br />

8


Wenn Margarethe abends nicht zu mir kam,<br />

holte ich immer das Foto hervor und hielt es in den<br />

Händen. Ich nahm mir vor, es nicht so oft zu tun,<br />

weil es schon ganz zerknickt war, aber ich konnte<br />

nicht anders. Ich hatte solche Sehnsucht.<br />

Eines Tages änderte sich alles. Am Morgen, ich<br />

war gerade fertig mit Anziehen, ertönte der Essensgong<br />

zum Frühstück. Die anderen Kinder liefen alle<br />

die Treppe hinunter. Ich linste durch das Geländer<br />

hindurch und sah, dass die alte Schachtel schon<br />

verschwunden war. Dann schlich ich heimlich hoch<br />

zu Margarethes Dachkammer. Sie war in der Nacht<br />

nämlich nicht bei mir gewesen.<br />

Ich überraschte sie, wie sie sich gerade ein Stück<br />

Schokolade in den Mund schob.<br />

»Woher hast du die Schokolade?«<br />

»Ach, Max. Du bist es! Möchtest du auch ein<br />

Stückchen?«<br />

Sie hielt mir ein Stück hin, und ich nahm es<br />

natürlich.<br />

»Danke. Woher hast du die?«<br />

»Ach, die hat mir ein Soldat geschenkt. Los, geh<br />

schon mal vor, wir sind schon spät dran!«<br />

Die Schokolade war köstlich, ich hatte so lange<br />

keine mehr gegessen. Seit dem Krieg gab es kaum<br />

noch Süßigkeiten.<br />

Margarethe kämmte sich die Haare, knöpfte ihre<br />

Bluse zu und lächelte plötzlich, weil da zwei Knöpfe<br />

fehlten. Das hab ich mir gemerkt, weil ich das<br />

komisch fand, dass sie lächelt, wenn die Bluse<br />

9


kaputt ist. Sie nahm eine Nadel und steckte damit<br />

ihre Bluse zusammen.<br />

»Du bist ja immer noch da, Max.« Sie hatte meinen<br />

Blick bemerkt. »Na, jetzt aber los.«<br />

Dann nahm sie meine Hand und wir rannten<br />

zusammen die Treppe hinunter. Natürlich kamen<br />

wir zu spät zum Frühstück. Weil Margarethe bei<br />

mir war, schimpfte die Alte nicht, aber ich sah<br />

genau ihren bösen Blick. Dann guckte ich schnell<br />

weg, ich konnte mir ja nicht das ganze Leben <strong>von</strong><br />

ihr vermiesen lassen.<br />

Es gab irgendeinen Brei, der hing uns schon zum<br />

Hals r<strong>aus</strong>, und Margarethe sagte, sie wolle endlich<br />

mal wieder was Richtiges essen, einen Braten oder<br />

so was. Ich machte mir ein bisschen Sorgen um sie,<br />

weil sie nicht aufaß.<br />

2<br />

Dicke Dampfschwaden einer Lokomotive, begleitet<br />

<strong>von</strong> einem Zischen und Pfeifen, stoben über der<br />

Landschaft auf. In einem steten Tempo bewegte<br />

sich ein Zug der Front entgegen. Er war voll mit<br />

Männern, jungen Männern, älteren Männern,<br />

Familienvätern, Brüdern, Söhnen, allesamt Soldaten.<br />

Einer dieser Soldaten war Marius, ein junger<br />

Mann, Anfang zwanzig, gerade einen Heimaturlaub<br />

hinter sich. Er sah <strong>aus</strong> dem Fenster hin<strong>aus</strong> in die<br />

