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April 2022<br />

Adar II 5782<br />

#4. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

wina-magazin.at<br />

„So arbeitet<br />

eine Diktatur“<br />

Einschüchterung, Verhaftung,<br />

manipulierte Medien. Grigory<br />

Sverdlin hat gegen den Krieg protestiert<br />

und musste aus Russland flüchten<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W /<br />

JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

04<br />

9 120001 135738<br />

Odessa – eine Stadt der<br />

Dichter und des Zionismus<br />

Geschichte und Gegenwart der strategisch<br />

wichtigen Hafenstadt, die als Zentrum<br />

osteuropäisch-jüdischer Kultur gilt<br />

Pessach mit Heinrich Heine<br />

Als der Rabbi von Bacherach<br />

zu Pessach zur Besuch kam<br />

cover_0322.indd 2 07.04.22 16:44


Sehen Sie die Welt aus<br />

unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />

DiePresse.com/Sonntagsabo<br />

Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />

cover_0322.indd 3 07.04.22 16:44


Der Krieg tobt nicht nur in<br />

der Ukraine, Demonstration<br />

gegen den Krieg in der Ukraine in<br />

Frankfurt am Main.<br />

© Boris Roessler / dpa / picturedesk.com<br />

Editorial<br />

Die Erzählung vom Auszug der Juden aus Ägypten,<br />

die jedes Jahr zu Pessach aus der Haggada<br />

vorgelesen wird, ist wohl die älteste kontinuierlich<br />

erzählte Geschichte der Freiheit. Die Rituale, die das<br />

Fest begleiten, sind seit Jahrtausenden so unverändert<br />

wie die Geschichte selbst. Wir essen statt Brot<br />

Matze, um uns an die Eile zu erinnern, mit der wir<br />

über Nacht aus Ägypten fliehen mussten. Wir beißen<br />

in Maror und erinnern uns an die Bitterkeit der Unterdrückung<br />

als Sklaven. Wir sitzen auf Polstern und<br />

lehnen uns nach hinten, um uns daran zu erinnern,<br />

dass wir mit der Flucht die Freiheit erlangten. Und<br />

wir feiern den Sederabend zu Hause mit unserer Familie<br />

und unseren Freunden, um an diesem<br />

Abend nicht nur die Freiheit selbst, sondern<br />

auch die Kraft der Familie zu feiern, die uns<br />

gegen Unterdrücker, gegen die Widrigkeiten<br />

des Lebens schützen kann.<br />

Moses, der die Sklaven aus Ägypten herausführte<br />

und sie zum Volk werden ließ, forderte<br />

die Menschen mehrmals auf, die Geschichte<br />

des Auszugs ihren Kindern und<br />

allen nachfolgenden Generationen zu erzählen.<br />

Moses verstand, dass die Freiheit zu erlangen<br />

notwendig war, um eine freie Gemeinschaft<br />

aufzubauen. Freiheit auf Dauer<br />

zu behalten, kann jedoch nur durch Bildung<br />

gelingen, und die beste Bildung erreichen<br />

wir immer noch durch das Erzählen von Geschichten,<br />

denn spannende Storys prägen<br />

sich besser ein als schnöde Fakten. Das wissen Lehrer,<br />

Werbefachleute und Autor:innen gleichermaßen.<br />

Denn wir brauchen Geschichten. Wir brauchen<br />

Märchen, Sagen und Legenden um die Welt um uns<br />

zu entschlüsseln und zu verstehen. Hätten die Menschen<br />

nicht bereits in Urzeiten angefangen, ihre Erfahrungen<br />

in Geschichten zu verwandeln, hätte die<br />

Menschheit vermutlich nicht bis heute überlebt.<br />

Nach Moses sollen die Eltern aber nicht über die<br />

Freiheit erzählen, sondern vor allem über die Unterdrückung<br />

und den Ausbruch aus ihr. Denn dieses<br />

Wissen, unterstützt durch die traditionelle Dramaturgie<br />

eines Sederabends, die es erfahrbar macht,<br />

soll den Wunsch nach Freiheit in uns auf lange Sicht<br />

erhalten.<br />

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine führt uns den<br />

Verlust der Freiheit hautnah vor Augen, macht aber<br />

auch die Kraft einer Gemeinschaft und ihres Glaubens<br />

an den Sieg über ihren Unterdrücker deutlich.<br />

Und gleichzeitig spüren wir auch, dass der Krieg<br />

nicht nur dort, sondern in uns allen ausgetragen<br />

wird.<br />

Deshalb wünsche ich uns allen wunderbare Feiertage<br />

im Kreise unserer Lieben, die zumindest den<br />

persönlichen inneren Frieden für einige Zeit einstellen<br />

lassen.<br />

Julia Kaldori<br />

„Um ein Land<br />

zu verteidigen,<br />

braucht man<br />

eine Armee, aber<br />

um eine Zivilisation<br />

zu verteidigen,<br />

braucht<br />

man Bildung. “<br />

Rabbi Lord<br />

Jonathan Sacks<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

Edi0422_korrAH.indd 1 11.04.22 13:53


S.16<br />

Aus dem ehemals kosmopo litischen Odessa<br />

floh bereits die Hälfte der jüdischen Bevölkerung.<br />

Die Älteren und Kranken werden ein<br />

trauriges, entbehrungsrei ches Pessachfest<br />

feiern müssen.<br />

INHALT<br />

Coverfoto: xxxxxxx<br />

„Vor dem Angriffskrieg<br />

der Russen am<br />

24. Februar 2022 lebten<br />

unserem Wissen nach<br />

45.000 Juden<br />

in Odessa.“<br />

Rabbi Mendy Wolf<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

05 Wir müssen helfen<br />

Sowohl an der ZPC- wie an der<br />

Chabad -Schule wurden sofort die<br />

Ärmel hochgekrempelt, um jüdischen<br />

Geflüchteten zu helfen.<br />

08 Eine ganze Nation wartet<br />

Israel rechnet mit einer enormen<br />

Einwan derungswelle aus der Ukraine<br />

und ist bereit, jedem jüdischen<br />

Flüchtling ein Zuhause zu bieten.<br />

12 Andere Fluchtbewegung<br />

Leise und abseits von Fernsehkameras<br />

verlassen vor allem Jüngere, gut<br />

Gebildete das Russland Putins – darunter<br />

auch Grigory Sverdlin.<br />

16 Stadt des Zionismus<br />

Aus der kosmopo litischen Hafenstadt<br />

Odessa floh bereits die Hälfte<br />

der jüdischen Bevölkerung.<br />

22 Grenzen des Leistbaren<br />

Die Wienerin Deborah Hartmann leitet<br />

seit Ende 2020 die Gedenk- und<br />

Bildungsstätte Haus der Wannsee<br />

Konferenz.<br />

26 Meine Großeltern, die Nazis<br />

Es ist immer mehr die Enkelgeneration,<br />

die nachfragt. Ein schmerzliches<br />

Unterfan gen, dem Uli Jürgens in ihrer<br />

Dokumentation nachspürt.<br />

30 Patronen für alle<br />

Der österreichische Industrielle Fritz<br />

Mandl exportierte in den 1930er-Jahren<br />

illegal in zahlreiche Länder. Eine<br />

neue Biografie beschreibt seine dunklen<br />

Talente.<br />

32 Jüdische k. u. k. Soldaten<br />

Ein neues Buch erzählt die Geschichte<br />

der Juden in der österreich ischungarischen<br />

Armee von 1788 bis 1918.<br />

34 Wiener Möbel<br />

Ein neuer Bildband würdigt die kreativen<br />

Leistungen der meist jüdischen<br />

Designerinnen und Designern im<br />

Wien der 1920er- und 1930er- Jahre.<br />

„Russland ist kein demokratischer<br />

Staat.<br />

Es ist nicht einmal ein<br />

Rechtsstaat. Die Polizei<br />

kann alles mit dir<br />

machen, und du<br />

kannst dich<br />

nicht wehren.“<br />

Grigory Sverdlin<br />

S.12<br />

S.37<br />

Das große Putzen<br />

Pessach steht vor der Tür. Damit auch das letzte Krümelchen Chametz keine<br />

Chance hat, hat WINA ein paar saubere Produkte zusammengestellt.<br />

KULTUR<br />

40 Seder mit Heinrich Heine<br />

Heinrich Heine war so etwas wie der<br />

literarische Hausgott in vielen bildungsbürgerlichen<br />

jüdischen Familien.<br />

43 Ausflug ins Todeslager<br />

Yasmina Rezas neuer Roman Serge ist<br />

tabu lose, kluge Unter haltung mit Tiefgang,<br />

die sich unter der changierenden<br />

Oberfläche versteckt.<br />

44 We are family<br />

Das Jüdische Filmfes tival Wien präsentiert<br />

ein Programm von ineinandergreifenden<br />

Rei hen, Hommagen und<br />

aktu ellen internationalen filmi schen<br />

Stimmen.<br />

46 Der weibliche Körper<br />

Die australische Regisseurin Adena<br />

Jacobs präsentiert ihre erste Arbeit am<br />

Wiener Burgtheater: Die Troerinnen<br />

von Euripides in einer neuen Fassung.<br />

49 Bibel und Mossad<br />

Eine Wasserleiche am Strand und ein<br />

abgelegtes Frühchen: zwei Fälle für Inspektor<br />

Avi Avraham in Dror Mishanis<br />

Kriminalroman Vertrauen.<br />

50 Frankreich bis Burgenland<br />

Quer durch Europa haben Juden seit<br />

dem 13. Jahrhundert ihre kulturellen<br />

und religiösen Spuren hinterlassen.<br />

Wir besuchen drei Synagogen.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Die jüngsten Anschläge in Israel bilden<br />

