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Leseprobe_Hortus Universalis

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Eva Maria Stöckler<br />

Johannes Simetsberger<br />

HORTUS<br />

UNIVERSALIS<br />

Roman<br />

HOLLITZER


<strong>Hortus</strong> <strong>Universalis</strong>


EVA MARIA STÖCKLER<br />

JOHANNES SIMETSBERGER<br />

HORTUS UNIVERSALIS<br />

Roman


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von<br />

Eva Maria Stöckler, Johannes Simetsberger:<br />

<strong>Hortus</strong> <strong>Universalis</strong>, Roman<br />

Hollitzer Verlag, Wien 2023<br />

Coverabbildungen:<br />

Vorderseite: Garten op. 69, Acryl auf Leinwand,<br />

Johannes Simetsberger 2011<br />

Rückseite: Epiphanie op. 68, Acryl auf Leinwand,<br />

Johannes Simetsberger 2011<br />

Foto: Eva Maria Stöckler<br />

Bildbearbeitung: Radoslaw Celewicz<br />

Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in der EU<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99094-074-7


INHALT<br />

I Sillianum 7<br />

II Et Resurrexit 79<br />

III Cis Et Trans 167<br />

IV Quid Est Veritas 229<br />

V Sacra Camenae Domus Concitis<br />

Carmine Patet Quo Nos Attonitos<br />

Numen Ad Auras Ferat 283<br />

Postludium 321<br />

Appendix 327


I SILLIANUM


Sonntag, 20. März 2011, 11:21 Uhr<br />

Liebe Elisabeth!<br />

Wir sind nun in Sillian. Wirklich angekommen bin ich aber<br />

noch nicht. Es ist alles noch zu neu. Immerhin unterrichte<br />

ich seit Semesterbeginn an meiner neuen Volksschule. Heute<br />

Sonntagvormittag finde ich hoffentlich Zeit, wenigstens ein<br />

paar Zeilen zu schreiben. Ich sitze in der Café-Konditorei-<br />

Bäckerei-Pension Pichler und habe einen Platz gefunden,<br />

wo ich mich wenigstens für eine Stunde in einen Winkel<br />

zurückziehen kann. Das Café ist leer, die Einheimischen sind<br />

noch in der Kirche. Ich kann auch nicht allzu lange von zu<br />

Hause weg.<br />

Antonia geht es von Tag zu Tag schlechter, zumindest empfinde<br />

ich das so. Seit wir in Osttirol sind, spricht sie nur mehr<br />

italienisch. Man könnte meinen, das kommt von der Nähe zur<br />

italienischen Grenze. Sicher war es auch der Umzug, der an<br />

unser aller Nerven gezehrt hat. Sie erkennt uns kaum noch,<br />

ihr Alzheimer deckt sie mehr und mehr zu. Im Jänner, kurz<br />

nach unserer Ankunft, hatten Franziska und ich eine hässliche<br />

Aufregung durchzumachen. Es war ein bitterkalter Tag,<br />

eine gebirgige Kälte, an die ich mich noch gewöhnen muss,<br />

wie an so vieles andere hier. Der Lastwagen mit unseren<br />

Möbeln war eben vorgefahren, wir hatten alle Hände voll zu<br />

tun, den Männern von der Spedition Anweisungen zu geben<br />

und die Kartons und Möbel so rasch als möglich ins Haus<br />

zu schaffen. In dieser allgemeinen Verwirrung war Antonia<br />

plötzlich verschwunden. Sie war nirgendwo zu finden. Die<br />

Speditionsleute waren gerade abgefahren, als die verzweifelte<br />

Sucherei begann. Im ersten Schock wussten wir nicht,<br />

was wir tun sollten. Wir kannten noch niemanden. Doch<br />

im richtigen Augenblick kam der Hutmacher vorbei, das ist<br />

einer unserer Nachbarn, um uns neugierig in Augenschein zu<br />

nehmen. Er war unsere Rettung und reagierte als Mitglied<br />

9


der Freiwilligen Feuerwehr geistesgegenwärtig, trommelte<br />

die Kameraden zusammen und nicht einmal zwanzig Minuten<br />

später begaben sie sich auf die Suche nach Antonia. So<br />

klein der Ort auch ist, sie hätte überall sein können. Zudem<br />

war die Sonne längst hinter den Bergen verschwunden und<br />

es dunkelte. Antonia hatte keine passende Kleidung dabei,<br />