sommerliche Landschaft, sah sie an sich vorüberfliegen.<br />

Noch hatte er den Duft der Felder in der<br />

10


Nase, doch langsam mischte sich der Geruch des<br />

Leders der Stiefel und des Schweißes all der<br />

Männer darunter. Es war warm.<br />

In seiner Uniform unterschied sich Marius kaum<br />

<strong>von</strong> den anderen, ja, auf den ersten Blick gar nicht,<br />

vielleicht war er ein bisschen stiller. Aber in einem<br />

unterschied er sich doch: Je weiter er sich über die<br />

Schienen fliegend <strong>von</strong> der Heimat entfernte, und je<br />

näher er der Front kam, desto stärker spürte er,<br />

dass es falsch war, dass er in dem Zug saß, dass es<br />

diesen Krieg gab, und dass er kein Teil da<strong>von</strong> sein<br />

wollte. Er wollte diese Gedanken abschütteln, aber<br />

es ging nicht.<br />

Schon Zuh<strong>aus</strong>e hatte es einen Moment gegeben,<br />

in dem er kurz überlegt hatte dazubleiben, sich zu<br />

verstecken. Doch konnte er mit niemandem darüber<br />

reden, wo sollte er sich verstecken, sein Vater<br />

war ein hoher Befehlshaber, nie würde seine Familie<br />

dafür Verständnis haben, und er kannte die<br />

Worte: Feigling, Vaterlandsverräter ... doch er verstand<br />

sie nicht. War es nicht viel mutiger zu sagen,<br />

ich mache diesen Krieg nicht mit? Ich möchte<br />

keinen Menschen töten, und ich möchte mein<br />

Leben nicht für diese Wahnsinnigen, die ihn sich<br />

<strong>aus</strong>gedacht haben, wegschmeißen? Er hatte kurz<br />

daran gedacht, aber da war es noch so weit weg<br />

gewesen, es sind ja noch ein paar Tage bis zur<br />

Abreise, ein paar Stunden. Vielleicht dachten das<br />

die anderen auch oder zumindest einige <strong>von</strong> ihnen,<br />

aber Marius’ Gefühle wurden immer stärker.<br />

11


Er fühlte sich schlecht, ihm war heiß, seine Kehle<br />

schnürte sich zu. Er spürte eine Beklemmung in<br />

seiner Brust. Sie hatte angefangen, als er zum<br />

Bahnhof gegangen war, seine Mutter ihm gewunken<br />

hatte. Die Beklemmung war gewachsen, als er<br />

sich auf seinen Platz gesetzt, als mit einem Zischen<br />

die Lok die ersten Dampfschwaden <strong>aus</strong>gestoßen<br />

hatte, als der Zug anfuhr, die Landschaft immer<br />

schneller vorbeizog, und nun wurde sie so stark,<br />

dass er es nicht mehr <strong>aus</strong>hielt.<br />

Er stand auf, öffnete einen Knopf an seinem<br />

Kragen und ging in den Gang.<br />

3<br />

Wie immer nahm ich zwei Stufen auf einmal, als<br />

ich die Treppe hinunter sprang auf die Straße. Margarethe<br />

ging als Letzte. Sie passte ja auch auf uns<br />

auf. Ich lief neben ihr und wie so oft machten wir<br />

Witze. Dann trödelten wir und mussten uns plötzlich<br />

beeilen, damit wir nicht zu spät zur Schule<br />

kamen. An diesem Tag pflückte Margarethe ein<br />

paar Himbeeren <strong>von</strong> einem Strauch, der durch<br />

einen Gartenzaun auf den Gehweg ragte. Sie hielt<br />

mir gerade ein paar Beeren hin, da fiel mir ein, dass<br />

ich etwas vergessen hatte.<br />

Ich lief schnell zurück und rannte die Treppen<br />

hinauf in den Schlafsaal. Es war nachts <strong>aus</strong> dem<br />

Bett gefallen, mein Holzkatapult. Ich hatte es selber<br />

gebaut, <strong>aus</strong> einer Astgabel und einem Gummi <strong>aus</strong><br />