zugleich ein tragisches Mosaik<br />

der Vielfalt. Von Gisela Dachs<br />

37 WINA_Lebensart<br />

Das große Putzen – mit den richtigen<br />

säubernden Accessoires<br />

38 WINA_kocht<br />

Am Seder: Warum verstecken wir<br />

Mazze, und lehnen wir uns an?<br />

53 Urban Legends<br />

Paul Divjak auf Wieder - und Neuentdeckung<br />

der Beastie Boys.<br />

54 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den April<br />

WINA ONLINE:<br />

wina-magazin.at<br />

facebook.com/winamagazin<br />

56 Das letzte Mal<br />

Claudia Prutscher, Vizepräsidentin<br />

der IKG, über griechische Hunde<br />

und burgenländische Hochzeiten<br />

„Die Leute hier sind<br />

großar tig, es ist<br />

wie in einer<br />

großen<br />

Familie.“<br />

Flora in Nof HaGalil<br />

S.08<br />

Israel rechnet mit einer<br />

enormen Einwanderungswelle<br />

aus der Ukraine und ist bereit,<br />

jedem jüdischen Flüchtling ein<br />

Zuhause zu bieten.<br />

2 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

3


Erholen können<br />

„Wir müssen alles zur Seite legen<br />

und helfen“<br />

Bis Mitte März sind bereits an die 500 jüdische Geflüchtete<br />

aus der Ukraine in Wien angekommen, unter ihnen<br />

viele Klein- und Schulkinder. Hunderte weitere wurden<br />

erwartet. Sowohl an der ZPC- wie auch an der Chabad-<br />

Schule wurden sofort die Ärmel hochgekrempelt: Jedes<br />

Kind, das eine jüdische Schule besuchen möchte, soll<br />

dies auch tun können.<br />

Von Alexia Weiss<br />

© WINA/Alexia Weiss; Lauder-Chabad<br />

Wie wir das schaffen werden? Ich<br />

habe noch keine Antwort“, sagt<br />

Rabbiner Jacob Biderman, Leiter<br />

des Lauder Chabad-Campus im Augarten.<br />

„Aber wir müssen jedes Kind aufnehmen,<br />

wir werden niemandem absagen.“<br />

Ebenso sieht das Natalie Neubauer, Vorsitzende<br />

des Schulvereins der Zwi-Perez-Chajes-Schule<br />

im Prater. Wenn langfristiger<br />

Bedarf an Kindergarten- und Schulplätzen<br />

bestehe, werde man diese schaffen –<br />

„nach bestem Wissen und Gewissen, mit<br />

enden wollenden Ressourcen, aber mit aller<br />

Kraft, die uns zur Verfügung steht“.<br />

Die ZPC-Schule wurde so konzipiert,<br />

dass im Bedarfsfall ein Stockwerk aufgesetzt<br />

werden kann. Im Notfall könne man<br />

sich als Provisorium aber auch wie schon<br />

am früheren Standort in der Castellezgasse<br />

mit Containern im Garten behelfen. Biderman<br />

ist bereits dabei, sich nach Räumen<br />

nahe des Campus umzusehen, die angemietet<br />

werden können. An beiden Schulen<br />

lernen bereits die ersten ukrainischen<br />

Kinder und Jugendliche. Wie viele es insgesamt<br />

noch werden und wie viele von ihnen<br />

langfristig in Wien bleiben werden, steht<br />

allerdings in den Sternen. Denn selbst die<br />

Betroffenen wissen derzeit noch nicht, wie<br />

ihre Zukunft aussehen wird.<br />

Oleg Vaikhonskyi und seine Frau Oksana<br />

Vaikhonska sind mit ihrem fünfjährigen<br />

Sohn Simon und ihrem 13-jährigen Labrador<br />

aus der Nähe von Kiew in Richtung<br />

Wien aufgebrochen. In aller Früh packten<br />

sie das Nötigste zusammen und machten<br />

sich mit ihrem Auto auf den Weg. Zurück<br />

blieb das Haus, das sie in den vergangenen<br />

zweieinhalb Jahren gebaut und eben erst<br />

bezogen hatten. „Das Einzige, was für uns<br />

in dem Moment wichtig war, war, unseren<br />

Sohn in Sicherheit zu bringen“, erzählt<br />

Oksana. Sie arbeitete in Kiew als Lifestyle-<br />

Journalistin. Ihr Mann hat Internationale<br />

Beziehungen studiert und war in einem<br />

Landwirtschaftskonzern tätig. Die Ukraine<br />

sei ihre Heimat, und auch wenn dort nicht<br />

alles perfekt und so sauber wie in Wien sei,<br />

irgendwann wolle sie wieder zurück, sagt<br />

Oksana. „Wir sind auch bereit, unser Land<br />

wieder aufzubauen.“<br />

Ihr Mann ist zurückhaltender. Selbst<br />

wenn der Krieg bald vorbei wäre, gäbe es<br />

in der Ukraine nichts zu essen. Jobbedingt<br />

wisse er, dass es heuer keine Ernte geben<br />

werde. „Wenn der Treibstoff von der Armee<br />

gebraucht wird, wie soll man die Felder<br />

bestellen? Und wenn Panzer über die<br />

Felder fahren, was soll man dort ernten?“<br />

Ein, zwei Jahre werde die Familie also auf<br />

jeden Fall in Österreich bleiben. Oder auch<br />

länger. „Als wir die Schule gesehen haben,<br />

überkam mich das Gefühl,<br />

dass mein Sohn hier seinen<br />

Abschluss machen wird.“<br />

Derzeit besucht der Vorschüler<br />

eine Willkommensklasse<br />

an der ZPC-Schule.<br />

Hier gibt es für die Kinder<br />

Betreuung durch auch Russisch<br />

und Ukrainisch sprechende<br />

Pädagoginnen. „Das<br />

ist ein Angebot, um hier in<br />

einen Alltag hineinzufinden“,<br />

„Wir müssen jedes<br />

Kind aufnehmen,<br />

wir werden niemandem<br />

absagen.“<br />

Rabbiner Jacob<br />

Biderman, Leiter des<br />

Lauder-Chabad-Campus<br />

Gemeinschaft und<br />

Integration. Geflohene<br />

Kinder können<br />

in ihrer Sprache sprechen,<br />

sich erholen und<br />

in Kontakt mit anderen<br />

Schüler:innen kommen.<br />

wına-magazin.at<br />

5


Erste Kontakte<br />

Weiter unterrichten<br />

Am Eingang<br />

der ZPC-Schule.<br />

6 wına | April 2022<br />

Schüler Michael<br />

(Mitte) mit Freunden<br />

aus der ZPC-Schule:<br />

„Jetzt muss ich neue<br />

Pläne machen.“<br />

Willkommen.<br />

Kinder im Sesselkreis<br />

am Lauder-Chabad-Campus.<br />

Rabbiner Jacob<br />

Biderman wird die<br />

Schule für den neuen<br />

Bedarf erweitern.<br />

erklärt Daniela Davidovits-Nagy, die sich<br />

im Vorstand der ZPC-Schule der Hilfe für<br />

geflüchtete Kinder aus der Ukraine angenommen<br />

hat. „Die Kinder können in ihrer<br />

Sprache sprechen, sich ein bisschen erholen,<br />

können aber auch in Kontakt mit anderen<br />

Schülern kommen – in Pausen, bei den<br />

Mahlzeiten, bei Festen.“ Purim wurde bereits<br />

gemeinsam gefeiert. Langfristig sollen<br />

jene, deren Familien sich dazu entschieden<br />

haben zu bleiben, in die Klassen integriert<br />

werden. Für Ältere sind zu Beginn in Kooperation<br />

mit dem Jüdischen Beruflichen<br />

Bildungszentrum (JBBZ) Deutschintensivkurse<br />

angedacht, erzählt Davidovits.<br />

Wir wollen hier bleiben. Einer von ihnen ist<br />

Michael. Er ist 16 Jahre alt und mit seiner<br />

Mutter und seinen Großeltern aus Charkiw<br />

nach Wien geflüchtet. Vater hat er keinen<br />

mehr, er wurde vor einigen Jahren bei einem<br />

Überfall auf das Haus der Familie ermordet.<br />

Wien kannte er schon von einer<br />

Reise hierher vor drei Jahren. Und wenn<br />

man ihm zuhört, ist er gekommen, um zu<br />

bleiben. „Es kommt nun nur darauf an, ob<br />

meine Mutter einen Job findet.“<br />

Michael möchte rasch Deutsch lernen,<br />

die Matura machen und dann hier an einer<br />

Universität studieren. Dass das in nächster<br />

Zeit sehr viel Lernen bedeuten wird, weiß<br />

er. Etwas brüchig wird sein Tatendrang,<br />

wenn er erzählt: „Ich hatte große Pläne in<br />

Charkiw. Ich wollte die Schule fertigmachen<br />

und danach an eine Universität in<br />

Europa gehen. Jetzt muss ich neue Pläne<br />

machen.“ Dass er jemals nach Charkiw zurückgehen<br />

könnte, diese Möglichkeit sieht<br />

er nicht. „1,5 Millionen Menschen lebten<br />

dort, jetzt sind nur mehr 300.000 geblieben.<br />

Die meisten von ihnen sind ältere<br />

Leute und solche, die zu arm waren, um<br />

zu flüchten.“ Die Stadt sei kaputt, „meine<br />

Schule steht auch nicht mehr“.<br />

„Sehr viele sagen, dass sie auch, wenn<br />

der Krieg vorbei sein wird, hier bleiben<br />

wollen“, weiß Rabbiner Jacob Biderman.<br />

Städte wie Mariupol oder Charkiw seien<br />

zerstört. Die jüdische Infrastruktur in der<br />

Ukraine wurde in den vergangenen Jahrzehnten<br />

von Chabad aufgebaut – über 40<br />

Schulen und Kindergärten werden beziehungsweise<br />

wurden landesweit betrieben,<br />

einige davon in Dnipro, wo bisher 40.000<br />

Juden und Jüdinnen lebten und sich das<br />

Menora-Center befindet. Shmuel Kaminetsky<br />

ist Rabbiner in Dnipro – und ein<br />

Schulfreund des Wiener Rabbiners. Über<br />

diese Verbindung kommen seit März laufend<br />

Familien aus Dnipro in Wien an; teils<br />

© WINA/Alexia Weiss; Lauder-Chabad<br />

hier rasch alle neu aufgenommenen Kinder<br />

gemeinsam mit den Schüler:innen<br />

unterrichten, die schon bisher die Schule<br />

besuchten. Das würden sich auch die Eltern<br />

der ukrainischen Mädchen und Buben<br />

wünschen. Deutschunterricht findet<br />

an der Chabad-Schule bereits für die geflüchteten<br />

Kinder statt.<br />

Sowohl seitens der ZPC- wie auch der<br />

Chabad-Schule wird betont, es sei einzig<br />

Entscheidung der Eltern, in welche Schule<br />

ihre Kinder schließlich gehen. Wobei Rabbiner<br />

Biderman betont, dass viele Kinder,<br />

die in der Ukraine eine Chabad-Schule besuchten<br />

und nun hierher kämen, nicht religiös<br />

seien; nur ein Drittel spreche Hebkommen<br />

Kindergruppen sogar mit ihren<br />

Elementarpädagoginnen und Lehrern.<br />

Rabbiner Biderman stellte am Chabad-<br />

Campus sofort Raum zur Verfügung, damit<br />

die Schülerinnen und Schüler weiter<br />

unterrichtet werden können. An die 200<br />

Kinder und Jugendliche dockten im Lauf<br />

des März schon hier an.<br />

„Was mich sehr gerührt hat: Ich gehe mit<br />

einer Mutter in eine Kindergartengruppe,<br />

und sie sieht die Elementarpädagogin<br />

und beginnt zu schreien, und die beiden<br />

Frauen umarmen einander und weinen,<br />

und es stellte sich heraus, das war schon<br />

in der Ukraine die Pädagogin der Tochter<br />

gewesen.“ Was den Rabbiner noch bewegt:<br />

„Die Gemeinde übersiedelt zusammen. Es<br />

ist ein Schochet mitgekommen, ein Sojfer,<br />

ein Mohel. Eine Gemeinde, die fliehen<br />

musste, bildet sich hier wieder.“<br />

Wie auch an der ZPC-Schule, die Mitte<br />

März etwa ein Dutzend Kinder betreute, ist<br />

am Chabad-Campus das langfristige Ziel,<br />

die ukrainischen Schülerinnen und Schüler<br />

gemeinsam mit den österreichischen<br />

zu unterrichten. Da wegen des Chabad-<br />

Netzwerks derzeit mehr Schüler:innen in<br />

der Schule im Augarten anklopfen, wird<br />

es dort allerdings rascher nötig sein, neue<br />

Klassen zu öffnen. Rabbiner Biderman will<br />

Sie haben<br />

Fragen an das<br />

Bundeskanzleramt?<br />

service@bka.gv.at<br />

0800 222 666<br />

Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />

(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />

+43 1 531 15 -204274<br />

Bundeskanzleramt<br />

Ballhausplatz 1<br />

1010 Wien<br />

„[…] und die beiden<br />

Frauen umarmen<br />

einander und weinen,<br />

und es stellte<br />

sich heraus, das war<br />

schon in der Ukraine<br />

die Pädagogin der<br />

Tochter gewesen.“<br />

Rabbiner Biderman<br />

räisch. 20 Prozent der Neuankömmlinge<br />

seien dagegen sogar chassidisch. An beiden<br />

Schulen wird es also nötig sein, nicht<br />

nur für intensiven Deutsch-, sondern auch<br />

Hebräischunterricht zu sorgen.<br />

Noch sind Dinge wie konkrete Lehrpläne<br />

aber Zukunftsmusik. Da wie dort disponiert<br />

man von Tag zu Tag neu und versucht<br />

nur eines: der momentanen Situation gerecht<br />

zu werden und Kinder willkommen<br />

zu heißen. „Ja“, sagt Rabbiner Biderman,<br />

„es kann auch sein, dass das den Schulalltag<br />

ein bisschen stört und unbequem ist für<br />

das Lehrerteam. Aber diesen Familien und<br />

Kindern zu helfen, ist derzeit das Wichtigste.“<br />

Er erzählt dabei vom Lubawitcher<br />

Rebben, der 1986 nach der Atomkatastrophe<br />

in Tschernobyl sofort eine Luftbrücke<br />

für Kinder nach Israel startete. Die Chabad-Organisation<br />

sei überfordert gewesen,<br />

man habe gefragt, wo man nun so schnell<br />

so viele Kinder unterbringen solle. „Von<br />

mir aus schließt Jeschiwot und Mädchenschulen,<br />

um die Internate frei für die Kinder<br />

zu machen“, habe der Rebbe damals<br />

gesagt. „Zu gewissen Zeiten muss man Prioritäten<br />

setzen“, betont Rabbiner Biderman.<br />

Das sieht auch Davidovits so. „Das Wichtigste<br />