die Kälte wurde von Minute zu Minute grimmiger. Franziska<br />

weinte verzweifelt um ihre Mutter, ich versuchte sie zu<br />

beruhigen, was kaum möglich war. Aber wir hatten Glück.<br />

Jemand hatte den Bürgermeister angerufen und ihm mitgeteilt,<br />

dass eine offensichtlich verwirrte, alte Frau nahe der<br />

Ruine Heinfels gesehen worden war. Sofort wurden Franziska<br />

und ich mit dem Kommandowagen der Feuerwehr dorthin<br />

gebracht. Antonia war in der Tat bis in die Nachbarortschaft<br />

gelangt; hilfsbereiten Menschen war es gelungen, sie in ihr<br />

Haus zu bringen. Sie zitterte noch am ganzen Körper vor<br />

Angst und Kälte, als wir sie auf der Kachelofenbank sitzen<br />

sahen, im Haus der freundlichen Heinfelser. Ihre Augen<br />

waren weit aufgerissen, als wir sie sahen. Sie hatte uns offenbar<br />

erkannt. Nach einer Weile, als der Schreck ein wenig<br />

gewichen war, begann sie leise zu weinen. Franziska weinte<br />

auch. So saßen wir lange auf der Kachelofenbank eines uns<br />

unbekannten Hauses und ich glaube, dass Antonia ganz leise<br />

„Gondola, Gondola“ murmelte. Meine Erleichterung, dass<br />

wir sie so schnell gefunden hatten, war groß. Nicht auszudenken,<br />

wenn die Dorfbewohner sich nicht derart hilfsbereit<br />

und aufmerksam gezeigt hätten. Ich merkte, wie diese<br />

Erleichterung sich mit der wohligen Wärme des Kachelofens<br />

verband, und ich erinnerte mich an die Worte, die ich wohl<br />

bei Goethe gelesen hatte: Der Schmerzen wären minder unter<br />

den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht<br />

sind – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten,<br />

die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als<br />

eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.<br />

10


Ach ja. Vor unserem Umzug hat sich mein Onkel Ernst in<br />

Frankenburg erschossen. Das war am 4. Dezember. Ich<br />

musste zu allem Überdruss auch noch zum Begräbnis fahren.<br />

Meine Abwesenheit für eine Nacht (er wurde am 13. Dezember<br />

begraben und ich blieb bis 14., ehe ich wieder nach Linz<br />

zurückkehrte) war für Franziska eine große Belastung und<br />

ich muss ihr nachsehen, dass sie, als ich wieder zu Hause war,<br />

sehr unfreundlich zu mir war. Meine Mutter will seinen Hof<br />

jetzt so schnell als möglich verkaufen. Mir überließ sie seinen<br />

„Nachlass“, eine Holzkiste voller Papiere, Briefe und irgendwelcher<br />

Unterlagen, die ich nach Sillian mitgenommen habe.<br />

Ich bin aber – wie du dir denken kannst – noch nicht dazugekommen,<br />

sie genauer durchzusehen. Ich hatte andere Sorgen.<br />

Allerdings sind mir Briefe einer Nadja Auerbach aus Salzburg<br />

aufgefallen. Vielleicht eine Russin? Hast du nicht im Garten<br />

des Kardinal König Hauses in Wien erzählt, dass du in Salzburg<br />

Russisch gelernt hast? Es wird schon bald Mittag. Ich<br />

muss rasch nach Hause. Viel mehr kann ich dir heute nicht<br />

schreiben. Ich hoffe, dir geht es gut in Eisenstadt. Vielleicht<br />

möchtest du mir ja schreiben. Es würde mich sehr freuen. Ich<br />

bin dankbar über jede Nachricht von draußen.<br />

Liebe Grüße<br />

Alois<br />

Dienstag, 22. März 2011, 9:46 Uhr<br />

Lieber Alois!<br />

Es freut mich sehr von dir zu hören. Wie es scheint, hast du<br />

eine schwere Zeit hinter dir. Es tut mir leid, dass es deiner<br />

Schwiegermutter – ich nenne sie einmal so – schlecht geht.<br />

Damit habt ihr wohl zu eurer Eingewöhnung noch eine<br />

weitere Aufgabe zu bewältigen. Aber vielleicht ist sie ja diejenige,<br />

die, ohne es zu wissen und zu wollen, eure Integration<br />

11


in diesen Ort ermöglicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen,<br />