12


einer alten Unterhose. Vorher hatte ich noch die<br />

Rinde weggeschnitzt, so dass das Holz schön hell<br />

und weich wurde.<br />

Es war seltsam, ganz allein in dem großen Schlafsaal,<br />

zwischen all den Betten. Vielleicht, weil ich<br />

mich in dem Moment so allein fühlte, nahm ich<br />

auch noch das Foto <strong>von</strong> meiner Mutter mit und<br />

steckte es mir in die Hemdtasche. Das war gut so,<br />

denn es war das letzte Mal, dass ich an dieses Bett<br />

kam, aber das wusste ich in dem Moment noch<br />

nicht.<br />

Ich rannte wieder auf die Straße. Margarethe<br />

wartete an der nächsten Ecke auf mich. Sie zerquetschte<br />

gerade die letzte Himbeere auf ihren<br />

Lippen und verteilte dann den roten Saft auf ihren<br />

Wangen. Das tat sie oft, weil sie glaubte, dass sie<br />

dann schöner <strong>aus</strong>sah, aber ich fand sie immer<br />

schön.<br />

Sie sah, wie ich große Augen machte, und glaubte,<br />

das wäre wegen ihrer schönen roten Wangen, aber<br />

das war es nicht. Neben ihr an der Litfaßsäule hing<br />

ein riesiges Zirkusplakat. Mit Löwen, Seiltänzerinnen,<br />

Akrobaten und einem Clown.<br />

»Ich finde den Löwenbändiger schick. Was der<br />

für Muskeln hat!«, hörte ich Margarethe sagen.<br />

Aber ich, ich sah nur den Clown. Ich fuhr mit<br />

meinem Finger in eine Luftblase unter dem Plakat<br />

und riss mir die Stelle mit ihm <strong>aus</strong>.<br />

»Max!« Margarethe war schon längst weitergegangen,<br />

und ich rannte, um sie einzuholen.<br />

13


4<br />

Pfeifend fuhr der Zug mit den Soldaten in einen<br />

Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig warteten schon<br />

weitere Männer in Uniformen darauf, an die Front<br />

transportiert zu werden.<br />

Jemand öffnete die Zugtür und Marius merkte,<br />

wie sich seine Beine bewegten, wie sie zwei Schritte<br />

die Stufen hinunter machten, und wie er plötzlich<br />

auf dem Bahnsteig stand. Ich muss frische Luft<br />

schnappen, dachte er. Gleich fühlte er sich wohler.<br />

Die Sonne schien. Wie er da so stand, den Boden<br />

unter seinen Füßen spürte und die Sommerbrise<br />

einatmete, die <strong>von</strong> den nahegelegenen Feldern herüberwehte,<br />

