Bodmer_Publication
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Strukturierung des Gegenstands sichtbar, was an einer Landschaft charakteristisch
ist. Die Morphologie der Formationen wird sichtbar, aber ebenso der nachgerade
t aktile Reiz einer Oberfläche, die das Auge abtasten kann. Im Begriff des
Charakters fliesst beides zusammen. Ebenso werden die ethnologisch interessanten
Gegen stände zu Ikonen der Kulturen, aus denen sie stammen und für die sie
c harakteristisch sind. In den eigentlichen Landschaftsdarstellungen ist es weniger
die Genauigkeit der Linie als die der geografischen, Flora und Fauna mit umfassenden
Bestandsaufnahme, die zusammen mit der sublimen, pastoralen oder
pittoresken Überformung «Charakter» produziert. In den Porträts schliesslich
werden charakteristischer Ausdruck bzw. Ausdruck des Charakters und der ästhetische
Reiz der Haut, der Bemalung und der Kleidung eins. 25 Und das Resultat ist
schön: Erkenntnis und Ästhetik fallen wieder zusammen. Das Sichtbar-Werden
der inneren Form (etwa der Individualität eines Gesichts) ist nicht nur Erkenntnismoment,
sondern auch ästhetischer Natur.
Bei den Porträts allerdings stellt sich die Frage, was genau «Charakter» heisst:
Individualität der dargestellten Person? Reflex des Volkscharakters in der Person?
Eventuell ein Drittes? Die Antwort ist: Alles dies, und an dieser Stelle interessiert
das Dritte, weil es auf eine weitere Frage hinführt. Denn «Charakter» ist hier
offenkundig auch eine Nobilität, die in vergleichbaren Formen auch anderswo
vorkommt. 26 Sie lässt sich pauschal mit dem Begriff des «Edlen Wilden» fassen
und erscheint darstellungsmässig sowohl in den Posen der Figuren wie im
Ausdruck der Gesichter und in der Behandlung der Haut. Hier werden diverse
An leihen beim Repertoire der Zeit gemacht, die nicht auf die Darstellung des
Fremden beschränkt sind, sondern ganz allgemein dazu dienen, den edlen
Charakter von Gestalten herauszuarbeiten. 27 Da paart sich Würde mit Anmut,
Stärke mit Feinheit, in der Produktion eines positiven Menschenbilds. Eine eigene
Abhandlung würde in diesem Zusammenhang die Verwendung des Schemas der
Androgynität, der Überschreitung der Grenzen zwischen kulturell als männlich
und als weib lich Kodiertem, verdienen, wie man sie beim jungen Assiniboin auf
Tableau 32 finden kann.
Man könnte sagen, diese Art, im Fremden einen Adel aufzusuchen, der schliesslich
im Europa der Zeit nach Napoleon in einer Legitimationskrise steckte, sei eine
illegitime Anverwandlung und ideologische Ausbeutung ebendieses Fremden.
Und unleugbar stellt sich beim Begriff des Charakteristischen das Problem, dass
es potenziell von ihm und der «inneren Form» zum Stereotyp nur ein kurzer
Weg ist. 28 Dieser Weg wird aber schon bei Herder zumindest zum Teil dadurch
blockiert, dass neben dem Begriff des Volks der der Menschheit steht, neben dem
der Einzelsprache derjenige der Sprache als einer Fähigkeit des Menschen, neben
dem der einzelnen Kultur der von Kultur an sich. Das Charakteristische des
Einzelnen wäre dann zumindest idealiter eingebettet in (und vermittelt mit)
dem Universellen des Menschen überhaupt: Es wäre egalitär eingebettet. Solche
Vermittlung be werkstelligt ein visuelles Medium vielleicht leichter als andere,
und Wieds Text schwankt notwendig zwischen verschiedenen Perspektiven hin
und her, wo Bodmers Porträts die Dargestellten immer wieder als ethnisch fremd
und «charakteristisch» und als Individuen sowie in ihrer Menschlichkeit und
Schönheit verwandt präsentieren. 29
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