wie du es schaffst, aus der Stadt in dieses Bergdorf zu gehen.<br />

Ich kenne Sillian nicht, aber allein die Vorstellung dieses<br />

Ortes inmitten der Osttiroler Berge lässt Kälte und Einsamkeit<br />

Gestalt werden. Ich hoffe, dass es dir zumindest in der<br />

Schule gut geht. Ich denke, dass das mit Linz nicht zu vergleichen<br />

ist und du dort wenigstens unterrichten kannst und<br />

nicht die ganze Zeit Kinder disziplinieren musst.<br />

Ja, das ist richtig. Ich habe in Salzburg Russisch gelernt,<br />

und meine Russischlehrerin hieß Nadeschda Auerbach. Aber<br />

das kann doch nicht dieselbe sein? Nadja ist längst schon wieder<br />

in Russland oder verstorben. Ich weiß es nicht. Sie hat<br />

Russisch unterrichtet, war aber Musikerin. Ich hab sie sehr<br />

gemocht, eine kluge, aber melancholische Frau. Ich muss<br />

nachsehen, aber ich denke, irgendetwas von ihr hab ich sicher<br />

noch in meinen Salzburger Unterlagen (die mittlerweile<br />

wohl auch in den Tiefen eines Umzugskartons verschwunden<br />

sind.) Mit welcher Beiläufigkeit du vom Tod deines Onkels<br />

sprichst, erstaunt mich. Ein „ach ja“ stellt einen gewaltsamen<br />

Freitod wohl auf die Stufe „sonstiger Probleme“. Aber<br />

ich kenne eure Situation nicht und maße mir auch nicht an,<br />

darüber zu urteilen. Es scheint wohl eine schwierige Konstellation<br />

gewesen zu sein und er dürfte dir auch nicht sehr<br />

nahegestanden haben. Ich freue mich übrigens, dass unsere<br />

Begegnung in Wien auf diese Weise nachwirkt. Lass uns das<br />

behalten! Vielleicht macht es dir die Zeit in den Bergen etwas<br />

erträglicher, wenn du deine Tiroler Enge ein wenig in die<br />

Weite der pannonischen Ebene schicken kannst. Ich wünsche<br />

dir jedenfalls alles Gute! Ich bin schon neugierig darauf, wer<br />

DEINE Nadja ist. Und ich muss jetzt auch los. Unterricht!<br />

Liebe Grüße<br />

Elisabeth<br />

12


Dienstag, 22. März 2011, 17:06 Uhr<br />

Liebe Elisabeth!<br />

Die Berge kennen keine Gärten. Ich bin jetzt schon neugierig,<br />

ob das Feldchen hinter dem Haus wirklich das ist, was ich<br />

glaube, ein Gemüsebeet. Ein bisschen grünes Leben würde<br />

uns hier allen gut tun.<br />

Ich finde es wunderbar, dass du so rasch von dir hören hast<br />

lassen. Ist ja eine umtriebige Zeit in unserem „Geschäft“. Bis<br />

Ostern haben wir alle Hände voll zu tun. Das wird wohl<br />

im Gymnasium auch nicht viel anders sein, oder? Bin schon<br />

gespannt, was du aus der pannonischen Ebene zu berichten hast.<br />

Warum dieses Bergdorf? Ich glaube, die Handlungsmöglichkeiten<br />

des Menschen sind oft sehr beschränkt. Manchmal<br />

muss man sich zurücknehmen und den Willen anderer<br />

geschehen lassen. Es ist wie es ist. Franziska hätte es keinen<br />

Tag länger in Linz ausgehalten. So sind wir eben da. Und so<br />

schlimm ist es auch nicht. Mit der Einsamkeit magst du recht<br />

haben. Dafür habe ich im Moment auch keine Lösung. Es<br />

gibt hier zwar eine Unzahl an Vereinen und Möglichkeiten,<br />

ich tue mir damit aber recht schwer. Schützen, Jäger, Feuerwehr,<br />

Männergesangsverein, was weiß ich. So recht konnte<br />

ich mir noch keine Gedanken machen, wie ich hier Anschluss<br />

finden soll. Was die Kälte betrifft, täuscht du dich. Das<br />

Wochenende war schon sehr warm und man kann bereits<br />

ohne Mantel vors Haus gehen. Gestern hatten wir den<br />

Montag nach Josefi. Ein schulfreier Tag und wir saßen zum<br />

Mittagessen auf der Terrasse. Auf der sonnigen Talseite ist<br />

es schon aper und drecksbraun. Das lässt hoffen, dass es die<br />

Wiesen hier auch in Grün gibt. Nur mehr ein zehn Meter<br />

breites, weißes Band hin zur Seilbahntalstation trotzt dem<br />

Frühling – und dort haben die Schneekanonen nachgeholfen.<br />

Und nun zu den Briefen: Der Absender der Briefe an meinen<br />

Onkel lautet Nadja Iwanowna Auerbach. Soweit ich das<br />

13


isher überblicken konnte, sind die Briefe in der Holzkiste<br />

durchwegs von ihr (zumindest habe ich noch keinen anderen<br />

gefunden). Ich werde mich heute noch hinsetzen und mir<br />

die Sachen genauer anschauen. Im Anfang war der Zufall, und<br />

der Zufall war bei Gott, und Gott war der Zufall. Dieser war im<br />

Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch diesen gemacht, und ohne<br />