konnte er sich nicht vorstellen, wieder<br />

in diesen Zug zu steigen. Nicht. Gar nicht. Es war<br />

unmöglich.<br />

Da war ein großer Widerstand, wie eine Mauer,<br />

durch die er nicht mehr gehen konnte, wollte. Hier<br />

zu stehen, fühlte sich so leicht an. Er setzte einen<br />

Fuß vor den anderen, zu gehen noch leichter. Er sah<br />

die Feldgendarmen mit ihren Ketten um den Hals.<br />

Wie sie am Bahnsteig standen und den Zug überwachten.<br />

Die Lok musste neues Wasser aufnehmen.<br />

Es würde eine Weile dauern. Marius mogelte sich<br />

vorbei an den einsteigenden Soldaten, die sich verabschiedeten,<br />

der Freundin eine Träne <strong>von</strong> der<br />

Wange wischten, eine Zigarette <strong>aus</strong>drückten.<br />

Er hoffte, zwischen den Soldaten verschwinden<br />

zu können. Wenn ich keinen mehr sehe, sehen sie<br />

mich vielleicht auch nicht, dachte er. Er schob sich<br />

14


dicht am Zug entlang. Jeder war mit sich selbst<br />

beschäftigt, er war einer unter vielen, und in dem<br />

Moment hockte er sich hin, ließ sich blitzschnell<br />

vom Bahnsteig hinab gleiten auf die Gleise, huschte<br />

zwischen zwei Wagen hindurch und stand im<br />

Schotter zwischen zwei Zügen. Hinter ihm der<br />

Transportzug an die Front, vor ihm ein Reisezug.<br />

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, es raste, es<br />

drohte seine Brust zu sprengen, aber er ignorierte<br />

es. Vor ihm war die Plattform, die die beiden Reisewagen<br />

miteinander verband. Er dachte, das Geländer<br />

ergreifen und er ergriff das Geländer, hochziehen,<br />

er zog sich hoch, Bein über das Geländer, er<br />

schwang das Bein über das Geländer und kletterte<br />

auf die Plattform, drückte die Türklinke und verschwand<br />

in dem Zug.<br />

Ein lang gezogener Pfiff ertönte und Marius<br />

musste sich an einer Abteiltür festhalten, als sich<br />

der Zug mit einem Ruck in Bewegung setzte.<br />

Hatte ihn einer bemerkt? Hatte einer der Feldgendarmen<br />

ihn gesehen? Marius wusste es nicht.<br />

Der Zug, in dem er sich nun befand, fuhr <strong>aus</strong> dem<br />

Bahnhof.<br />

5<br />

Am Nachmittag spielten wir Murmeln. Wir, das<br />

heißt ein paar Kinder <strong>aus</strong> dem Dorf und ich. Wir<br />

spielten das immer auf der Dorfstraße, weil da der<br />

Boden so schön gerade war. Ich mochte am liebsten<br />

15


die blauen. Es gab auch nur drei, und das waren<br />

meine. Drei blaue Glasmurmeln. Die anderen hatten<br />

bunte <strong>aus</strong> Ton, die angemalt und gesprenkelt<br />

waren, aber das fand ich nicht so schön. Manchmal<br />

spielten wir so, dass der Gewinner die Murmeln<br />

bekam, die alle schon im Loch waren. Ich hatte<br />

dann immer Angst, dass ich meine verliere und deswegen<br />

spielte ich so gut, dass ich meistens gewann.<br />

Ich übte heimlich und konnte inzwischen richtig<br />

gut zielen.<br />

Franz und Lukas, zwei <strong>von</strong> den Dorfjungs, waren<br />

neidisch. Sie ärgerten mich und erzählten mir, was<br />

ihnen ihre Väter alles für schöne Dinge mitgebracht<br />

hatten. Einmal machte mich das so wütend, dass ich<br />

sagte, mein Vater wäre ein Spion und in Amerika,<br />

und sobald er es schaffte, würde er mich holen und<br />

mich in einem großen Koffer <strong>aus</strong> dem Land schmuggeln.<br />

Ich glaube, ich kann gut Geschichten erzählen. Die<br />

Mädchen waren immer ganz beeindruckt. Aber<br />

Lukas war gemein, er sagte dann, dass mein Vater<br />

doch schon längst im Krieg gefallen sei, sonst wäre<br />

ich ja nicht im Kinderheim. Aber ich sagte, dass<br />

stimme nicht, er könne halt nicht anders, und dass<br />

ich stolz auf ihn sei und eines Tages auch gern<br />

einmal so klug und schlau sein wolle wie er. Lisa<br />

sah mich komisch an, und da merkte ich, dass mir<br />

ein paar Tränen die Wangen hinunterliefen. Ich<br />

wischte sie schnell weg.<br />

Dann t<strong>aus</strong>chten wir. Das machten wir oft. Dinge<br />

t<strong>aus</strong>chen. Ich t<strong>aus</strong>chte eigentlich nicht so gerne,<br />