ist, dass jedes Kind, das einen Platz<br />

braucht, einen findet.“<br />

Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />

auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />

bundeskanzleramt.gv.at<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG


Rückkehrrecht der Juden<br />

Biblische Heimat<br />

Da ist eine ganze Nation auf der<br />

anderen Seite, die auf dich wartet<br />

Israel rechnet mit einer enormen Einwanderungswelle<br />

aus der Ukraine und ist bereit,<br />

jedem jüdischen Flüchtling ein Zuhause zu<br />

bieten. Wie viele nicht jüdische Ukrainer<br />

zusätzlich aufgenommen werden können,<br />

wird noch diskutiert.<br />

Von Daniela Segenreich-Horsky<br />

Jüdische Ukrainer auf der Flucht aus<br />

dem Kriegsgebiet bei ihrer Ankunft am Ben<br />

Gurion Airport bei Tel Aviv.<br />

Anfang März trafen auch in Israel<br />

die ersten Flüchtlinge ein,<br />

die über Moldawien, Polen und<br />

Rumänien aus der Ukraine geschleust<br />

worden waren. Die erschöpften<br />

Passagiere, unter ihnen hundert Kinder<br />

aus einem jüdischen Waisenhaus in Schytomyr<br />

in der Nord-Ukraine, wurden mit<br />

rotem Teppich, israelischen Flaggen und<br />

Applaus auf der Landebahn begrüßt. Sie<br />

waren die Vorboten eines immer mehr anschwellenden<br />

Menschenstroms aus dem<br />

Krisengebiet. Die Regierung hat bereits<br />

Maßnahmen für die Aufnahme und Eingliederung<br />

von bis zu 100.000 Neueinwanderer<br />

geplant, wobei auch viele Juden aus<br />

Russland, die sich in der momentanen Situation<br />

nicht mehr sicher fühlen, um Visa<br />

ansuchen. Die berüchtigte Bürokratie der<br />

israelischen Einwanderungsbehörde soll<br />

mit Rücksicht auf die Lage auf ein Minimum<br />

beschränkt werden.<br />

Flora war unter den Ersten, die nach einer<br />

abenteuerlichen Odyssee auf dem Ben-<br />

Gurion-Flughafen landeten. Sie konnte<br />

mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in<br />

einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Kiew<br />

flüchten und wurde im Städtchen Nof<br />

HaGalil im israelischen Norden untergebracht.<br />

Während sie im Speisesaal des mit<br />

Flüchtlingen vollgepackten Plaza-Hotels<br />

ihre zwei Wochen alte Tochter füttert, beschreibt<br />

sie ihre Erlebnisse der vergangenen<br />

Wochen: „Als ich aus der Geburtsklinik<br />

zurück nachhause gekommen bin, ging<br />

wirbt der Bürgermeister von Nof HaGalil,<br />

der selbst vor 50 Jahren aus Odessa kam,<br />

seine Stadt auf Facebook. „Wir werden so<br />

viele aufnehmen, wie wir nur können.“<br />

Tatsächlich lebt man in Israel seit jeher<br />

mit großen Einwanderungswellen. In den<br />

ersten Jahren nach der Staatsgründung<br />

verdoppelte sich die Zahl der Einwohner<br />

aufgrund des Stroms der Immigranten aus<br />

Europa und Nordafrika. Der bei Weitem<br />

größte Schub kam nach dem Zerfall der<br />

Sowjetunion – damals absorbierte der jüdische<br />

Staat innerhalb kürzester Zeit über<br />

eine Million Menschen. Israels „Law of return“,<br />

das Rückkehrrecht der Juden in ihre<br />

biblische Heimat, gibt jeder und jedem mit<br />

zumindest einem jüdischen Eltern- oder<br />

Großelternteil das Recht auf die israelische<br />

Staatsbürgerschaft.<br />

Doch während jüdische Einwanderer<br />

die Gewissheit haben, in Israel einen sicheren<br />

Hafen zu finden, ringt man noch<br />

um eine Formel für die Aufnahme von<br />

nicht jüdischen Ukrainern. Außenminister<br />

Yair Lapid trat für eine Ausweiterung<br />

© Yossi Zeliger/Flash90<br />

„Wir laden die<br />

ukrainischen<br />

Einwanderer<br />

ein, in unsere<br />

Stadt zu kommen.<br />

Wir werden<br />

so viele aufnehmen,<br />

wie wir<br />

nur können.“<br />

Ronen Plot,<br />

Bürgermeister<br />

von Nof HaGalil<br />

der Flüchtlingspolitik<br />

ein und betonte:<br />

„Wir werden unsere<br />

Tore und unsere Herzen<br />

nicht vor Menschen<br />

schließen, die<br />

alles verloren haben.“<br />

Innenministerin<br />

Ayelet Schaked<br />

dagegen wurde in<br />

Jerusalem von entrüsteten<br />

Demonstranten<br />

ausgebuht,<br />

weil sie zu Anfang<br />

strenge Quoten für<br />

nicht jüdische Visa-<br />

Anwärter aufstellte:<br />

Zu den 20.000 bereits in Israel verweilenden<br />

Ukrainern sollten noch weitere fünfbis<br />

sechstausend eingelassen werden. Sie<br />

rechtfertigte dies mit dem enormen Ausmaß<br />

der zu erwartenden Welle an jüdischen<br />

Flüchtlingen: „Obwohl mich alle attackieren,<br />

vergesse ich nicht, dass Israel<br />

vor allem die Heimat des jüdischen Volkes<br />

es mit dem Baby direkt in den Luftschutzkeller.<br />

Es war entsetzlich kalt dort unten,<br />

und ich rief unseren Rabbi an und bat ihn<br />

um Hilfe. Er hat dann einen Wagen organisiert,<br />

der uns und andere Ukrainer an<br />

die Grenze von Moldawien gebracht hat.<br />

Wir wussten nicht, was uns erwartet und<br />

wohin es geht.“ Ihre Erzählung klingt wie<br />

ein Thriller: An der Grenze wartete ein anderer<br />

Wagen, und sie wurden über Nacht<br />

in einer Kolonne von Mini-Vans nach<br />

Kishinov gebracht. Von dort ging der Flug<br />

dann weiter nach Israel.<br />

In Nof Hagalil in Galiläa, wo etwa die<br />

Hälfte der 50.000 Einwohner russischsprachig<br />

sind, ist man auf Einwanderer<br />

eingestellt. „Die Leute hier sind großartig,<br />

es ist wie in einer großen Familie, sie<br />

helfen uns mit allem, von Windeln bis<br />

zu Kleidung und Spielsachen – wir haben<br />

hier wirklich alles, was wir brauchen“,<br />

schwärmt Flora. Ihr sechsjähriger<br />

Sohn ist traumatisiert. Er erschrickt<br />

bei jeder Sirene, hat Albträume und traut<br />

sich nicht alleine zur Toilette. Aber er und<br />

seine beiden größeren Geschwister waren<br />

sofort am Tag nach der Ankunft in<br />

der Schule, die ausgebildete medizinische<br />

Assistentin hat schon einen Arbeitsplatz<br />

und eine Wohnung für ihre Familie<br />

in Aussicht. Um Therapie für ihre Kinder<br />

will sie sich kümmern, sobald sie sich etwas<br />

eingelebt haben.<br />

„Wir laden die ukrainischen Einwanderer<br />

ein, in unsere Stadt zu kommen“, beist,<br />

und wir werden alle unsere<br />

Bemühungen für diejenigen<br />

einsetzen, die nach den Kriterien<br />

des Rückkehrgesetzes zur<br />

Immigration qualifiziert sind.“<br />

Inzwischen erhalten auch Ukrainer,<br />

die einen Verwandten in<br />

Israel haben, ein Einreisevisum<br />

nach Israel. An einem separaten<br />

Abkommen für ukrainische<br />

Flüchtlinge, die keine Familie<br />

hier haben, wird noch gefeilt.<br />

Gastfamilien organisieren. Tatsächlich<br />

muss wohl kaum ein<br />

Land mit so einem dichten<br />

Strom an Immigranten zurechtkommen<br />

wie Israel. Die zuständigen<br />

Behörden arbeiten im Rahmen der Operation<br />

„Israel garantiert“ intensiv an der<br />

Schaffung zusätzlicher Wohnungen sowie<br />

Schul- und Arbeitsplätze für Einwanderer.<br />

Darüber hinaus müssen die Ankommenden<br />

medizinisch versorgt und krankenversichert<br />

werden. Und an den Grenzen zur<br />

Ukraine arbeiten Angestellte der Jewish<br />

Agency und Freiwillige von Hilfsorganisationen<br />

wie Zaka und United Hazalah unermüdlich<br />

daran, die ankommenden Juden<br />

mit erster Hilfe und Medikamenten,<br />

Lebensmitteln und sanitären Produkten<br />

zu versorgen und ihnen bei Visa-Prozeduren<br />

und der Beschaffung von Flugtickets<br />

nach Israel behilflich zu sein. Jede Neueinwandererfamilie<br />

erhält 3.000 Schekel<br />

vom Staat, einen weiteren Betrag als<br />

Flüchtlingshilfe und oft noch ein monatliches<br />

Stipendium. Außerdem werden Gastfamilien<br />

organisiert, die die Neuankömmlinge<br />

zum bevorstehenden Pessach-Fest<br />

aufnehmen können.<br />

Der Politiker, Autor und einstige Refusnik<br />

Nathan Sharansky brachte die Situation<br />

auf den Punkt, als er sich kürzlich bei einer<br />

Rede an sein Leben in der ehemaligen Sowjetunion<br />

erinnerte: „Die tausenden Menschen,<br />

die flüchten wollen, warten Tag und<br />

Nacht an der ukrainischen Grenze, und es<br />

gibt nur ein Wort, das ihnen helfen kann:<br />

,Jude‘. Wenn du Jude bist, dann […] ist da<br />

jemand auf der anderen Seite der Grenze,<br />

der dich sucht. Deine Chancen rauszukommen<br />

sind exzellent […]. Als ich ein Kind [in<br />

der Sowjetunion] war, war ,Jude‘ eine unglückliche<br />

Bezeichnung, niemand hat uns<br />

beneidet. Aber heute, an der ukrainischen<br />

Grenze, bezeichnet ,Jude‘ diejenigen, die<br />

einen Platz, eine Familie, eine ganze Nation<br />

haben, die auf der anderen Seite auf<br />

sie warten.“<br />

8 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

9


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Mosaik der<br />

Vielfalt<br />

Reisen aus und nach<br />

Israel sind wieder<br />

möglich. Doch einmal<br />

mehr gibt es hohe<br />

Alarmbereitschaft vor den<br />

Feiertagen.<br />

Die Opfer, aber auch die Täter der jüngsten<br />

Anschläge und ihre Geschichten spiegeln die<br />

Komplexität der Gesellschaft Israels wider.<br />

Es kommt alle zehn Jahre einmal vor, diesmal<br />

ist es wieder soweit: Die Feiertage der<br />

drei monotheistischen Religionen fallen<br />

alle in diesem Frühjahr zusammen. Der<br />

Ramadan hat gerade angefangen, in diese Zeit fallen<br />

diesmal auch Pessach und Ostern. Mehr als zwei<br />

Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie<br />

denken viele jetzt wieder ans Verreisen. Im Radio<br />

läuft Werbung für Einkäufe im Duty-Free-Shop am<br />

Flughafen. Es gibt aber auch Versuche, die einheimischen<br />

Touristen „mit bezahlbaren Preisen“ im<br />

In der kollektiven Erinnerung ist<br />

rund um die Feiertage im Frühjahr<br />

nichts Gutes abgespeichert.<br />

Land zu halten. Wenigstens spielt das Wetter mit.<br />

Nach einem ungewöhnlich kalten und nassen Winter<br />

ist es gerade übergangslos Sommer geworden.<br />

Ansonsten hat sich nach den jüngsten Anschlägen<br />

in Be’er Scheva, Hadera, Bnei Brak und Gusch Etzion<br />

die Furcht vor einer erneuten Terrorwelle wie<br />

Blei über die angehende Ferienstimmung gelegt.<br />

Die Sicherheitskräfte sind in höchste Alarmbereitschaft<br />

versetzt worden.<br />

In der kollektiven Erinnerung ist rund um die<br />

Feiertage im Frühjahr nichts Gutes abgespeichert.<br />

Vor einem Jahr hatten Spannungen in<br />

einem elftägigen Krieg mit der Hamas gemündet.<br />

Zuvor war es zu blutigen Ausschrei-<br />

Von Gisela Dachs<br />

tungen in der Jerusalemer Altstadt und um den<br />

Tempelberg gekommen. Während in Israel Raketen<br />

aus Gaza einschlugen, kam es in den gemischten<br />

jüdisch-arabischen Städten zu bürgerkriegsähnlichen<br />

Zuständen. Jetzt, nach drei tödlichen Anschlägen<br />

innerhalb einer Woche und einem weiteren Angriff<br />

mit einem Schraubenzieher, bei dem das Opfer<br />

schwer verletzt überlebt hat, fragt man sich, wohin<br />

das führen mag.<br />

Die Attentäter stammen aus Israel und dem Westjordanland.<br />

Die einen waren inspiriert vom Islamischen<br />

Staat, andere vom islamischen Djihad. Neu ist<br />

dabei die Nähe zum Islamischen Staat, den die Sicherheitskräfte<br />

offenbar nicht auf dem Radar hatten.<br />

Viele sind es nicht. Auf rund 80 bis 100 wird die<br />

Zahl der Männer geschätzt, die in Israel und dem<br />

Westjordanland dem IS nahestehen sollen. Sie haben<br />

in Be’er Scheva und Hadera zugeschlagen. Was<br />

dann auch andere aufs Parkett rief, wie den Attentäter<br />

von Bnei Brak, der früher schon einmal wegen<br />

eines versuchten Selbstmordanschlags im Gefängnis<br />

gesessen war.<br />

Die Bilder der Überwachungskameras zeigen,<br />

wie sich Letzterer selbstbewusst mit seiner automatischen<br />

Waffe auf den Straßen von Bnei Brak bewegt.<br />

Man sieht, wie er sich einem stehengebliebenen<br />

Auto nähert, sich dann herunterbeugt und<br />

den Insassen aus allernächster Nähe exekutiert. Die<br />

schreckliche Szene lief immer wieder in den Fernsehnachrichten,<br />

wie in einem gruseligen Krimi.<br />

Die Opfer und ihre ganz eigenen Geschichten<br />

spiegeln in nahezu beispielhafter Weise die komplexe<br />