diesen ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben und<br />

das Leben war das Licht der Menschen. Salzburg passt auch. Der<br />

Onkel studierte, eher er Bauer wurde, in Salzburg.<br />

Beiläufigkeit: Noch einmal muss ich dir recht geben. Vielleicht<br />

habe ich ihm Unrecht getan mit meiner Beiläufigkeit.<br />

Ich habe sicher zu sehr an den Rest der Familie gedacht. Das<br />

hat er sich nicht verdient. Ich möchte das jetzt nicht ausführen.<br />

So viel will ich aber doch sagen: Etwas hat mich zu ihm<br />

hingezogen, die paar Mal, als ich ihn erlebt habe. Seelenverwandtschaft?<br />

Lassen wir das!<br />

Und abschließend: Nicht die ganze Zeit disziplinieren.<br />

Nein, das ist nicht meine Sache. Ich habe allerdings die Vermutung,<br />

dass das andere statt mir machen. Schau dir nur die<br />

Schulordnung an:<br />

1. Beim Eintreffen in der Schule oder in der Klasse grüße ich meine<br />

Lehrer und Mitschüler.<br />

2. Ich bin höflich, rücksichtsvoll und hilfsbereit, damit sich alle in<br />

unserer Schule wohl fühlen können.<br />

3. Ich befolge die Anweisungen der Lehrer.<br />

4. Ich halte Ordnung in der Garderobe und in der Klasse. Meinen<br />

Müll sortiere ich gewissenhaft.<br />

5. Raufen – auch aus „Spaß“ – und unnötiges Lärmen ist im<br />

Schulhaus und im Pausenbereich verboten. Laufen darf ich nur<br />

in der Turnstunde.<br />

6. Bei Stundenbeginn warte ich ruhig auf meinem Platz.<br />

7. In den kleinen Pausen halte ich mich in der Klasse auf. Zum<br />

Essen bleibe ich auf meinem Platz.<br />

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8. Fenster werden nur auf die Anweisung eines Lehrers geöffnet.<br />