16


weil ich die Sachen, die ich hatte, alle mochte und<br />

nicht so gerne gegen etwas anderes hergab. Bis<br />

einer <strong>von</strong> den Jungs, Ludwig, eine frische Wurst<br />

hervorholte. Seine Familie hatte ein Schwein geschlachtet,<br />

weil sein Vater auf Heimaturlaub da<br />

war. Ich dachte an Margarethe, was sie heute früh<br />

gesagt hatte, und wollte sie mit der Wurst überraschen.<br />

Aber was sollte ich t<strong>aus</strong>chen? Die anderen<br />

hatten schon angefangen. Ich rang mit mir, aber<br />

schließlich sagte ich: »Du kannst meine blauen<br />

Murmeln haben.« »Pah, die sind doch nichts«, antwortete<br />

Ludwig und zeigte auf mein Holzkatapult.<br />

»Wenn du mir das gibst, kannst du sie haben.« Ich<br />

war hin und her gerissen, aber dann sah ich Margarethes<br />

Gesicht vor mir, wie sie sich freuen würde,<br />

und willigte schweren Herzens ein.<br />

6<br />

Ziellos lief Marius durch den Zug. Es war ein<br />

heißer Tag, viele Leute dösten vor sich hin, nahmen<br />

den jungen Mann kaum wahr, der sich suchend<br />

umsah. Er hatte es tatsächlich getan! Wohin der<br />

Zug fuhr, wusste er nicht, und es war auch nicht<br />

wichtig, solange es nicht an die Front war. Marius<br />

wollte lächeln und wie ein Reisender <strong>aus</strong>sehen,<br />

doch seine Uniform ließ ihn nicht wie einen Reisenden<br />

erscheinen.<br />

Da entdeckte er am Ende des Wagens auch schon<br />

Soldaten <strong>von</strong> der Feldgendarmerie, die diesen Zug<br />

17


kontrollierten, sah, wie einer <strong>von</strong> ihnen die<br />

Urlaubspapiere eines Soldaten musterte und ihm<br />

zurückgab, wie er aufsah und genau Marius in die<br />

Augen.<br />

Langsam und möglichst beiläufig drehte sich<br />

Marius um, doch die Blicke verfolgten ihn schon.<br />

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er ging schneller.<br />

Vorbei an geschlossenen Abteilen und an offenen,<br />

an Kindern, die Butterbrote aßen, und Damen, die<br />

sich in der Hitze Luft zufächelten. Ein älterer Herr<br />

machte ein Nickerchen, und da sah er den Koffer<br />

neben ihm im Gang. Er griff nach ihm im Vorbeigehen,<br />

beschleunigte seine Schritte, ging durch die<br />

nächste Wagentür und verschwand in der Toilette<br />

– kurz bevor ihn jene Feldgendarmen treffen konnten,<br />

die <strong>aus</strong> der anderen Richtung den Zug kontrollierten.<br />

Der Herr, der glaubte, eine Bewegung gespürt zu<br />

haben, öffnete die Augen, tastete nach seinem<br />

Koffer und griff ins Leere.<br />

Marius öffnete den Koffer und fand, was er gehofft<br />

hatte zu finden. Er zog sich hastig die Uniform <strong>aus</strong><br />

und einen Anzug an. Er war etwas zu weit. Aber es<br />

war Kleidung, in der er wie ein Reisender <strong>aus</strong>sehen<br />

würde, sogar ein Paar feine Schuhe war dabei. Er<br />

knüllte die Uniformteile zusammen und wollte sie<br />

<strong>aus</strong> dem Fenster werfen, doch hielt er inne und<br />

überlegte es sich anders. Die Kleidung könnte an<br />

den anderen Fenstern vorbeifliegen und gesehen<br />

werden. Er öffnete den Toilettendeckel und stopfte<br />

18


Jacke und Hose durch das Abflussrohr nach draußen.<br />

Sie verschwanden sofort, und Marius sah nur<br />

noch die Gleise dahinrasen. Seine Stiefel passten<br />

nicht hindurch. Jemand klopfte.<br />

Er stand da mit den Stiefeln in der Hand und<br />

wusste nicht wohin. Er öffnete doch das Fenster<br />

und hoffte, sie würden durch das Gewicht geradewegs<br />

nach unten fallen, und ließ sie los.<br />

Mit einem Blick in den Spiegel kontrollierte er<br />

sein Aussehen, schloss den Koffer und öffnete die<br />

Tür. Er versuchte zu lächeln. Eine beleibte Dame<br />

zwängte sich an ihm vorbei.<br />

Marius stellte sich an die Zugtür und sah hin<strong>aus</strong><br />

in die Landschaft. Die Farben, der Sommer, das<br />

Grün, Felder zogen an ihm vorbei. Sein Herzschlag.<br />

Er dachte nichts, es war kein Platz zum Denken in<br />

ihm. Der Moment erfüllte sein ganzes Bewusstsein.<br />

Er hörte eine Stimme, die nach seiner Fahrkarte<br />

fragte. »An meinem Platz, ich habe sie an meinem<br />

Platz«, sagte er und ging los, in der Hoffnung ihm<br />

würde noch etwas einfallen. Der Schaffner folgte<br />

ihm. Einer der Feldgendarmen trat heran und flüsterte<br />

dem Kontrolleur zu, dass sich ein Fahnenflüchtiger<br />

in diesem Zug befinde.<br />

»Wo sitzen Sie denn?«, fragte der Schaffner.<br />

»Weiter vorne.«<br />

»In welchem Wagen?«<br />

In dem Moment kam panisch ein Herr angerannt<br />

und rief: »Mein Gepäck wurde gestohlen! Helfen Sie<br />

19


mir! – Mein Anzug! Der Mann dort trägt ja meinen<br />

Anzug!«<br />

Marius begann zu rennen, hinter ihm der Schaffner,<br />

der Feldjäger und der ältere Herr. Marius hastete<br />

vorbei an den Sitzbänken, sprang über Koffer,<br />

rückte Kinder <strong>aus</strong> dem Weg und stürzte am Ende<br />

des Wagens zur Tür, sie klemmte, er zerrte heftiger,<br />

bis sie mit einem gewaltigen Ruck aufflog. Der<br />

Fahrtwind wehte ihm entgegen – er stieß sich ab,<br />

flog und ließ sich über einen Hügel abrollen in ein<br />

riesiges Feld <strong>von</strong> <strong>Sonnenblumen</strong> hinein. Nichts.<br />