Realität der israelischen Gesellschaft wider. In<br />

der Aula der Hebräischen Universität in Jerusalem<br />

© Flash90 2022/Yonatan Sindel<br />

brennen Kerzen neben den Fotos<br />

der elf Opfer, die bei den Anschlägen<br />

ums Leben gekommen sind.<br />

Es ist ein Mosaik der Vielfalt.<br />

Unter ihnen ist der 29-jährige<br />

Rabbiner Avishai Yehezkel, der seinen kleinen Sohn<br />

abends im Kinderwagen durch die Straßen von Bnei<br />

Brak schiebt, um ihn zum Einschlafen zu bringen. Er<br />

hört Schüsse in der Nachbarschaft, schafft es noch,<br />

seinen Bruder anzurufen. Als ihn der Attentäter ins<br />

Visier nimmt, wirft er sich über den Kinderwagen,<br />

sein Sohn überlebt, er nicht.<br />

Da ist auch der 32-jährige Polizist Amir Khoury,<br />

ein arabischer Israeli, der als Erster den Angreifer ortet<br />

und auf ihn schießt, um ihn zu stoppen. Im Feuergefecht<br />

wird Khoury von einer der letzten Kugeln<br />

des Attentäters tödlich getroffen. Khoury mutiert<br />

zum Helden, weil er durch seinen Einsatz vielen Zivilisten<br />

das Leben gerettet hat. Zu seiner Beerdigung<br />

auf dem christlichen Friedhof in der Nähe von Nazareth<br />

kommen viele Haredim aus Bnei Brak, um ihm<br />

die letzte Ehre zu erweisen. Auch der Bürgermeister,<br />

Rabbiner Avraham Rubinstein, ist angereist, er<br />

umarmt tröstend den Vater, der selbst einst ein Ordnungshüter<br />

gewesen war, und dankt ihm für den<br />

Mut seines Sohnes. Gemeinsam mit dem Vater trauert<br />

auch Amir Khourys Lebensgefährtin, Shani Yashar,<br />

eine jüdische Israelin. Beide liegen einander in<br />

Tränen aufgelöst in den Armen. Das Paar hätte demnächst<br />

heiraten sollen.<br />

Erst am Tag zuvor war ein anderer junger arabischer<br />

Mann in Uniform beerdigt worden. Der 19-jährige<br />

Yazan Falah war Grenzpolizist und stammte aus<br />

einem drusischen Dorf im Norden des Landes. Ihn<br />

Die Attentäter stammen aus Israel und dem Westjordanland,<br />

die Opfer aus den unterschiedlichsten religiösen<br />

und ethnischen Gruppierungen der israelischen Gesellschaft.<br />

hatten die Kugeln des Angreifers in Hadera getroffen,<br />

der dem Islamischen Staat nahestand.<br />

Zu den Opfern im streng religiösen Bnei Brak<br />

zählen auch zwei Migranten aus der Ukraine, der<br />

32-jährige Victor Sorokopot und der 23-jährige Dimitri<br />

Mitrik. Sie waren einst mit einem Touristenvisa<br />

ins Land gekommen. Beide hatten als Gelegenheitsarbeiter<br />

ihren Unterhalt verdient. In staubiger<br />

und gipsverklebter Kleidung versammelten sich<br />

Freunde und Bekannte am Tag danach in Trauer<br />

am Tatort, jenem kleinen Lebensmittelladen in Bnei<br />

Brak, vor dem sie alle abends oft gerne zusammen<br />

gesessen hatten.<br />

Die Ukrainer hatten davon geträumt, sich mit ihrem<br />

Verdienst ein Haus in der Heimat zu bauen, die<br />

nun in den vergangenen Wochen zum Kriegsgebiet<br />

geworden ist. Nun sollten ihre Särge dorthin ausgeflogen<br />

werden, was mit neuen Herausforderungen<br />

verbunden ist. „Wir hatten hier keine Verwandten,<br />

waren alleine und wollten in die Ukraine zurück“,<br />

erzählt Sorokopots Witwe Kristina. Jetzt wolle sie<br />

bleiben, aber die Überreste ihre Ehemanns nicht<br />

unbegleitet zurücktransportieren lassen.<br />

Wäre das alles eine Fernsehserie, hätte der Drehbuchautor<br />

einen Preis für sein Faible für Diversität<br />

und sein Engagement im Kampf gegen Vorurteile<br />

bekommen. Und Kritiker hätten ja vielleicht gefunden,<br />

dass das alles ein bisschen überzeichnet wäre.<br />

10 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

11


Gemeinsamer Protest<br />

Wachsende Repressionen<br />

Die andere Fluchtbewegung<br />

Während die Welt immer<br />

noch geschockt auf die Ukraine<br />

schaut, wo Russlands<br />

Präsident Wladimir Putin<br />

Häuser und Städte in Schutt<br />

und Asche legen und auch<br />

Zivilisten, darunter Kinder,<br />

töten lässt, sodass Millionen<br />

Menschen auf der Flucht<br />

sind, formiert sich in Russland<br />

selbst ebenfalls eine<br />

Fluchtbewegung. Leiser und<br />

abseits von Fernsehkameras<br />

verlassen vor allem Jüngere,<br />

gut Gebildete das Land:<br />

Die Repressionen Putins haben<br />

inzwischen ein unerträgliches<br />

Maß erreicht, sagen sie.<br />

Einer von ihnen ist Grigory<br />

Sverdlin.<br />

Text: Alexia Weiss<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

Ein sonniger Mittag Ende März<br />

in Wien, die Temperaturen<br />

sind so, dass es die Menschen<br />

ins Freie zieht, die Gastgärten<br />

sind hoch frequentiert. Wir<br />

treffen einander im Servitenviertel, hier<br />

wohnt eine langjährige Freundin Sverd-<br />

lins, er hat sie vor vielen Jahren in seiner<br />

Heimatstadt St. Petersburg kennengelernt,<br />

als sie dort ein Auslandssemes-<br />

ter absolvierte, nun kann er ein paar Tage<br />

bei ihr wohnen.<br />

Er genieße die Sonne sehr, erzählt<br />

Sverdlin zu Beginn unseres langen Ge-<br />

sprächs. Berühmt sei St. Petersburg für<br />

seine weißen Nächte. Die Kehrseite seien<br />

die dunklen Tage im Winter. Dennoch<br />

liebe er St. Petersburg, wo er 1978 zu Welt<br />

kam, und wohin er 2010 nach eineinhalb<br />

Jahren in Israel – er hatte Alija gemacht –<br />

wieder zurückkehrte. Seine Zeit in Israel<br />

sollte ihm dennoch nun sehr nützlich sein<br />

beziehungsweise die israelische Staats-<br />

bürgerschaft, die er seither zusätzlich<br />

zur russischen besitzt. Doch dazu später.<br />

Sverdlin stammt aus einer jüdischen,<br />

nicht religiösen Familie. Der Vater war<br />

Geschäftsmann, die Mutter lehrte Eng-<br />

lisch an einer Universität. Sie seien keine<br />

Dissidenten gewesen, sagt der Sohn,<br />

seien solchen allerdings nahe gestan-<br />

den. In diesem Sinn hätten sie auch ihn<br />

und seine Schwester groß gezogen. Er stu-<br />

dierte Wirtschaft, arbeitete für Banken,<br />

später leitete er das Marketing eines großen<br />

Konzerns. Irgendwann kam er je-<br />

doch an einen Punkt, an dem er spürte,<br />

er könne nicht so weiterleben.<br />

Im Vergleich zu heute sei die politi-<br />

sche Situation entspannt gewesen, doch<br />

damals „war ich müde davon, wie sich die<br />

Dinge in Russland entwickelten. Von Jahr<br />

zu Jahr gab es weniger Freiheit, weniger<br />

unabhängige Berichterstattung, eingeschränktere<br />

Möglichkeiten zu wählen“. So<br />

fiel 2008 die Entscheidung, Alija zu machen.<br />

In Israel lernte er in einem Ulpan<br />

Hebräisch, arbeitete, lernte neue Freunde<br />

kennen. „Ich merkte aber auch, dass ich<br />

dort nicht so gut vernetzt bin, mein Hebräisch<br />

nicht perfekt ist und es auch in Israel,<br />

obwohl Einwanderer von allen herzlich<br />

empfangen werden, nicht so leicht ist,<br />

etwas aufzubauen.“<br />

In diesen eineinhalb Jahren ordnete er<br />

aber sein Leben neu. Schon während seiner<br />

Wirtschaftskarriere hatte er einmal<br />

in der Woche in St. Petersburg für eine<br />

NGO, die sich in der Obdachlosenhilfe<br />

engagiert, ehrenamtlich Essen ausgeliefert.<br />

Er beschloss, künftig hauptberuflich<br />

in diesem Bereich tätig sein zu wollen. Zufällig<br />

war die damalige Leiterin von Nochlezhka<br />

gerade dabei, nach Deutschland zu<br />

übersiedeln, und so setzte er in den vergangenen<br />

Jahren seine Managementfertigkeiten<br />

als ihr Nachfolger ein.<br />

Nochlezkha entwickelte sich in dieser<br />

Zeit zu einer wichtigen Stütze für<br />

Obdachlose in St. Petersburg. Das Team<br />

wuchs von etwas unter 20 auf nun 85 bezahlte<br />

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />

und hunderte Freiwillige an. Im Rahmen<br />

von Projekten in Moskau und St. Petersburg<br />

wurden 2021 8.165 Menschen betreut.<br />

Die einzelnen Projekte decken dabei<br />

verschiedenste Ebenen ab – von der<br />

„[…] war ich müde<br />

davon, wie sich<br />

die Dinge in Russland<br />

entwickelten.<br />

Von Jahr zu Jahr<br />

gab es weniger<br />

Freiheit, weniger<br />

unabhängige Berichterstattung,<br />

eingeschränktere<br />

Möglichkeiten zu<br />

wählen.“<br />

Grigory Sverdlin<br />

„Kein Krieg.“ „Ich wusste,<br />

dass ich damit jederzeit<br />

Gefahr lief, verhaftet zu<br />

werden.“<br />

Akutversorgung mit Notschlafstellen und<br />

warmen Mahlzeiten bis zu Rehabilitationsprogrammen,<br />

mit denen Betroffene unterstützt<br />

werden, wieder einen Job ausüben<br />

und sich ein Zuhause schaffen zu können.<br />

Wie wichtig diese Arbeit ist, zeigt ein Blick<br />

auf die Zahlen: Rund sechs Millionen Menschen<br />

leben in St. Petersburg, 50.000 von<br />

ihnen sind obdachlos.<br />

Der 24. Februar dieses Jahres, der Tag,<br />

an dem Putin der Ukraine den Krieg erklärte,<br />

war ein wichtiger für Nochlezkha.<br />

In Kürze sollte ein Restaurant eröffnet<br />

werden, dessen Belegschaft zur Hälfte aus<br />

Obdachlosen besteht. Hier sollen sie einen<br />

neuen Beruf erlernen und dann nach<br />

ein paar Monaten in ein anderes Restaurant<br />

oder Café wechseln können. Normalerweise<br />

mache er nach dem Aufstehen<br />

in der Früh einen Blick auf seine Social-<br />

Media-Seiten, erzählt Sverdlin. Doch an<br />

diesem Tag sollte es ein Treffen mit dem<br />

Team des künftigen Lokals geben, und die<br />

Bauarbeiten gingen ins Finale. So schaute<br />

er erst auf dem Weg zur Baustelle in seinem<br />

Auto beim Halt vor einer Kreuzung<br />

auf sein Smartphone. Und konnte kaum<br />

glauben, was er da auf Meduza las, einem<br />

Medienportal, das inzwischen von Putin<br />

als „feindlicher Agent“ eingestuft wurde,<br />

nun von Riga aus operiert, sich nicht mehr<br />

über Werbeeinnahmen finanzieren kann<br />

und daher auf Crowdfunding setzt. „Ich<br />

hoffte so, dass das nicht wirklich passiert.<br />

Aber im Grund wissen wir seit 2014, dass<br />

dieses Regime zu allem fähig ist.“<br />

2014 fiel Putin in die Krim ein. Die Situation<br />

heute sei eine völlig andere als damals, sagt<br />

Sverdlin. Es sei fast kein Blut geflossen, die<br />

Krim habe länger zu Russland gehört als<br />

zur Ukraine. Dennoch sei bereits dieser<br />

12 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

13


Wenn Demos nichts bewirken<br />

Zeit, sich zu verabschieden<br />

Protest. Seit Jänner 2021 hatte er<br />

auf der Rückscheibe seines Autos ein<br />

Schild mit der Aufschrift „Freiheit für<br />

politische Gefangene“ befestigt.<br />

Feldzug ein No-go gewesen. Im Rückblick<br />

hätte der Westen schon damals die Sanktionen<br />

über Russland verhängen müssen,<br />

wie es dies heute tut, sinniert Sverdlin.<br />

Vielleicht wäre Putin dann nicht<br />

dem Fehlglauben aufgesessen, er könne<br />

die Ukraine in einer Woche und ohne viel<br />

Widerstand einnehmen. Vielleicht hätte<br />

er den Westen dann nicht als so schwach<br />

eingeschätzt, wie er dies nun getan habe.<br />

Sehr tapfere Leute. Noch am selben Abend<br />

stellte sich Sverdlin auf den Newski Prospekt,<br />

in den Händen ein Schild mit der<br />

Aufschrift „Kein Krieg“. Das hatte er bereits<br />

2014 gemacht, als es um die Krim<br />

ging. Damals sei er ein „einsamer Protestierender“<br />

gewesen, erinnert er sich. Damals<br />

stand er alleine, teils sei ihm Unverständnis<br />

entgegengeschlagen, „ich konnte<br />

fühlen, wie die Leute dachten, die Krim<br />

ist ja immer russisch gewesen“. Aber nun,<br />

nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine<br />

sei es anders gewesen. „Viele Menschen<br />

haben mich unterstützt, sie machten das<br />

Daumen-hinauf-Zeichen.“ Eine Freundin<br />

malte ihm für seinen Protest zudem auf die<br />

Rückseite einer Jacke ebenfalls die Worte<br />

„Kein Krieg“.<br />

„Ich wusste, dass ich damit jederzeit<br />

Gefahr lief, verhaftet zu werden“, erzählt<br />

Sverdlin. Wie sich das anfühlt, das wusste<br />

er schon. Seit Jänner 2021 hatte er auf der<br />

Rückscheibe seines Autos ein Schild mit der<br />

Aufschrift „Freiheit für politische Gefangene“<br />

befestigt. Die Botschaft richtete sich<br />

gegen die Verurteilung des Oppositionspolitikers<br />

Alexei Nawalny. Im Mai wurde er<br />

von einem Polizisten angehalten und verhaftet.<br />