9. Mit Einrichtungsgegenständen und Lehrmitteln gehe ich schonend<br />

um.<br />

10. Vor dem Heimgehen räume ich mein Bankfach aus und stelle den<br />

Stuhl hinein.<br />

Franziska ruft. Hochpustertaler Grüße!<br />

Alois<br />

Mittwoch, 23. März 2011, 20:33 Uhr<br />

Lieber Alois,<br />

also das klingt nach Schulalltag der 1950er Jahre. Und am<br />

Ende sitzen alle mit den Händen auf der Bank in der Klasse<br />

und der Lehrer zieht den schlimmen Schülern eine mit dem<br />

Rohrstock drüber.<br />

Dem Menschen ist die Freiheit geschenkt. Deshalb wird er verantwortlich<br />

und verbindlich handeln und leben. So klingt das im Leitbild<br />

des Wolfgartens. Mittlerweile bin ich richtig froh, dass<br />

ich keine Stelle in Wien oder Salzburg bekommen habe. Es<br />

ist schön hier und das wusste ich schon, als ich das erste Mal<br />

in Eisenstadt war. Sommer 1992 muss das gewesen sein. Ich<br />

hatte gerade mein erstes Jahr Russischunterricht bei Nadja<br />

hinter mir und sie meinte, ich könnte die besten Fortschritte<br />

machen, wenn ich im Sommer drei Wochen zum Intensivkurs<br />

nach Eisenstadt fahre. Der erste Eindruck war eine heiße Sommertrockenheit<br />

und nicht diese schwüle Feuchte, wie sie so oft<br />

über Salzburg hängt. Du siehst hinter dem Watzmann schon<br />

das Gewitter heraufziehen, aber anstatt Abkühlung zu bringen,<br />

lässt es Unwetter hageln und am Ende ist es so heiß wie zuvor.<br />

Und der zweite Eindruck: Die Menschen laufen hier nicht<br />

herum, als hätten sie links und rechts Scheuklappen, sie blicken<br />

dich an, sehen dir in die Augen, und nicht auf den Boden<br />

15


und durch dich hindurch. Sicher, die burgenländische Stumpfsinnigkeit<br />

gibt es wohl auch und diese seltsame „Landeshauptstadt“<br />

ist ein größeres Dorf. Aber sie will auch gar nichts<br />

anderes sein, gibt nicht vor, Metropole zu sein, gibt nicht<br />

vor, Zentrale zu sein, gibt nicht vor, irgendetwas zu sein,<br />

außer das, was sie ist: ein westungarisches Dorf, das zufälliger<br />

Weise in Österreich zu liegen kam. Wie anders war Salzburg:<br />

ein zu groß geratenes bayrisches Dorf, das – welche<br />

Parallele – auch mehr oder weniger zufällig in Österreich<br />

zu liegen kam, glaubt heute noch, eine Weltkulturhauptstadt<br />

zu sein. Ist ja nicht einmal eine katholische Hauptstadt, auch<br />

wenn die Fürsterzbischöfe immer noch den Purpur und das<br />

Pallium tragen. Primas Germaniae. Deshalb bin ich froh, an<br />

diesem unaufgeregten Ort zu sein. Und wenn es mir zu eng<br />

und zu weit wird, fahre ich nach Wien. Gehe ins Kino, ins<br />

Konzert – gerade letzten Samstag war ich im Musikverein.<br />

Barenboim spielte KV 488 und dann Beethoven op. 15 und<br />

einen spätromantischen Schönberg. So bemüht aufrichtig<br />

auch musiziert wurde, aber Schönberg bleibt in allem, was er<br />