Sekunden vergingen.<br />

Er richtete sich auf und rannte mitten in das Feld,<br />

wo er in den Reihen der hohen Blumen verschwand.<br />

Dann hörte er, wie hinter ihm der Zug mit einem<br />

langen Kreischen zum Stehen kam.<br />

Eine Sonnenblume knickte, zwei goldene Blütenköpfe<br />

brachen, eine Bewegung.<br />

Da stand ein Zug inmitten eines riesigen <strong>Sonnenblumen</strong>feldes,<br />

in Mittagssonne getaucht, schien es<br />

sich im Wind zu wiegen, doch es war kein Wind, der<br />

es aufwühlte.<br />

Feldgendarmen und Grenzsoldaten durchkämmten<br />

das Feld. Rufe. Ein Schuss. Marius rannte und<br />

rannte, verharrte außer Atem, hielt inne, l<strong>aus</strong>chte<br />

und lief weiter. Blüten schlugen ihm ins Gesicht,<br />

hinterließen klebrige Spuren. Allmählich wurden<br />

die Stimmen leiser, verschwanden in der Ferne<br />

hinter ihm. Er nahm nur noch die leuchtenden<br />

Farbkleckse der Blüten, seinen Atem und die Hitze<br />

wahr.<br />

20


7<br />

Ludwig band sich mein Katapult am Gürtel fest,<br />

und ich verstaute die Wurst in meinem Schulranzen.<br />

Wir überlegten, was wir als nächstes machen<br />

wollten.<br />

Mit einem Mal näherte sich ein lautes Motorenbrummen<br />

und eine riesige Staubwolke hüllte uns<br />

ein und wirbelte uns Sand in die Gesichter. Es<br />

waren Fahrzeuge <strong>von</strong> der Feldgendarmerie, die<br />

suchten immer nach Soldaten, die nicht zurück an<br />

die Front wollten. Sie hielten vor der Kneipe und<br />

ein paar gingen hinein. Aber nicht gemütlich, nicht<br />

so, als ob sie was trinken wollten. Nein, sie liefen<br />

mit schnellen festen Schritten, rannten fast, als ob<br />

sie jemanden suchten. Ich weiß es noch genau, weil<br />

es so unheimlich war, und der eine sich zu uns<br />

umdrehte.<br />

Wir liefen durchs Dorf und entdeckten am Waldrand<br />

die Zirkuswagen <strong>von</strong> dem Plakat. Wir rannten<br />

los, neugierig.<br />

Bunt bemalte Wagen, Ziegen die neben ihnen im<br />

Gras standen und ein Mädchen, das mit einem ganz<br />

komisch frisierten Pudel spazieren ging. Es gab<br />

einen Wagen voller Tauben, einen mit Affen, und<br />

der schönste war der vom Clown. Ein riesiges weißes<br />

Gesicht war darauf gemalt. Dasselbe wie auf dem<br />

Plakat, nur in groß. Ich fasste in meine Hosentasche<br />

und lächelte.<br />

Wir spielten Verstecken. Anschlag war der Taubenwagen.<br />

Ich versteckte mich unter dem nächs-<br />

21


ten Wagen. Es war genau der mit dem Clownsgesicht.<br />

Über mir sah ich den Fußboden <strong>von</strong> unten.<br />

Ich stellte mir vor, wie der Clown dort über die<br />

Bretter ging, und da hörte ich tatsächlich Schritte,<br />

aber <strong>von</strong> zwei Menschen.<br />

Dann hörte ich zwei Stimmen, die sich stritten<br />

und immer lauter wurden. Der ganze Wagen<br />

wackelte und die Tür flog auf. Eine helle Flüssigkeit<br />

platschte vor mir in den Sand und versickerte langsam.<br />

Sie stank widerlich, ich glaubte, es war Alkohol.<br />

Dann knallte die Tür wieder zu.<br />

»Das war das letzte Mal, dass du deine Nummer<br />

betrunken gespielt hast!«<br />

»Ich kann nicht mehr.«<br />

»Reiß dich zusammen!«<br />

»Du weißt nicht, wie das ist. Du hast dein Kind<br />

noch.«<br />

»Es ist für uns alle schlimm, dass dein Sohn gefallen<br />

ist, das weißt du. Da sollten dir die Kinder im<br />

Publikum erst recht am Herzen liegen.«<br />

Etwas donnerte gegen die Wand.<br />

»Du kannst mich doch nicht auf die Straße<br />

setzen.«<br />

»Das habe ich auch nicht nötig, dahin kannst du<br />