Er wurde auf eine Polizeistation und<br />

dort von einem Mitarbeiter verhört, der<br />

sich ihm gegenüber zwar nicht als solcher<br />

auswies, den er aber der „Abteilung E“ zuordnete.<br />

Diese widmet sich offiziell der Extremismusbekämpfung.<br />

Aber jeder wisse,<br />

dass diese Oppositionelle im Visier habe, so<br />

Sverdlin. Offiziell wurde ihm erklärt, dass<br />

man prüfen müsse, ob sein Auto nicht gestohlen<br />

sei. Da half auch nicht, dass er versicherte,<br />

dass er den Pkw von seinem Vater<br />

und dieser ihn davor bei einem Autohändler<br />

erworben habe. Das Schild, das diese<br />

Verhaftung ausgelöst hatte, kam dagegen<br />

nicht zur Sprache.<br />

„Russland ist<br />

kein demokratischer<br />

Staat.<br />

Es ist nicht<br />

einmal ein<br />

Rechtsstaat.<br />

Die Polizei<br />

kann alles mit<br />

dir machen,<br />

und du kannst<br />

dich nicht<br />

wehren.“<br />

Grigory Sverdlin<br />

„So arbeitet eine Diktatur“, sagt Sverdlin.<br />

„Es ist so, wie es Hannah Arendt beschrieben<br />

hat. Russland ist kein demokratischer<br />

Staat. Es ist nicht einmal ein Rechtsstaat.<br />

Die Polizei kann alles mit dir machen, und<br />

du kannst dich nicht wehren.“ Der Wagen<br />

sei konfisziert und erst nach fünf Wochen,<br />

in denen er einen Anwalt konsultiert und<br />

schließlich bei einem anderen Polizeirevier<br />

Anzeige erstattet habe, dass ihm sein Auto<br />

von der Polizei gestohlen worden sei, zurückgegeben<br />

worden.<br />

Er nahm nun mit seinem täglichen Protest<br />

gegen den Krieg in der Ukraine eine<br />

neuerliche Verhaftung in Kauf. Rational sei<br />

das vielleicht keine gute Entscheidung gewesen,<br />

emotional habe er aber nicht anders<br />

können, sagt er nun. Mehrmals sah<br />

er, wie andere Demonstranten verhaftet<br />

und von der Polizei abtransportiert wurden,<br />

von ihm seien mehrmals die Personalien<br />

aufgenommen worden. Doch er wollte<br />

sein Team nicht im Stich lassen und dachte<br />

daher noch nicht an eine Ausreise, obwohl<br />

„Wir hoffen, dass<br />

sich ein Teil des inneren<br />

Kreises rund<br />

um Putin gegen<br />

Putin stellt.“<br />

Grigory Sverdlin<br />

ter ist inzwischen mit ihrem Partner und<br />

ihrer Tochter nach Tbilisi (Tiflis, die Hauptstadt<br />

von Georgien) geflüchtet –, von der<br />

Polizei aufgesucht zu werden. „Vielleicht<br />

klingt das wie Paranoia. Aber in Russland<br />

funktioniert das so. Die Polizei tauchte in<br />

der Vergangenheit immer wieder bei Familienmitgliedern<br />

von Oppositionellen auf.“<br />

Mit dem Auto fuhr Sverdlin an die<br />

Grenze zu Estland. Um Russland überhaupt<br />

verlassen zu können, hatte er sich von der<br />

jüdischen Gemeinde in Estland eine Einladung,<br />

dort einen Workshop zu halten, besorgt.<br />

Es gebe zwar keine offizielle Regelung,<br />

dass man Russland nicht verlassen<br />

dürfe. In der Realität sei es aber schwierig.<br />

Noch seien die Pandemieregeln in Kraft.<br />

Auszureisen, um Urlaub zu machen, sei<br />

nicht erlaubt. Wenn man aber nachweisen<br />

könne, dass es um einen Arbeitseinsatz<br />

oder medizinische Versorgung gehe,<br />

könne man die Grenze passieren.<br />

Auf der anderen Seite der Grenze wartete<br />

allerdings ein neues Hindernis: Als<br />

Russe braucht man ein Visum, nicht nur<br />

in Estland, sondern in vielen Staaten. Die<br />

Botschaften in Russland würden diese aber<br />

zurzeit oft nicht mehr ausstellen oder seien<br />

gar nicht mehr im Arbeitsmodus. Sverdlins<br />

Trumpf in dieser schwierigen Situation:<br />

sein israelischer Pass. Mit diesem reiste er<br />

in Estland ein, mit diesem ist er nun in Europa<br />

unterwegs. Seine Eltern haben inzwischen<br />

ebenfalls darum angesucht, Alija zu<br />

machen. Doch Israel hat derzeit alle Hände<br />

voll zu tun: zu den tausenden und abertausenden<br />

Ausreisegesuchen von ukrainischen<br />

Juden kommen nun auch solche<br />

von russischen Juden. Sie müssten mit einer<br />

Bearbeitungszeit von rund einem Jahr<br />

rechnen, ließ man Sverdlins Eltern wissen.<br />

Viele seiner Freunde seien inzwischen<br />

wie seine Schwester mit ihrer Familie in<br />

Tiflis gelandet, erzählt er. Dort gebe es für<br />

Russen zunächst einmal ein einjähriges<br />

Aufenthaltsrecht. Andere seien nach Armenien<br />

geflogen, die Flüge dorthin seien<br />

inzwischen konstant ausgebucht und die<br />

Preise entsprechend hoch. Wieder an-<br />

dies allseits bereits Thema war: „Wann immer<br />

man Freunde traf, in ein Café kam, waren<br />

Menschen am Weinen, viele sprachen<br />

über ihre Ausreisepläne, erzählten von anderen,<br />

die das Land bereits verlassen haben.<br />

Wir waren sehr deprimiert. Wir haben<br />

alle gespürt, dass das die größte Katastrophe<br />

unseres Lebens ist. Wir sind nun Bürgerinnen<br />

und Bürger eines faschistischen<br />

Landes, das ein anderes Land angegriffen<br />

hat und dort Menschen umbringt.“ Alle<br />

habe über Probleme berichtet, in der Nacht<br />

zu schlafen.<br />

Was Sverdlin auch wichtig ist zu sagen:<br />

dass das Gros der russischen Bevölkerung<br />

diesen Krieg unterstütze, sei Propaganda.<br />

Ja, über viele Jahre habe man nun in den<br />

Staatsmedien getrommelt, es handle sich<br />

bei der Ukraine um einen failed state und es<br />

gebe ein Nazi-Problem. Doch alle, die jünger<br />

als Mitte 40 seien, würden sich wie er<br />

schon lange nicht mehr in diesen Medien<br />

informieren. Diese Propaganda funktioniere<br />

daher nur bei Älteren. Gleichzeitig<br />

könne man aber von innen nicht viel tun,<br />

die Repressionen seien zu stark. Jeder, der<br />

auf der Straße protestiere, laufe Gefahr,<br />

verhaftet zu werden, wisse aber gleichzeitig,<br />

dass diese Demos nichts bewirken. Seit<br />

Kriegsbeginn seien bis Ende März bereits<br />

an die 15.000 Menschen verhaftet worden.<br />

„Das sind alles sehr tapfere Leute“, streicht<br />

Sverdlin hervor.<br />

An dem Tag, als Putin das neue Gesetz<br />

verkündete, mit dem die Verwendung des<br />

Wortes Krieg unter Strafe gestellt wurde,<br />

wusste er, dass nun auch für ihn die Zeit<br />

gekommen war zu gehen. „Ich wollte nicht<br />

schweigen. Aber ich wollte auch nicht meiner<br />

Organisation schaden. Und nun wäre<br />

ich sicher ins Gefängnis gegangen.“ Innerhalb<br />

von 24 Stunden verließ Sverdlin Russland.<br />

Er packte 20 Bücher, sein zusammenklappbares<br />

Rad, Dokumente, Kleidung in<br />

sein Auto, informierte sein engstes Team,<br />

sperrte seine kleine Eigentumswohnung ab<br />

und fuhr zu den Eltern, die inzwischen in<br />

einem Vorort von St. Petersburg leben, um<br />

sich zu verabschieden.<br />

Als er dort ankam, waren diese gerade<br />

dabei, Dokumente und Bargeld zusammenzusuchen,<br />

um es Freunden anzuvertrauen.<br />

Sie erwarten wegen der Ausreise<br />

ihrer beiden Kinder – Sverdlins Schwesdere<br />

hätte es nach Istanbul verschlagen.<br />

Er selbst will nun ebenfalls nach Georgien<br />

reisen. Davor versucht er im Zug einer<br />

Reise durch Europa wieder einen klaren<br />

Kopf zu bekommen. In Riga, Warschau,<br />

Prag ist er bereits gewesen. Überall trifft er<br />

Freunde, Bekannte, Kollegen. Gemeinsam<br />

denken sie nach, wie es möglich ist, Putin<br />

von außen unter Druck zu bringen. Insgesamt<br />

seien bereits mehr als eine viertel Million<br />

Russinnen und Russen seit Beginn des<br />

Kriegs in der Ukraine geflohen.<br />

Wiederaufbauprojekt organisieren. Gerne<br />

würde Sverdlin eines Tages wieder in seine<br />

Heimat St. Petersburg zurückkehren. Möglich<br />

werde das erst sein, wenn es das Regime<br />

Putin nicht mehr gebe. Wie bald das<br />

sein werde? Das könne in ein paar Wochen<br />

so weit sein – oder aber erst in zehn Jahren.<br />

Wie Putin gestoppt werden könnte? „Wir<br />

hoffen, dass sich ein Teil des inneren Kreises<br />

rund um Putin gegen Putin stellt.“ Sicher<br />

ist sich Sverdlin nur über eines: Putin<br />

seinerseits wird nicht aufgeben. Entweder<br />

er sterbe oder er werde umgebracht. Und<br />

selbst dann bedeute das nicht, dass in Russland<br />

sich alles zum Besseren wende. Eine<br />

Möglichkeit sei, dass Russland dann zerfalle<br />

und/oder Bürgerkrieg ausbreche.<br />

Die Sanktionen, die verhängt wurden,<br />

um Putin zu schwächen, findet Sverdlin<br />

gut. Aber natürlich würden das auch die<br />

Menschen im Land spüren: Die Preise<br />

seien im Steigen, viele Menschen hätten<br />

bereits ihren Arbeitsplatz verloren, manche<br />

Produkte – etwa Tierfutter, das oft aus<br />

dem Ausland importiert werde – seien<br />

nicht mehr verfügbar. Dass er seine russischen<br />

Bankkarten nun nicht verwenden<br />

könne, sei „ein unangenehmer Kollateralschaden“,<br />

aber ok. Er habe seine<br />

Ersparnisse von ein paar tausend Euro<br />

in Cash bei sich. 2021 habe er bereits angefangen,<br />

für andere NGOs in Russland,<br />

aber auch im Ausland, Workshops über<br />

das Management von karitativen Organisationen<br />

zu halten. Das wolle er nun fortführen<br />

und sich so finanziell über Wasser<br />

halten. In einer ferneren Zukunft sieht er<br />

sich in der Ukraine. Sobald der Krieg beendet<br />

ist, würde er dort gerne ein Wiederaufbauprojekt<br />

organisieren. Nachsatz: „Wenn<br />

man mich als Russen dort haben will.“<br />

14 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

15


Prosperierende Hafenstadt<br />

Abfolge von Pogromen<br />

Flucht ins Ungewisse: ein Mann<br />

am Zugfenster beim Abschied von<br />

seiner Familie, die Anfang März aufgrund<br />

des Ukraine-Krieges Odessa<br />

verlässt, jene Hafenstadt am<br />

Schwarzen Meer, die von jeher stark<br />

von jüdischer Kultur geprägt ist.<br />

Odessa: Stadt der Dichter,<br />

der Arbeiterbewegung<br />

und des Zionismus<br />

Aus der ehemals kosmopolitischen<br />

Stadt floh bereits<br />

die Hälfte der jüdischen<br />

Bevölkerung. Die Älteren<br />

und Kranken werden ein<br />

trauriges, entbehrungsreiches<br />

Pessachfest feiern können<br />

– ohne Auszug aus der<br />

„neuen Sklaverei“.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

* Die Internationale Gemeinschaft von Christen und Juden ist<br />

eine philanthropische Organisation, die 1983 von Yechiel Eckstein<br />

in Illinois (USA) gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, das Verständnis<br />

und die Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen zu fördern<br />

und eine breite Unterstützung für den Staat Israel zu leisten.<br />

Das jüngste Kind aus Odessa war<br />

bei seiner Flucht 37 Tage alt. Es<br />

wurde von seiner Mutter im<br />

Chabad-Waisenhaus der Stadt<br />

abgegeben, um seine Überlebenschance<br />

zu erhöhen: Die Eltern des Neugeborenen<br />

blieben in Odessa zurück, um ihrerseits die<br />

Großeltern zu versorgen. Das Baby absolvierte<br />

seine erste Reise, die unter normalen<br />

Umständen drei Stunden gedauert hätte,<br />

von sieben Uhr abends bis fünf Uhr früh.<br />

Gemeinsam mit weiteren hundert Kindern<br />

schaffte es die abenteuerliche und gefährliche<br />

Reise von Odessa ins rettende Chișinău,<br />

die Hauptstadt Moldawiens. In einer spontan<br />

organisierten Hilfsaktion wurden diese<br />

jüdischen Kinder aus der Stadt geschmuggelt:<br />

Mehr als 40 von ihnen hatten keinerlei<br />

Dokumente, die meisten nicht einmal<br />

eine Geburtsurkunde. Die örtliche Chabad-Organisation<br />

wurde bei der Planung<br />

und Durchführung von der IFCJ-International<br />

Fellowship of Christians and Jews tatkräftig<br />

unterstützt.* „Wir sind schon seit<br />

dreißig Jahren in der Ukraine aktiv, um Bedürftigen<br />

zu helfen“, erzählt Yael Eckstein,<br />

Tochter des Gründers und Mutter von vier<br />

Kindern. „Daher konnten wir schnell und<br />

effektiv Hilfe leisten.“ Auch der 16-jährige<br />

Sascha ist mitgefahren, aber mit schlechtem<br />

Gewissen: „Meine Mutter ist in Odessa<br />

geblieben, weil mein fünfjähriger Bruder<br />

krank und nicht transportfähig ist.“<br />

© BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com; BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com<br />