komponiert hat, akademisch und kühl. Wunderbar für den<br />

Unterricht, um zu zeigen, „wie es geht“, aber in der unmittelbaren<br />

sinnlichen Auseinandersetzung mit der Musik im<br />

Konzert hat es immer den Anschein, er würde mit jeder Note<br />

eine gebührende Distanz einfordern. „Bleib zurück“ und das<br />

bei einem Stück wie „Pelleas und Melisande“. Bleib zurück,<br />

war wohl auch die Botschaft Melisandes, als sie Pelleas’<br />

Berührung zuließ. Und die Erkenntnis aus dem Brunnen der<br />

Blinden war nur die, dass sie am Ende den Tod finden würde.<br />

Ja, tief ist der Brunnen der Vergangenheit.<br />

Dennoch: Diese Zeit liegt jetzt auch hinter mir. Und ich<br />

bin sehr froh darum. Ich habe dir ja erzählt, dass ich die<br />

letzten zwei Jahre eine grafische Ausbildung in St. Pölten<br />

gemacht habe – letztlich der Grund für meine Anstellung in<br />

Eisenstadt – und diese Freitage und Samstage in St. Pölten<br />

16


waren ja auch mehr als nur Studienzeit. Manchmal kann<br />

man dem eigenen Leben nicht entkommen, auch wenn man<br />

es wollte und alles dafür tut.<br />

Am Ende sind die Grenzen, an die man stößt, jene Grenzen<br />

in uns, die wir als allerletzte oder nie überwinden können.<br />

Ich wünsche dir sehr, dass du mit dem Umzug deine Grenzen<br />

etwas weiter vorgeschoben hast, und dass es für euch alle<br />

dort, wo ihr nun seid, besser ist als zuvor.<br />

Ich werde mich die nächsten Tage daran machen, die<br />

alten Sachen aus Salzburg hervorzukramen. Bis Ostern habe<br />

ich mit meinen Schülern noch ein Projekt fertig zu stellen.<br />

Durch den Ausfall eines Kollegen musste ich seit Semesterbeginn<br />

auch eine Deutschklasse übernehmen, samt den dazugehörigen<br />

Schularbeiten für Siebtklässler.<br />

Liebe Grüße<br />

Elisabeth<br />

Mittwoch, 23. März 2011, 22:41 Uhr<br />

Liebe Elisabeth!<br />

Franziska schläft nebenan auf der Couch, also nutze ich die<br />

Gelegenheit, dir ein paar Zeilen zu schreiben. Antonia, die<br />

„Schwiegermutter“, wie du sie wohl im Scherz nanntest, schaut<br />

Rai Uno. Wir stellen ihr, seit wir hier sind, gern diesen Sender<br />

ein. Es beruhigt sie. Sie kann oft sehr cholerisch sein. Das<br />

war sie früher nie, meint Franziska. Wie wir wissen, kommt<br />

es bei ihrer Krankheit mitunter zu sehr bedauerlichen Persönlichkeitsveränderungen.<br />

Man muss es hinnehmen. Es gibt ja<br />

doch keine Rettung. Keine Hoffnung. Es ist so friedlich im<br />

Hier und Jetzt. Sie schaut in den Fernseher und ist irgendwo.<br />

Das Programm beruhigt, tröstet sie vielleicht sogar. Dabei zeigen<br />

sie gerade eine geschmacklose Spielshow. Mich regen diese<br />

Shows ja eher auf. Zumal ich nur jedes 5. Wort verstehe, weil<br />

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ich es bis dato nicht geschafft habe, diese Sprache zu erlernen.<br />