noch alleine gehen.«<br />

»Hab dich!«, rief hinter mir Sophie und rannte<br />

schon los, um mich anzuschlagen. Ich kroch <strong>aus</strong><br />

meinem Versteck. Da ich sie sowieso nicht mehr<br />

einholen würde, drehte ich mich noch einmal um.<br />

Ich sah, wie die Wagentür auf- und wieder zuflog<br />

und ein fein gekleideter Mann da<strong>von</strong>ging und hinter<br />

22


den anderen Wagen verschwand. Das war bestimmt<br />

der Zirkusdirektor.<br />

Auf dem Weg zurück ins Dorf überlegte ich, wie<br />

ich Margarethe überreden könnte, mit mir am<br />

Abend in den Zirkus zu gehen. Unterwegs pflückte<br />

ich ihr ein paar Blumen, Kornblumen, Kamille, eine<br />

Mohnblume und noch ein paar andere, die hübsch<br />

<strong>aus</strong>sahen, die ich aber nicht kannte.<br />

8<br />

Marius hielt sich auf seinem Weg am Rand des<br />

Waldes, immer bereit, sich zu verstecken, sobald er<br />

Geräusche hörte. Am frühen Abend gelangte er an<br />

ein verlassenes Gehöft, dessen Räume er vergeblich<br />

nach etwas Essen durchsuchte. Alles Brauchbare<br />

war mitgenommen oder geplündert. Im Hof stand<br />

ein Pflaumenbaum, an dem noch ein paar Früchte<br />

hingen. Die aß er. Er überlegte, zu bleiben und sich<br />

hier zu verstecken, aber Hunger und Durst trieben<br />

ihn weiter. Er nahm sich vor, vielleicht hierher<br />

zurückzukehren. Er lief weiter an Feldern entlang.<br />

Ab und zu pflückte er eine Ähre ab und pulte die<br />

Körner her<strong>aus</strong>. In der Ferne sah er ein Dorf.<br />

9<br />

Je näher ich dem Heim kam, desto stärker wurde<br />

mein Herzklopfen. Ich hatte so richtig Vorfreude.<br />

Ich hoffte, die Alte würde mich nicht erwischen,<br />

23


wenn ich zu Margarethe ging, und ich freute mich<br />

darauf, Margarethes Gesicht zu sehen, wenn ich<br />

meine Geschenke hervorholte. Ich rannte die<br />

Treppe hinauf zu der Kammer.<br />

Aber Margarethe war nicht da.<br />

Ich stellte die Blumen ins Wasser und begann den<br />

Tisch zu decken. In einem kleinen Schränkchen<br />

hatte Margarethe etwas Geschirr. Ich packte die<br />

Wurst auf ihren Teller, und als sie immer noch<br />

nicht da war, zerriss ich das Papier, in das die Wurst<br />

gewickelt war, und malte mit einem Bleistift Figuren<br />

darauf, bei Margarethe den Löwenbändiger<br />

und bei mir einen Löwen, und legte die Zeichnungen<br />

als Platzkärtchen hin. Ich hoffte, das würde ihr<br />

Lust auf den Zirkus machen.<br />

Dann muss ich eingeschlafen sein. Ich weiß nur<br />

noch, wie ich plötzlich hochschreckte und sah, dass<br />

es draußen dunkel war. Ich fuhr mit dem Finger<br />

über meine Wange, das Muster <strong>von</strong> der Tischdecke<br />

hatte sich in meine Haut gedrückt. Die Wurst lag<br />

immer noch da, <strong>von</strong> Margarethe keine Spur.<br />

10<br />

Als Marius das Dorf erreichte, war es dunkel. Er<br />

lief durch die Straßen, immer Schutz suchend in<br />

der Nähe einer H<strong>aus</strong>wand. Die Straße, die er entlang<br />

ging, führte auf einen Platz. Dort könnte ein<br />

Gasthof sein, dachte er.<br />

24


Als er den Platz fast erreicht hatte, hörte er, wie<br />

ein paar Männer laut grölend auf die Straße torkelten,<br />

kurz darauf zuschlagende Autotüren und<br />

Motorengeräusche. Er wollte sich klein machen,<br />

sich an die Wand drücken, aber da bog schon das<br />

erste Fahrzeug um die Ecke und traf ihn mit seinen<br />

Scheinwerfern. Er erkannte, dass es ein Wagen der<br />

Feldgendarmerie war. Jemand stieg <strong>aus</strong>. Einer<br />

brüllte nach seinen Papieren. »Das ist doch der <strong>aus</strong><br />