Von Chișinău traten die Geflüchteten<br />

eine 25-stündige Busreise nach Berlin an.<br />

Dort hat sie Rabbiner Jehuda Teichtal in<br />

Empfangen genommen: Er ist Gemeinderabbiner<br />

der Jüdischen Gemeinde zu Berlin<br />

und Vorsitzender des jüdischen Bildungszentrums<br />

Chabad. „Auch Chabad Wien hat<br />

sich gemeldet, um Kinder aufzunehmen“,<br />

erzählt Rabbi Mendy Wolf, der das Waisenhaus<br />

in Odessa leitet.<br />

Weitere 120 Kinder und Jugendliche<br />

aus der umkämpften Stadt erweckten<br />

den Badeort Neptun an der rumänischen<br />

Schwarzmeerküste kurzfristig aus seiner<br />

Lethargie, als sie gerade zu Purim dort eintrafen:<br />

Ihre Betreuer organisierten kurzfristig<br />

eine Feier, bevor es mit dem Flugzeug<br />

nach Israel ging. „Sie wissen nicht, was mit<br />

ihren Liebsten in der Heimat geschieht, sie<br />

haben so viel Schlimmes erlebt, wenigstens<br />

genießen sie ein paar schöne Stunden“,<br />

freut sich Alina Feoktistova, die zur Hilfsorganisation<br />

Tikva (Hoffnung) zählt, einem<br />

orthodox-jüdischen Projekt in Odessa, das<br />

sich um vulnerable Jugendliche kümmert.<br />

Aber wieso gab es allein in Odessa 250<br />

Waisenkinder, woher kommen die? Alina<br />

glaubt, dass die Medien diesen Überbegriff<br />

gewählt haben. „Wir kümmern uns hauptsächlich<br />

um Kinder, die aus sozial bedürftigen<br />

und psychisch-belasteten Familien<br />

stammen, die ihre Kinder selbst nicht adäquat<br />

versorgen können.“<br />

Die Hilfskräfte müssen sich auch verstärkt<br />

jungen Müttern mit Kleinkindern<br />

und vor allem Älteren widmen, darunter<br />

nicht wenige, die den Horror der Schoah in<br />

der Ukraine er- und überlebt haben. Über<br />

diese Gruppe berichtete kürzlich die Jüdische<br />

Allgemeine (Berlin), die mit dem Oberrabbiner<br />

der Ukraine, Yaakov Dov Bleich,<br />

telefonieren konnte. Gemeinsam mit hunderten<br />

Jüdinnen und Juden harrt er zurzeit<br />

in einem Ferienlager in der Nähe der Stadt<br />

Mukatschewo (Munkács) in der westukrainischen<br />

Oblast Transkarpatien unweit der<br />

ungarischen Grenze aus.<br />

Kosmopolitisches Odessa. Als strategisch<br />

wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer<br />

wurde Odessa 1794 gegründet. Katharina<br />

II. erlaubte die Ansiedlung von Russen,<br />

Ukrainern, Griechen und Juden, die<br />

vor allem als Geschäftsleute erfolgreich waren.<br />

Bereits vier Jahre später wurde eine<br />

Synagoge für die erste jüdische Gemeinde<br />

erbaut. Erste antisemitische Ausschreitungen,<br />

bei denen vierzehn Juden getötet<br />

wurden, sind mit 1821 datiert. Die Akteure<br />

waren vor allem Griechen: Sie dominier-<br />

„Wir kümmern uns<br />

hauptsächlich um<br />

Kinder, die aus<br />

sozial bedürftigen<br />

und psychisch belasteten<br />

Familien<br />

stammen, die ihre<br />

Kinder selbst nicht<br />

adäquat versorgen<br />

können.“<br />

Alina Feoktistova,<br />

Hilfsorganisation Tikva<br />

ten in dieser Zeit den Handel und die Verwaltung<br />

der Hafenstadt. Die Hintergründe<br />

lagen in der ökonomischen Rivalität zwischen<br />

den beiden Gruppen. Außerdem<br />

beschuldigten die Griechen die jüdische<br />

Bevölkerung, in ihrem Unabhängigkeitskampf<br />

auf Seiten der osmanischen Herrschaft<br />

zu stehen. Trotz alldem galt Odessa<br />

innerhalb des russischen Imperiums immer<br />

schon als besonders kosmopolitisch.<br />

„Ich habe Moldawien hinter mir gelassen<br />

und bin in Europa angekommen“, schrieb<br />

Puschkin, als er 1823 an seinem neuen Verbannungsort<br />

eintraf.<br />

Ein jüdischer Gläubiger beim Gebet in der Chabad-Synagoge<br />

in der ukrainischen Hafenstadt Odessa 14 Tage nach Kriegsbeginn.<br />

Dessen ungeachtet wurde 1826 eine jüdische<br />

Schule eröffnet und 1840 ein jiddisches<br />

Theater. Die repräsentative Hauptsynagoge<br />

Or Sameach konnte schließlich<br />

1860 eingeweiht werden. Sie wurde ab 1923<br />

ein Museum, danach als Musiktheater und<br />

Sporthalle genutzt, erst 1996 erfolgte die<br />

Rückgabe an die jüdische Gemeinde. Von<br />

1863 bis 1868 entstand die Brodsky-Synagoge<br />

in Odessa, die von jüdischen Einwanderern<br />

aus dem galizischen Brody gebaut<br />

wurde. Sie gehörte zu den ersten Choral-<br />

Synagogen im russischen Kaiserreich und<br />

war damals das größte Bethaus in dessen<br />

Süden.<br />

1859 kam es erneut zu einem Pogrom<br />

gegen Juden, dennoch entwickelte sich<br />

Odessa zu einem der wichtigsten Zentren<br />

der jüdischen Publizistik, der Literatur und<br />

des Theaters. Von 1860 leitete Alexander<br />

Zederbaum die erste hebräischsprachige<br />

Zeitung in Russland, Ha-Melitz, die bis 1903<br />

existierte. 1862 erschien Kol Mewasser als<br />

Beilage als erste jiddische Zeitung in Russland.<br />

Abraham Goldfaden, Komponist,<br />

Volksdichter und Begründer des modernen<br />

jiddischen Theaters, arbeitete nach 1866 als<br />

Lehrer in der Stadt und veröffentlichte dort<br />

frühe Prosa. Zwölf Jahre später kamen verschiedene<br />

Akteure des jiddischen Theaters<br />

aus Rumänien nach Odessa, darunter Größen<br />

wie Nachum Schaikewitsch mit seinen<br />

Schauergeschichten oder Ossip Lerner, der<br />

ab 1881 mit einer eigenen Theatertruppe<br />

16 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

17


Nationale Identität<br />

Holocaust by bullet<br />

STEPAN BANDERA:<br />

ein zweifelhaftes Vorbild<br />

Stepan Bandera (1909– 1959) war ein führender<br />

Kopf der ukrainischen nationalistischen Bewegung,<br />

der Organisation Ukrainischer Nationalisten<br />

(OUN), in den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren<br />

des 20. Jahrhunderts, der radikale Aktionen<br />

für die Lösung der Frage der ukrainischen Unabhängigkeit<br />

befürwortete. Bereits als junger Mann<br />

organisierte Bandera mehrere Terroranschläge,<br />

der bekannteste davon war die Ermordung des<br />

polnischen Innenministers Bronisław Pieracki<br />

am 15. Juni 1934. Bandera wurde zu lebenslanger<br />

Haft verurteilt, kam jedoch mit Ausbruch des<br />

Zweiten Weltkrieges wieder frei. Im Februar 1940<br />

stellte er sich an die Spitze des „revolutionären<br />

Flügels“ der OUN, der später nach seinem Anführer<br />

als „Bandera-Flügel“ bezeichnet wurde. Bandera<br />

war ein radikaler Nationalist, der sich mit Hitler<br />

verbündete. Sein Kampf für eine unabhängige<br />

Ukraine war auch ein Kampf gegen Juden, Polen<br />

und Russen. Nach dem missglückten Versuch,<br />

in Lemberg einen ukrainischen Staat auszurufen,<br />

wurde er am 30. Juni 1941 verhaftet und bis Dezember<br />

1944 im KZ Sachsenhausen gefangen gehalten.<br />

Für seine Anhänger dient diese Zeit als Beweis,<br />

dass er vor allem Freiheitskämpfer und kein<br />

Nazi-Kollaborateur war. Doch Bandera kam nicht<br />

in eine normale KZ-Baracke, sondern in den Zellenbau<br />

für Sonderhäftlinge, denn die Nazis hielten<br />

ihn weiterhin für nützlich. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg floh Bandera nach Deutschland und<br />

wurde in der Sowjetunion in Abwesenheit zum<br />

Tode verurteilt. 1959 wurde er in München von einem<br />

KGB-Agenten ermordet.<br />

Der Mythos Bandera ist in der heutigen Ukraine<br />

vor allem ein politisches Instrument: Der „Freiheitskämpfer“<br />

Bandera soll dem kulturell geteilten<br />

Land eine Identität geben. 2014 prangte sein<br />

Bild nahe der großen Bühne auf dem Maidan. Für<br />

den schwedischen Historiker Per Anders Rudling<br />

ist das Bandera-Bild in der Ukraine verklärt: „Nach<br />

meiner Bewertung und der von den meisten Forschern<br />

kann man Bandera und seine Bewegung<br />

durchaus als eine faschistische bezeichnen, die<br />

stark am Holocaust beteiligt war“, erläutert Rudling.<br />

Die erste wissenschaftliche Biografie, die sich<br />

mit dem Mythos und Kult des ukrainisch-faschistischen<br />

Politikers und der Geschichte seiner Bewegung<br />

auseinandersetzt, schrieb der junge polnische<br />

Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe. Er<br />

war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung<br />

Denkmal für die ermordeten Juden Europas und<br />

des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-<br />

Studien. An der Berliner Universität arbeitete er in<br />

einem Postdoc-Projekt über die Erinnerung der<br />

ukrainischen Diaspora an den Holocaust.<br />

jiddische Stücke im Mariinskij-Theater in<br />

Odessa aufführte. Auch Mendele Moicher<br />

Sforim, der Meister der neujiddischen Literatur<br />

und der geschliffenen Prosa, lebte<br />

und publizierte hier. Er gilt als „Großvater“<br />

dieser Literatur, weil er vor Scholem Alejchem,<br />

der sich stets als Mendeles „Enkel“<br />

bezeichnet hat, und Jitzchok Leib Perez der<br />

älteste der sogenannten drei Klassiker der<br />

jiddischen Literatur war.<br />

1894 wurde Isaak Babel als Sohn eines<br />

jüdischen Kaufmanns in der Moldawanka,<br />

Odessas Armen- und Judenviertel,<br />

geboren. Er zog nach Abschluss seines<br />

Studiums nach Petersburg, wo er die Bekanntschaft<br />

des russischen Schriftstellers<br />

Maxim Gorki machte. Dieser förderte ihn<br />

und rettete ihn mehrmals vor der Zensur.<br />

Zwischen 1921 und 1924 entstand Babels<br />

Erzählzyklus Geschichten aus Odessa, mit<br />

dem er der Stadt ein Denkmal setzte.<br />

Babel, der auch der „beste Erzähler<br />

nach Puschkin“ genannt wird, hat die jüdischen<br />

Mafiosi der Moldawanka spöttisch<br />

und mit weisem Humor beschrieben.<br />

Seine Geschichten drehen sich um<br />

jüdische Hochzeiten, um Diebesgut aus<br />

Übersee oder um jüdische Großmütter.<br />

Am 15. Mai 1939 wurde Isaak Babel in seiner<br />

Datscha im Dorf Peredelkino verhaftet<br />

und im politischen Gefängnis Lubjanka in<br />

Moskau inhaftiert. Der NKWD, das Volkskommissariat<br />

für innere Angelegenheiten,<br />

beschuldigt ihn für den Westen spioniert<br />

zu haben. Im Zuge der Stalin’schen Massenmorde<br />

wurde Babel am 16. Januar 1940<br />

verurteilt und bald darauf im Gefängnis<br />

Butyrka erschossen.<br />

Auswanderer und Zionisten. Nach den blutigen<br />

Massakern von 1881 wurden zwei<br />

Jahre später jiddische Theateraufführungen<br />

im Russischen Reich verboten. Damit<br />

begann eine Auswanderungswelle fast al-<br />

Als strategisch<br />

wichtige Hafenstadt<br />

am Schwarzen Meer<br />

wurde Odessa 1794<br />

gegründet. Katharina<br />

II. erlaubte die<br />

Ansiedlung von<br />

Russen, Ukrainern,<br />

Griechen und Juden …<br />

ler jiddischer Schauspieler und Autoren<br />

nach Westeuropa und in die USA.<br />

Der 1880 in Odessa geborene Zionist<br />

und Schriftsteller Zeev Jabotinsky reagierte<br />

bitter: „Von Pogromen bleiben<br />

Eimer voller Blut und Pfunde<br />

menschlichen Fleisches, aber eine<br />

Lehre für das jüdische Bewusstsein, die<br />

sie auf die Ebene einer Tragödie erheben<br />

würde, lässt sich nicht aus ihnen ziehen<br />

[…]. Es gibt keine Rettung.“ Diese negative<br />

Sicht begründet er auch mit dem Mangel<br />

an Bildung im damaligen Russland. Ein<br />

durchschnittlicher Russe lese die in einfacher<br />

Sprache gehaltenen antisemitischen<br />

Pamphlete, die damals überall im<br />

Umlauf waren, ebenso gerne wie simpel<br />

gestrickte Revolutionsliteratur. Für andere<br />

Schriften interessiere sich kaum einer. Jabotinsky<br />

blieb Odessa zeit seines Lebens<br />

verbunden und veröffentlichte 1936 mit<br />

den Roman Die Fünf sogar eine Art Buddenbrooks-Familiensaga.<br />

Infolge der wiederholten Pogrome entstand<br />

die zionistische Bewegung in Ostmitteleuropa,<br />

deren Ziel die Auswanderung<br />

Marsch der Ehre, Würde<br />

und Freiheit in Kiew<br />

am 1. Jänner 2020 zum 111.<br />

Jahrestag der Geburt des<br />

ukrainischen Politikers Stepan<br />

Bandera (1909–1959),<br />

einem der Führer der<br />

ukrainischen Nationalbewegung<br />

und Vorsitzenden<br />

der Organisation Ukrainischer<br />

Nationalisten (OUN).<br />

© Henning Langenheim / akg-images / picturedesk.com; Sergei Supinsky / AFP / picturedesk.com<br />

Schoah in der Ukraine<br />

Gedenkstein am Chworosti-Platz<br />

in Odessa, dem Sammelplatz für<br />

16.000 Juden, die im Oktober 1941 auf der<br />

Kolchose Dalnik ermordet wurden.<br />

Millionen Juden von insgesamt fast<br />

1,5 drei Millionen, die vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg in der Ukraine lebten, wurden ermordet.<br />