Trotz des Umstandes, dass ich seit fast vier Jahren mit eineinhalb<br />

Italienerinnen unter einem Dach wohne.<br />

Du hast diese sprachliche Begabung! Es gefällt mir auch,<br />

wie du über Musik schreibst. Man möchte dabei gewesen sein,<br />

so lebendig erzählst du. Ich bin über das Gitarren-Schrumm-<br />

Schrumm eines anständigen Volksschullehrers nicht hinausgekommen.<br />

Und das nahm ich auch nur auf mich, weil ich<br />

Kinder unterrichten wollte. Immer schon. Und weil sie mich<br />

sonst nicht durch die Pädagogische Akademie gelassen hätten,<br />

habe ich mich mit der Gitarre gequält. Das einfachste Instrument<br />

überhaupt. Und singen. Grässlich, wenngleich man mir<br />

eine schöne Bassstimme nachgesagt hat. Mit den Kindern ist<br />

das etwas anderes. Da kann sogar ich zum Musiker werden. Sie<br />

sind in ihrer Ungezwungenheit so ansteckend, dass ich gerne<br />

singe. Meine Kleinen, die Gitarre, schrumm, schrumm …<br />

Ja: ich und die Musik … Mit dem Turnen verhält es sich<br />

genau so. Die Kleinen und ich – du solltest uns sehen. Aber<br />

„freiwillig“? Nein danke! Ich kann dir jetzt schon sagen, dass<br />

die Berge Berge bleiben werden. Da sollen andere hinauflaufen<br />

und sich abmühen. Es hat schon seinen Grund, warum die<br />

Dörfer in den Tälern sind und nicht auf den Gipfeln. Aber<br />

ich will dir nicht auf die Nerven gehen. Natürlich hat alles<br />

seine Berechtigung, Musik machen, Bewegung, die Berge.<br />

Ich habe es halt noch nicht verstanden. Ich nehme mir vor,<br />

dahinter zu kommen. Spätestens, wenn ich meine Höhenangst<br />

überwunden habe.<br />

Du hast’s gut! Wien. Stadt. War schön in Wien. Frühling.<br />

Sonne. Garten. Ich will nicht schon wieder jammern, aber<br />

meine nächsten Städte sind in unerreichbarer Entfernung,<br />

Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt. Was soll’s. Dafür kann<br />

