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Bodmer_Publication

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5. An den Grenzen des Repertoires

Der Rückgriff auf Humboldt hat den Verdacht erhärtet, dass der Gegensatz

Kunst / Wissenschaft bei Bodmer zu kurz greift 32 – ein Negativergebnis, das den

Wert eines grossen Teils der bisherigen Bodmer-Diskussion um einiges mindert.

Sieht man, dass und wie das Ästhetische integraler Aspekt der Erkenntnis – hier

der Wahrnehmung des Fremden – ist, wird es unmöglich, das Ästhetische automatisch

als Verformung des Dargestellten abzutun, wie sie in Begriffen wie Ästhetisierung

oder Romantisierung antönt.

Aber da ist noch ein Weiteres. In ein insgesamt ausserordentlich positives

Bild Bodmers und seiner Arbeiten passen augenscheinlich die Darstellungen von

«Wilden», die bis zur Dämonisierung des Indianischen gehen, nicht hinein. Hier

scheint er einem Negativklischee verhaftet zu sein, das in seiner Zeit und später

immer wieder als Propagandainstrument eingesetzt worden ist, um die «Primitiven»

zu unterjochen, zu vertreiben, zu töten. Es ist schwer, gegen einen solchen

Vorwurf etwa in Bezug auf die späten, zusammen mit Jean-François Millet produzierten

Blätter zu argumentieren. 33 Mit den Illustrationen der Reise steht es

anders. Hier findet sich die Dämonisierung in einer Kampfszene (Tableau 42) und

in mehreren Blättern religiös-rituellen Inhalts (so etwa Tableau 18). Bei ersterer

resultiert sie aus der Erfahrung der Bedrohtheit heraus, sie ist nicht mehr als das

Standardmittel, sich visuell gegen die bedrohende Macht abzusetzen. Bei den

anderen Blättern liegt eine andere Interpretation nahe, für die man zum letzten

Mal auf Humboldts Kosmos zurückgreifen kann.

Der ganze Duktus dieses Werks ist geprägt vom Versuch, eine Welt, die viele

voran gegangene christliche Jahrhunderte vor allem als gefallene gesehen hatten,

als grossartige oder nachgerade ihrerseits anbetungswürdige Ordnung zu begreifen.

34 Das ist eine weltliche Perspektive, die sich allerdings dann wieder in eine

neue, weit verstandene Religiosität überführen lässt. Der Punkt ist, dass sie grosse

Probleme mit traditionellen Formen und Inhalten der Religionsausübung hat und

in deren Darstellung, auch beim besten Willen, auf Probleme bzw. an ihre eigenen

Grenzen stösst. Ein Blick auf die religiöse Kunst der Zeit zeigt solche Probleme insbesondere

im Abgleiten ins Sentimentale. Daneben stehen aber eben auch Dämonisierungen,

die propagandistisch eingesetzt bzw. «gemeint» werden können,

es aber nicht sein müssen. Damit ist man bereits in der Nähe der problematischen

Blätter Bodmers, und es ist nicht weit zur starken Vermutung, dass er – auch darin

ganz Kind seiner Zeit – in ihnen versucht, religiös-rituelle Sujets mit Mitteln

zu bewältigen, die uns heute wohl unzulänglich erscheinen, und dies einfach,

weil ihm das kulturelle Repertoire seiner Zeit keine besseren zur Verfügung stellte.

Dieses Versagen (wenn es denn eines ist) bildet aber bloss den Hintergrund,

vor dem Bodmers Fähigkeit, eine Verschmelzung von Genuss und Einsicht à la

Humboldt zu bewirken, umso eindrucksvoller erscheint.

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