Unmittelbar nachdem deutsche<br />

Truppen im Sommer 1941 große Teile der<br />

Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />

(USSR) besetzt hatten, begannen im rückwärtigen<br />

Heeresgebiet Einsatzgruppen sowie<br />

lokale Miliz- und Polizeieinheiten mit der<br />

Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Ungefähr<br />

900.000 Juden, die überwiegend in<br />

der Ostukraine gelebt hatten, konnten sich<br />

noch rechtzeitig dem überstürzten Rückzug<br />

der Roten Armee anschließen. Vincent Hoyer,<br />

Historiker an der Universität Augsburg,<br />

recherchierte, dass rund 100.000 Juden die<br />

Besatzung der Ukraine in Verstecken überlebten.<br />

Daher nimmt die Ukraine auf der<br />

Yad-Vashem-Liste der als Gerechte unter<br />

den Völkern als Judenretter Ausgezeichneten<br />

den vierten Platz ein. Auf der Jerusalemer<br />

Liste befinden sich ungefähr 30.000<br />

Namen von Geretteten.<br />

Ein großer Teil der ukrainischen Juden<br />

lebte zu Kriegsbeginn in der heutigen<br />

Westukraine. Das erste größere Pogrom<br />

fand bereits im Sommer 1941 mit geschätzten<br />

5.000 ermordeten Juden in Lemberg<br />

statt – wobei in vielen Städten in der Westukraine<br />

Juden ermordet wurden, ohne auf<br />

eine explizite Anordnung der deutschen Besatzer<br />

zu warten. Die Schoah überlebten<br />

nur diejenigen, die in den Osten der Sowjetunion,<br />

nach Zentralasien oder Sibirien geflüchtet<br />

waren oder die den Krieg als Soldaten<br />

der Roten Armee überlebten – und so<br />

auch einen wichtigen Beitrag dazu leisteten,<br />

die Ukrainer, Russen, Polen und Weißrussen<br />

gegen das Hitler-Regime zu verteidigen.<br />

Nach dem Einmarsch der SS und der Sicherheitspolizei<br />

erfolgte eine planmäßige<br />

Tötung mit ukrainischer Beteiligung, und<br />

zwar der berüchtigten Hilfspolizei. Diese<br />

wurde von Heinrich Himmler Mitte August<br />

1941 als Einheit der Militärpolizei auf dem<br />

Gebiet des polnischen Generalgouvernements<br />

gegründet: Die Streitkräfte bestanden<br />

größtenteils aus ehemaligen Mitgliedern<br />

der ukrainischen Volksmiliz, die im Juni<br />

aus der Organisation Ukrainischer Nationalisten<br />

(OUN) entstanden war (siehe auch den<br />

Kasten zu Stepan Bandera). Es gab zwei ukrainische<br />

bewaffnete Organisationen unter<br />

deutscher Kontrolle: Die erste umfasste<br />

mobile Polizeieinheiten, die am häufigsten<br />

als Schutzmannschaft bezeichnet wurden<br />

und die Aufgabe hatten, den Widerstand in<br />

den meisten Teilen der Ukraine zu bekämpfen<br />

und die Massenmorde an Juden zu unterstützen.<br />

Holocaust by bullet nennen die Nachkriegshistoriker<br />

jene Massenerschießungen,<br />

die von deutschen wie ukrainischen<br />

Polizeieinheiten meist etwas außerhalb<br />

von größeren Städten durchgeführt wurden.<br />

Diese „Aktionen“ wurden kaum vertuscht,<br />

Anwohner und Soldaten schauten<br />

dabei zu. Den Inbegriff dieses Holocaust by<br />

bullet stellt der Ort Babij Jar bei Kiew dar, wo<br />

etwa 40.000 Juden in Gruben geschossen<br />

wurden.<br />

Die sowjetische Herrschaft wurde von<br />

der ukrainischen Bevölkerung zunehmend<br />

als Belastung empfunden. Mehr als 30.000<br />

Ukrainer, die antisowjetisch eingestellt waren,<br />

flüchteten in die von den Deutschen<br />

besetzten Gebiete. In den übrigen Teilen<br />

des Landes hoffte die ukrainische Bevölkerung,<br />

auch aufgrund des Bürgerkriegs und<br />

darauf folgenden stalinistischen Terrors, auf<br />

eine Besserung der Situation und Befreiung<br />

von der sowjetischen Herrschaft bzw. der<br />

polnischen Bevormundung. Dies führte zu<br />

grundlegender Sympathie gegenüber dem<br />

Deutschen Reich. Schätzungen zufolge partizipierten<br />

30.000 bis 40.000 Ukrainer am<br />

Holocaust. Maßgeblich spielten hier politisch-ideologischer<br />

Opportunismus sowie<br />

das Feindbild des ‚jüdischen Bolschewismus‘<br />

eine Rolle.<br />

Meist standen die Kollaborateure unter<br />

deutschem Befehl: Im KZ Trawniki wurden<br />

angeworbene, oftmals ukrainische Kriegsgefangene<br />

zu KZ-Wachmannschaften ausgebildet.<br />

Diese kamen unter anderen in den<br />

Vernichtungslagern Treblinka, Belzec und<br />

Sobibor zum Einsatz.<br />

18 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

19


Zionistisch-sozialistische Bewegung<br />

der Juden nach Palästina war. 1884 wurde<br />

Odessa Sitz von Chibbat Zion (Zionsliebe)<br />

in Russland. Wichtige Mitglieder der Zionsfreunde<br />

(Chovevei Zion) waren Leo Pinsker<br />

und Mosche L. Lilienblum. Bereits 1890<br />

wurde die Gesellschaft zur Unterstützung<br />

jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien<br />

und Palästina (Odessa-Komitee) gegründet.<br />

1902 wurde in Odessa einer der<br />

ersten Ortsverbände der zionistisch-sozialistischen<br />

Bewegung Poale Zion gegründet,<br />

aus deren Mitgliedern entstand 1904<br />

die Zionistische Sozialistische Arbeiterpartei.<br />

Auch Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister<br />

von Tel Aviv (1921–1936), lebte einige<br />

Jahre in Odessa.<br />

Der russische Zensus 1897 ergab einen<br />

jüdischen Bevölkerungsanteil von 30,83<br />

Prozent in Odessa, was rund 125.000 Personen<br />

entsprach. Somit zählten die Juden<br />

zur zweitgrößten Bevölkerungsgruppe<br />

der Stadt, nach den Russen mit 49,09 Prozent<br />

und vor den Ukrainern mit 9,39 Prozent.<br />

1905 kam es erneut zu schweren Ausschreitungen<br />

gegen Juden. Nach 1919 schuf<br />

die sowjetische Macht neue Möglichkeiten<br />

für jüdisches Leben, so bevölkerten rund<br />

200.000 Juden die Stadt bis 1939.<br />

Ab 1941 wüteten die deutsche Wehrmacht<br />

sowie ihre ukrainischen Hilfskräfte<br />

(siehe Kasten dazu) in der Stadt und massak-<br />

„Vor dem Angriffskrieg<br />

der Russen am<br />

24. Februar 2022<br />

lebten unserem<br />

Wissen nach 45.000<br />

Juden in Odessa.“<br />

Rabbi Mendy Wolf<br />

rierten zehntausende jüdische Menschen.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg erholte sich<br />

die jüdische Gemeinde Odessas wieder.<br />

Ab den 1970er-Jahren begann eine starke<br />

jüdische Auswanderung aus der Sowjetunion<br />

in Richtung Israel, USA und Westeuropa.<br />

Trotz restriktiver Maßnahmen der<br />

Sowjetunion, um die Migrationswelle zu<br />

verhindern, sank der Anteil der jüdischen<br />

Bevölkerung über die Jahre konstant. 1989<br />

lebten in Odessa noch knapp 66.000 Juden,<br />

was 5,9 Prozent der Stadtbevölkerung<br />

ausmachte. Bei der Volkszählung von 2001<br />

gaben nur mehr 12.500 Menschen an, jüdisch<br />

zu sein – denn noch aus Sowjetzeiten<br />

stammt das Unbehagen, sich öffentlich<br />

zum Judentum zu deklarieren. Daraus resultiert<br />

auch meist die Diskrepanz zwischen<br />

der Zahl aus der Volkszählung und inoffiziellen<br />

Hochrechnungen.<br />

„Vor dem Angriffskrieg der Russen am<br />

24. Februar 2022 lebten unserem Wissen<br />

nach 45.000 Juden in Odessa“, erzählt Rabbi<br />

Mendy Wolf, der tapfer in der Stadt aushält.<br />

„Mehr als die Hälfte sind bereits in Sicherheit<br />

– und leben jetzt als Flüchtlinge. Aber<br />

wir bleiben hier und gehen nicht fort, bis<br />

der letzte Jude gerettet ist!“<br />

Die missionarische Bewegung von Chabad,<br />

die Menschen jüdischer Abstammung<br />

wieder zum Glauben und zur Ausübung<br />

der Religion motivieren will, ist an insgesamt<br />

35 Orten in der gesamten Ukraine<br />

mit rabbinischem Personal vertreten. Der<br />

sagenumworbene Gründer dieser chassidischen<br />

Gruppierung innerhalb des orthodoxen<br />

Judentums, war „der Rebbe“,<br />

Menachem Mendel Schneerson, der 1902<br />

in Mykolajiw geboren wurde, 100 Kilometer<br />

östlich von Odessa und 60 Kilometer<br />

westlich vom eingenommenen Cherson.<br />

Viele der Chabad-Zentren wurden in den<br />

letzten Wochen zur Zuflucht für Juden, die<br />

nicht nur medizinische, sondern auch alltägliche<br />

Hilfe benötigen: „Viele der Menschen<br />

leiden an Hunger und Kälte. Wir<br />

versorgen sie mit warmen Essen und ebensolchen<br />

Schlafplätzen“, berichtet Rabbi<br />

Wolf. „Aber bald fehlt es uns selbst am<br />

Nötigsten, nämlich an Wasser und Mehl.“<br />

Pessach 2022.<br />

MITARBEITERIN/MITARBEITER (W/M/D) IM BEREICH<br />

PROJEKT- UND EVENTMANAGEMENT KULTUR<br />

IHRE AUFGABEN:<br />

• Mitarbeit im Auf- und Ausbau von Events,<br />

kulturellen Veranstaltungsformaten sowie<br />

digitalen Projekten mit kulturellem Bezug<br />

(Podcast, Lifestylevideos etc.)<br />

• Redaktionelle und gestalterische Betreuung<br />

unserer Social-Media-Kanäle (Facebook,<br />

Instagram, YouTube)<br />

• Allgemeine administrative Tätigkeiten und<br />

Unterstützung im Backoffice<br />

IHR PROFIL:<br />

• Erfahrung in der Planung, Koordination<br />

und Durchführung von Projekten und<br />

Veranstaltungen<br />

• Ausbildung oder einschlägige Berufserfahrung<br />

im Bereich Werbung/Marketing/<br />

Kommunikation oder in der Eventbranche<br />

bzw. im Kultursektor<br />

• Interesse an jüdischer Kultur<br />

• Affinität zu Social Media<br />

• Strukturierte,<br />

20 wına |<br />

eigenverantwortliche<br />

April 2022<br />

und<br />

lösungsorientierte Arbeitsweise bei<br />

gleichzeitig ausgeprägter Teamfähigkeit<br />

• Hohes Maß an Engagement, Flexibilität und<br />

Stressresistenz mit Hands-on-Mentalität<br />

• Positive, kreative, kommunikative,<br />

zuverlässige und empathische Persönlichkeit<br />

• Sehr gute MS-Office-Kenntnisse sowie<br />

Deutsch- und Englisch-Kenntnisse<br />

in Wort und Schrift<br />

WIR BIETEN:<br />

Wir bieten eine abwechslungsreiche und anspruchsvolle<br />

Tätigkeit in einem Team, in dem<br />

gegenseitige Wertschätzung großgeschrieben<br />

und ein hohes Maß an Eigeninitiative gewünscht<br />

wird.<br />

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bewerbung@ikg-wien.at<br />

Information:<br />

www.ikg-wien.at/kultur<br />

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Die Israelitische Kultusgemeinde<br />

Wien sucht für die Abteilung<br />

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jüdischer Kultur.<br />

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ab 2300,- Euro.<br />

Beginn sobald wie möglich!