man hier gut nachdenken. Keine Ablenkung. Beim Malen<br />

ging mir heute Nachmittag noch einmal durch den Kopf,<br />

was ich über Ernst gesagt habe. Und wie dumm es von mir<br />

18


war, so beiläufig von seinem selbst gewählten Tod zu schreiben.<br />

Weiß der Teufel, was mir da eingefallen ist. Ich schäme<br />

mich noch ein bisschen. Er ist doppelt tot. Totgeschwiegen<br />

und Totgeschossen. Eine Erinnerung an ihn möchte ich mit<br />

dir teilen, weil ich das Gefühl habe, etwas gut machen zu<br />

müssen. Schreib mir, wenn ich dich langweile. Ich bin mir<br />

nicht sicher, ob ich dir damit zur Last falle.<br />

Es war 1994, Frühsommer, um den 13. Juni herum. Kurz<br />

vor Abschluss der Pädagogischen Akademie in Linz war ich<br />

bei meinen Eltern, um für die Abschlussprüfung zu lernen.<br />

Ich beschloss, meinen Onkel zu besuchen. Ich nahm das Rad<br />

der Mutter – es war ja nicht weit. Nachdem ich ihn auf dem<br />

Hof nicht angetroffen hatte, nahm ich an, dass er bei den<br />

Fischteichen sein würde. Die drei Fischteiche gab es immer<br />

schon. Man musste zu Fuß einen Abhang hinunter in eine<br />

Senke, an drei Seiten der Hausruckwald. Mir war nie klar,<br />

ob es sich um einen Teich oder um drei Teiche handelte. Sie<br />

waren wesensgleich und unterschieden sich nur in der Farbe.<br />

Man konnte meinen, sie bezögen sich aufeinander und waren<br />

doch abgetrennt in ihrer Gestalt. Wenn die Sonne hoch am<br />

Himmel stand, sah es aus, als wäre der erste blau, während<br />

der mittlere grün schimmerte. Der dritte wirkte bräunlich.<br />

Der grüne Teich ging aus dem blauen Teich hervor, während<br />

der braune aus dem grünen hervorzugehen schien. Insgesamt<br />

waren sie eine Einheit. Ich sah Ernst auf seiner Bank sitzen,<br />

einer Bank, die er sich selbst aus einem Baum geschnitten<br />

hatte. Eine Form von Bänken, bei der man einen Baum der<br />

Länge nach durchschneidet – der eine Teil bildet dann die<br />

Lehne, der andere die Sitzfläche. Dort saß er nahe am Ufer,<br />

man konnte kaum zwischen der Bank und dem Teich durchgehen.<br />

Ich winkte ihm von weitem, aber er schien mich nicht<br />

wahrzunehmen. Ich ging auf ihn zu und verlangsamte allmählich<br />

meine Schritte. Etwas Feierliches schien da vor sich<br />

zu gehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl – was weiß ich, was er<br />

19


da trieb – ihn nicht stören zu dürfen. Also schlich ich mich –<br />

auf Hörweite – an ihn heran. Obgleich ich in seiner Nähe<br />

war, unübersehbar, nahm er mich noch immer nicht wahr. Er<br />

starrte auf die Wasseroberfläche; dabei sprach er leise vor sich<br />

hin. Niemalen, g’ fallen. Die Worte waren zu undeutlich, als<br />

dass ich den Sinn hätte erfassen können. Zum einen war ich<br />

verwirrt von der Szene, zum anderen erschien mir das Bild<br />

auf eine Weise erhaben, wie ich es mir bis heute nicht erklären<br />

konnte. So stand ich wie angewurzelt da und beobachtete<br />

ihn. Erst etwas später entdeckte ich, dass vor ihm, unter der<br />

Wasseroberfläche, ein Schwarm Fische schwamm. Es schien,<br />

als hätten sich alle Fische des Teiches vor ihm versammelt.<br />

Und das Seltsame daran war, dass er sie nicht fütterte. So<br />

saß er da, in dem alten abgetragenen Sakko. Die Fische vor<br />

ihm im Wasser. Ich weiß nicht, ob ich übertreibe, aber ich<br />

denke, dass ich dort mindestens zwanzig Minuten gestanden<br />

hatte und meinen Onkel beobachtete wie er … Ich schaffte<br />

es nicht, ihn anzusprechen und ihn aus seinem Zustand zu<br />

holen. Das wäre unpassend gewesen. Also ging ich wieder.<br />

Beim Zurückfahren kamen mir die Worte wunderlicher Alter<br />

in den Sinn. Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.<br />

Jetzt Nachrichten. Auch in italienischer Sprache klingen<br />

die Nachrichten grausam und beängstigend. Ich mag Nachrichten<br />

noch weniger als Spielshows. Egal ob in Italienisch<br />

oder Deutsch. Ich bin nachdenklich und will dich nicht<br />

anstecken. Gefühle sind ansteckend. Beim nächsten Mal will<br />

ich fröhlicher enden. Ich muss jetzt meine eineinhalb Italienerinnen<br />

ins Bett bringen …<br />

Gute Nacht und melde dich, wenn du deine Salzburgschachtel<br />

gefunden hast. Und melde dich auch, wenn du die<br />

Salzburgschachtel nicht gefunden hast. Es tut gut, von dir<br />

zu hören.<br />

Alois<br />

20

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