dem Zug!«, hörte er einen anderen rufen.<br />

Marius begann zu rennen. Er kletterte über einen<br />

Zaun, lief durch Hecken und Gärten. Aus irgendeiner<br />

Richtung hörte er immer wieder das Motorenbrummen<br />

der Fahrzeuge, wie sie, Raubtieren gleich,<br />

die Straßen abfuhren. An einer Scheune fand er ein<br />

Fahrrad und stieg auf. Es fing an, leicht zu regnen.<br />

11<br />

Ich lief durch die nächtlichen Straßen, um Margarethe<br />

zu suchen. Ich weiß noch, dass es nieselte und<br />

ich langsam nass wurde. Es war nicht schlimm, aber<br />

mit der Zeit weichten all die kleinen Tropfen mein<br />

Hemd durch, und es klebte auf meiner Haut. Doch<br />

ich fror nicht, es war ja Sommer, und irgendwie war<br />

ich aufgeregt. Es lag etwas in der Luft. Alles sah ein<br />

bisschen unscharf <strong>aus</strong> durch den Regen - und da sah<br />

ich sie, erst verschwommen, dann ganz deutlich.<br />

Margarethe lehnte an einem Baum. Ich wollte sie<br />

rufen und zu ihr hinlaufen, doch neben ihr bewegte<br />

25


sich etwas, und im Schein der Laterne leuchtete ein<br />

zweites Gesicht auf. Es war ein Soldat. Sie küssten<br />

sich.<br />

Ich erstarrte.<br />

Ich drehte mich schnell um und lief weg, damit<br />

sie mich nicht sahen. Ich war so enttäuscht und<br />

wütend auf sie, dass ich einfach immer weiter<br />

rannte. Bis ich plötzlich eine leise Melodie hörte.<br />

Der Zirkus!<br />

Je weiter ich lief, desto lauter wurde sie. Es war<br />

noch nicht zu spät! Von Weitem sah ich das Zelt.<br />

Die Lichterketten auf der Spitze funkelten wie<br />

Sterne.<br />

12<br />

Marius trat schneller in die Pedalen. Doch die<br />

Fahrzeuge kamen immer näher. Er sah, wie der<br />

Lichtstrahl eines Suchscheinwerfers an ihm vorbei<br />

in die Nacht leuchtete, kurz darauf spürte er ihn in<br />

seinem Nacken. Er schmiss das Rad in einen Busch<br />

und schwang sich über einen Zaun, unter ihm<br />

knickten Blumen und Kartoffelpflanzen. Er kletterte<br />

über das Dach eines alten Schuppens auf eine<br />

Mauer.<br />

Von oben sah er lauter Wohnwagen und den<br />

Schriftzug eines Zirkusnamens, der sich strahlend<br />

vom Nachthimmel abhob. Er sprang <strong>von</strong> der Mauer,<br />

doch <strong>von</strong> beiden Seiten näherten sich schon seine<br />

Verfolger, sie öffneten die Autotüren und ließen<br />

26


Hunde los. Marius rannte, so schnell er konnte,<br />

geradewegs auf die Zirkuswagen zu.<br />

13<br />

Ich sah den Lichterbogen <strong>aus</strong> hellen Glühbirnen<br />

am Eingang, der den Kassenwagen mit einem Verkaufswagen<br />

verband, der kandierte Äpfel anbot.<br />

Aber ich hatte kein Geld, deshalb schlich ich mich<br />

an einer anderen Stelle zwischen den Wohnwagen<br />

hindurch ins Lager. Ich kannte mich ja <strong>von</strong> heute<br />

Nachmittag <strong>aus</strong>.<br />

Die Wagen waren schwarze Schatten, dazwischen<br />

der nachtblaue Himmel. Während ich versuchte,<br />

den langsam entstehenden Pfützen <strong>aus</strong>zuweichen<br />

und überlegte, wie ich am besten ins Zelt<br />

käme, traf mich plötzlich ein heftiger Schlag und<br />

riss mich zu Boden.<br />

14<br />

Marius fiel mitten in eine Pfütze. Vor ihm saß ein<br />

kleiner Junge, der sich den Kopf rieb. Marius<br />

zögerte, er wollte etwas sagen, doch als er das Hundegebell<br />

hörte, sprang er auf und rannte weiter.<br />

15<br />

Es drehte sich alles, der Himmel, die Zirkuswagen,<br />

ein Mann, der neben mir saß und mich ansah, und<br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!