Wort-Rap mit Chuzpe<br />

HIGHLIGHTS | 02<br />

Podcasting ist das neue Radiohören – jederzeit und überall<br />

abrufbar und anhörbar. Avia Seeliger hat mit Chuzpe einen<br />

Hör-Ort gestaltet, an dem sie sich mit ihren Gästen aus Kunst und<br />

Kultur intensiv in ein Thema eintauchen kann. Diesmal sprach sie<br />

mit dem Fotografen Daniel Shaked, der mit seinen beeindruckenden<br />

Porträts, aber auch mit seiner unvergleichlichen Ruhe seit<br />

vielen Jahren eine ganz besondere WINA-Atmosphäre schafft.<br />

WWW.TIPP<br />

The Message<br />

Mittlerweile seit 25 Jahren beleuchtet die<br />

Hip Hop-Plattform „The Message“ die<br />

heimische und internationale Szene und<br />

blieb all die Jahre ein singuläres Phänomen.<br />

Zuerst als kleines Fanzine, später<br />

hochglanz und in Farbe, mittlerweile<br />

als stets aktueller Blog im weltweiten<br />

Netz. Und wenn man glaubt, Hip Hop<br />

liegt einem nicht, so wird man dennochsehr<br />

schnell von der ästhetischen Aufmachung<br />

und den weit über die Grenezen<br />

der Hip-Hop-Szene hinausgreifenden<br />

Themen überrascht und mitrgerissen.<br />

themessagemagazine.at<br />

Chuzpe ist für mich ... wenn man denkt,<br />

dass Fotos, weil sie im Internet zu sehen sind,<br />

auch zur freien Verwendung und Benützung<br />

stehen. Kunst ist für mich ... so zu sein<br />

wie man ist. Erfolg ist für mich ... die Frei-<br />

heit das machen zu können, was ich möchte.<br />

Judentum ist für mich ... ein Teil meiner<br />

Identität. Aber jemanden darauf zu reduzie-<br />

ren wäre fahrlässig. Wien ist für mich ...<br />

trotz all der Grantler und Nörgler die beste<br />

und gemütlichste Stadt der Welt. Nur der<br />

Strand fehlt uns noch. Aber das wäre dann<br />

wohl doch vielleicht zu gut. Die Corona-<br />

Pandemie ist für mich ... ein großer und<br />

schwerer Einschnitt – sowohl persönlich, beruf-<br />

lich als auch gesellschaftlich.<br />

Daniel Shaked 1978 in Teheran geboren<br />

– „reiner Zufall, meine Eltern haben damals<br />

dort gearbeitet“, Aufgewachsen in Wien,<br />

gründete 1997 der damals 17-jähriger The<br />

Message – das bis heute einzige Hip-Hop-Magazin<br />

Österreichs. Er begann mehrere Stu-<br />

dien, fand aber, dass man an der Uni doch<br />

„zu weit weg von der Realität“ sei. Seit 2007<br />

ist er hauptberuflich als freier Fotograf für<br />

nationale und internationale Kunden tätig.<br />

Bekannt ist er als Porträt- und Modefotograf<br />

mit einer großen Leidenschaft für schwarz-<br />

weiße Analog-Fotografie. Shaked arbeitet<br />

und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern<br />

in Wien.<br />

Chuzpe – jung und ir-<br />

gendwie jüdisch mit Avia<br />

Seeliger und ihren Gästen<br />

gibt es in voller Länge u. a.<br />

auf ikg-wien.at.<br />

© xxx<br />

wına-magazin.at<br />

21


Aus der Täterperspekive<br />

INTERVIEW MIT DEBORAH HARTMANN<br />

Über Erwartungshaltungen<br />

und Grenzen des Leistbaren<br />

Die Wienerin Deborah Hartmann leitet seit Ende<br />

2020 die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-<br />

Konferenz. WINA sprach mit ihr über Authentizität an solchen<br />

Orten, über das, was eine solche Stätte leisten kann<br />

und was nicht. In Richtung Politik formuliert Hartmann<br />

dabei ganz klar: Gegenwartsbezüge müssen sich auch aus<br />

der spezifischen Geschichte herleiten. Interview: Alexia Weiss<br />

DEBORAH HARTMANN,<br />

geb. 1984 in Wien, Matura an der<br />

Zwi-Perez-Chajes-Schule, anschließend<br />

Studium der Politikwissenschaft. Ab 2007<br />

Mitarbeiterin der International School for<br />

Holocaust Studies Yad Vashem in Jerusalem,<br />

ab 2015 Leitung der deutschsprachigen<br />

Bildungsabteilung in Yad Vashem.<br />

Seit 2017 Mitglied im wissenschaftlichen<br />

Beitrat der KZ-Gedenkstätte Mauthausen,<br />

seit Dezember 2020 leitet sie die<br />

Gedenk- und Bildungsstätte Haus der<br />

Wannsee-Konferenz. In ihren verschiedenen<br />

Arbeitskontexten beschäftigt sie sich<br />

vor allem mit multiperspektivischen und<br />

transnationalen Ansätzen zur Vermittlung<br />

der Geschichte des Holocaust. Hartmann<br />

lebt mit ihrer Familie in Berlin.<br />

WINA: Der Film Die Wannseekonferenz von Regisseur Matti<br />

Geschonnek mit Philipp Hochmair als Reinhard Heydrich<br />

wurde diesen Jänner rund um den Internationalen Holocaust-<br />

Gedenktag von mehreren deutschsprachigen Fernsehsendern<br />

ausgestrahlt und hat für viel Diskussion, aber auch Bewusstsein<br />

für diese folgenreiche Besprechung am 20. Jänner 1942<br />

gesorgt. Wie authentisch ist das im Film Dargestellte?<br />

Deborah Hartmann: Das Protokoll, wie wir es kennen,<br />

ist kein Wortprotokoll. Wir wissen nicht einmal,<br />

ob die Besprechung überhaupt im so genannten<br />

Konferenzraum in der Ausstellung stattgefunden<br />

hat – wir vermuten es. Deshalb war es für die Kuratoren<br />

auch so wichtig, den Konferenztisch aus der Ausstellung<br />

zu entfernen, um diese Erwartungshaltung<br />

zu durchbrechen und nicht zu suggerieren, genauso<br />

ist es gewesen.<br />

Der Regisseur versucht anhand der Wannsee-Konferenz<br />

etwas über den Holocaust zu erzählen. Insofern<br />

muss man den Film als künstlerische Interpretation<br />

sehen und nicht als Versuch einer authentischen<br />

Nacherzählung. Als Gedenk- und Bildungsstätte wollen<br />

wir aber ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der<br />

Film versucht, etwas darzustellen, von dem man nicht<br />

zu 100 Prozent weiß, wie es sich ereignet hat. Ja, es gibt<br />

ein Protokoll, aber wir müssen uns fragen, was kann<br />

das Protokoll erzählen und wovon erzählt es nicht.<br />

„[…] ein Bewusstsein<br />

dafür<br />

schaffen,<br />

dass der Film<br />

versucht, etwas<br />

darzustellen,<br />

von dem<br />

man nicht zu<br />

100 Prozent<br />

weiß, wie es<br />

sich ereignet<br />

hat.“ Deborah<br />

Hartmann<br />

Sie leiten die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-<br />

Konferenz, als die die Villa am Wannsee heute fungiert. Was<br />

erfahren Besucherinnen und Besucher heute an dem Ort über<br />

diesen 20. Jänner 1942?<br />

I Sie erfahren etwas über den Ort selbst, über die Vorgeschichte.<br />

Sie erfahren etwas über den 20. Jänner,<br />

wer trifft sich, zu welchem Zweck, was sind die Ziele<br />

der Besprechung? Es ging darum, dass sich Heydrich<br />

seine Vormachtstellung sichern wollte; er war verantwortlich<br />

für die Lösung der so genannten „Judenfrage“.<br />

Es ging um die Frage der Koordination und<br />

Kooperation des Staatsapparats. Und worüber wurde<br />

gesprochen? Es ging um Massenmord, das wurde offen<br />

besprochen und war kein Geheimnis.<br />

Die Ausstellung setzt sich aber auch mit der Nachgeschichte,<br />

der Nachkriegsgesellschaft und den Kontinuitäten<br />

nach 1945 auseinander. Was ist beispielsweise<br />

mit den 15 Männern, die an der Besprechung<br />

teilnahmen, passiert oder nicht passiert? Und wie<br />

spiegelt sich die fehlende Konfrontation mit den eigenen<br />

Verbrechen im Umgang mit dem Haus wider?<br />

In den 1960er-Jahren hat sich Joseph Wulf bemüht,<br />

hier ein internationales Dokumentationszentrum<br />

zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner<br />

Folgeerscheinungen zu etablieren. Wulf war Auschwitz-Überlebender,<br />

er war Mitglied der jüdisch-historischen<br />

Kommission in Polen, und er gilt als einer<br />

der Pioniere der Holocaustforschung, wurde aber von<br />

deutschen Historikern mit dem Argument abgelehnt,<br />

seine Perspektive sei zu subjektiv. Wulf hatte auch<br />

viele Unterstützer, aber bis Ende der 1980er-Jahre war<br />

hier ein Landschulheim und erst in den 1990er-Jahren<br />

wurde die Gedenk- und Bildungsstätte gegründet.<br />

Es geht uns um diesen Kampf, aus der Zivilgesellschaft<br />

heraus an ein Verbrechen zu erinnern.<br />

Im Anne Frank Haus in Amsterdam kann man die Räume im<br />

Hinterhaus besichtigen, in denen sich das Mädchen mit seiner<br />

Familie und einer weiteren Familie in der NS-Zeit versteckt<br />

hielt. Dabei wird versucht, einen möglichst originalen Zustand<br />

zu zeigen. Ist es wichtig, an solchen Orten ein Setting herzustellen,<br />

das dem von damals möglichst gleicht oder sogar so<br />

ist wie damals? Und wie handhaben Sie das in dieser Villa?<br />

I Das Haus wurde nach dem Krieg vielfach genutzt,<br />

entspricht also nicht mehr dem Zustand von 1942. Bis<br />

1952 war darin das SPD-nahe August-Bebel-Institut<br />

untergebracht. Dann wurde es ein Landschulheim.<br />

© Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.<br />

Es gäbe viel zu wenige Artefakte, um das Haus in den<br />

Originalzustand zu versetzen. Wir arbeiten daher mit<br />

dem, was es noch gibt. Es gibt die Decke, den Stuck,<br />

aber keine Originalmöbel, und es gibt auch so gut wie<br />

keine Fotos, wie das Gästehaus der SS ausgesehen hat.<br />

Auch der Konferenztisch in der alten Ausstellung<br />

war kein Original. Die Präsentation der Protokollseiten<br />

war eine Inszenierung. Es kommen aber durchaus<br />

Besucher:innen, die vor allem den Tisch sehen wollen.<br />

Und es finden sich Gästebucheinträge mit der Frage,<br />

warum der Tisch entfernt wurde.<br />

Es ist eine spannende Frage, welche Erwartungshaltungen<br />

es gibt und welche Erwartungshaltungen<br />

man bedienen will oder auch nicht. Wahrscheinlich<br />

muss das von Erinnerungsort zu Erinnerungsort anders<br />

entschieden werden. Im Anne Frank Haus wird<br />

aus der Betroffenenperspektive erinnert. Das ist doch<br />

etwas anders, als wenn man sich mit der Täterperspektive<br />

auseinandersetzt. Warum muss ich den Tisch<br />

reinszenieren, um mir vorzustellen, wo Heydrich oder<br />

Eichmann gesessen haben? Es ist eine andere Problemstellung,<br />

als bewusst zu machen, unter welchen<br />

Verhältnissen Anne Frank im Versteck leben musste<br />

oder wie eine Häftlingsbaracke in einem Lager aussah.<br />

Es geht ja aber nicht nur darum, diesen einen Tag wiedererstehen<br />

zu lassen. Der Tag hatte Konsequenzen für Millionen<br />

europäischer Juden, das wiederum schrieb die Menschheitsgeschichte<br />

um. Was wird heute alles an der Gedenkstätte verhandelt?<br />

I Zum einen ist uns wichtig zu vermitteln, dass der Holocaust<br />

bereits in vollem Gang gewesen ist und mehr<br />

als 900.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder bereits<br />

vor dieser Besprechung am Wannsee ermordet<br />

worden sind. Die Euthanasieprogramme waren ebenfalls<br />

bereits schreckliche Realität. Wir versuchen daher<br />

darzustellen, was bis dahin stattgefunden hat und<br />

was tatsächlich die Konsequenzen und Auswirkungen<br />

nach dem 20. Jänner gewesen sind. Wir betonen,<br />

warum der Verwaltungsbereich so zentral gewesen<br />

ist. Dadurch findet auch ein Transfer in die Gegenwart<br />

statt. Was bedeutet das für Verwaltungshandeln<br />

heute? Wir arbeiten viel mit verschiedenen Berufsgruppen<br />

und dabei auch mit Verwaltungsangestellten<br />

und -beamten in Ministerien. Dieser Transfer ist<br />

uns wichtig. Wir wollen uns auch damit auseinandersetzen,<br />

was die Geschichte für uns heute bedeutet.<br />

Sie machen hier also die Einbindung der Menschen, die in der<br />

Verwaltung gearbeitet haben, zum Thema.<br />

I Dieses bürokratische Handeln hat ja die Effizienz der<br />

Vernichtung möglich gemacht. Und wenn wir uns das<br />

jetzt aus der Nachkriegsperspektive ansehen: Ernst<br />

von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt,<br />

wurde beispielsweise in den Nürnberger Prozessen<br />

unter anderem damit konfrontiert, dass er von Wannsee<br />

und der Besprechung wusste und damit auch vom<br />

systematischen Massenmord. Er hat sich dann versucht<br />

herauszureden. Man konnte ihm aus den Akten<br />

nie zu 100 Prozent etwas nachweisen, aber man<br />

konnte ihn auch nicht entlasten. Er wusste Bescheid<br />

und hat das System mitgetragen und in seiner bürokratischen<br />

Form unterstützt.<br />

Das bringt ein Bewusstsein dafür, dass es letztlich<br />

um Menschen und deren Handeln geht und nicht<br />

nur um die Form eines Protokolls. Auch wenn wir<br />

uns an bürokratischen Regeln festhalten, sollen wir<br />

das nicht quasi computergesteuert machen, sondern<br />

die Dinge hinterfragen. Wir wollen vermitteln, dass es<br />

wichtig ist, nicht alles grundsätzlich als gegeben anzunehmen.<br />

Es geht darum, Leute zu ermächtigen, Entscheidungen<br />

kritisch zu betrachten, hier sensibler zu<br />

werden. Auch viele Beschäftigte der Polizei oder der<br />

Bundeswehr nehmen bei uns an Fortbildungen teil.<br />

„Wir wollen<br />

uns auch damit<br />

auseinandersetzen,<br />

was<br />

die Geschichte<br />

für uns heute<br />

bedeutet.“<br />

22 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

23


Rolle von Gedenkstätten<br />

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit<br />

Sie arbeiten in Strukturen, die sehr hierarchisch sind.<br />

Sie möchten wir empowern, diese Hierarchien an bestimmten<br />

Punkten zu durchbrechen.<br />

In den vergangenen Jahren hat sich eine intensive Erinnerungs-<br />

und Gedenkkultur einerseits, andererseits eine umfassende<br />

Aufklärungs- und Bewusstseinsarbeit etabliert. Was<br />

hat sich dadurch zum Positiven verändert?<br />

I Ich finde positiv, dass es eine thematische Vielfalt<br />

gibt, eine Breite an verschiedenen Aspekten. In der<br />

historischen Forschung, aber auch in der Bildungsarbeit<br />

wird interdisziplinär gedacht. Es gibt hier eine<br />

Perspektiven- und auch Themenvielfalt. Es arbeitet<br />

schon längst nicht mehr nur die Geschichtswissenschaft<br />

in diesem Bereich. Da hat sich etwas erweitert,<br />

und es gibt auch Platz für Aspekte, die zuvor weniger<br />

Berücksichtigung gefunden haben.<br />

Können Sie hier Beispiele nennen?<br />

I Zum Beispiel die zunehmend multiperspektivischen<br />

Zugänge in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.<br />

Wir nehmen viel selbstverständlicher verschiedene<br />

Gruppen von Betroffenen in den Blick. Wir<br />

fragen danach, wer die Geschichte aus welcher Perspektive<br />

und mit welcher Intention erzählt. In den<br />

letzten Jahren ging es auch verstärkt darum, was es<br />

für eine Einwanderungsgesellschaft für eine diverse<br />

Gesellschaft bedeutet, sich mit dem Holocaust zu beschäftigten.<br />

Aber auch aktuelle Erscheinungsformen<br />

von Antisemitismus spielen eine immer wichtigere<br />

Rolle. Das sind Punkte, die mittlerweile verstärkt Berücksichtigung<br />

finden.<br />

Wo stößt institutionelle Gedenkarbeit andererseits an Grenzen<br />

und welche sind das?<br />

I Heute stellt sich uns die Frage, wie wir, also Gedenkstätten,<br />

uns in diesem Gefüge von gesellschaftlichen<br />

Diskursen und Debatten positionieren. Was wollen<br />

und was können wir vermitteln? Da gibt es derzeit<br />

viel Bewegung, weil Gedenkstätten mit Erwartungshaltungen<br />

und Wünschen von Politik und Gesellschaft<br />

konfrontiert sind, die sie teilweise nicht erfüllen<br />

können. Da gibt es Grenzen. Da muss man auch<br />

Vorgaben der Politik kritisch hinterfragen. Kann man<br />

beispielsweise erwarten, dass ein Besuch an einer Gedenkstätte<br />

vor Antisemitismus schützt?<br />

Ein einzelner Besuch an einer Gedenkstätte kann<br />

nicht einholen, was zur Ausbildung einer antisemitismuskritischen<br />

Haltung notwendig wäre. Aber natürlich<br />

müssen sich auch Gedenkstätten überlegen, welche<br />

eigenen und spezifischen Ansätze zum Umgang<br />

mit Antisemitismus hier entwickelt werden können.<br />

Diese Ansätze müssen Teil unserer Kernaufgaben,<br />

also der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus,<br />

seiner Vor- und Nachgeschichte sowie gesellschaftlichen<br />

Kontinuitäten sein. Nicht alle Probleme<br />

in unseren demokratischen Gesellschaften sind mit<br />

einem Besuch einer Gedenkstätte zu lösen.<br />

24 wına | April 2022<br />

Inszenierung. „Wir<br />

wissen nicht einmal, ob<br />

die Besprechung überhaupt<br />

im so genannten<br />

Konferenzraum in der<br />

Ausstellung stattgefunden<br />

hat – wir vermuten<br />

es“, erläutert Deborah<br />

Hartmann. (Die Bilder<br />

stammen aus dem 2022<br />

herausgekommenen<br />

Fernsehfilm Die Wannsee-<br />

Konferenz von Matti<br />

Geschonneck.)<br />

„Heute stellt<br />

sich uns die<br />

Frage, wie wir,<br />

also Gedenkstätten,<br />

uns in<br />

diesem Gefüge<br />

von gesellschaftlichen<br />

Diskursen und<br />

Debatten positionieren.“<br />

Deborah<br />

Hartmann<br />

Aktuell erleben wir ein interessantes Phänomen: Die Schoah<br />

wird als Referenz herangezogen, wenn es um Aufmerksamkeit<br />

für völlig andere Dinge, etwa den Tierschutz oder vermeintliche<br />

Menschenrechtsverstöße durch Covid-Präventionsmaßnahmen<br />

oder die Impfpflicht geht. Was ist da schiefgelaufen?<br />

I Der Holocaust bildet einerseits einen Referenzrahmen<br />

für alles Mögliche. Andererseits ist es ein unglaublich<br />

beliebtes Motiv, sich selbst zum Opfer zu<br />

machen. Ich werte mich und meine Geschichte auf,<br />

indem ich mich an diesem Referenzrahmen messe.<br />

Wenn eine Weigerung, sich impfen zu lassen, dieselben<br />

Folgen haben soll, wie sie Anne Frank oder Sophie<br />

Scholl erfahren mussten, dann ist das eine Aufwertung<br />

dessen, was ich erlebe. Das zeigt aber, dass<br />

es kein Bewusstsein für Unterschiede gibt. Das ist eine<br />

Gleichsetzung, die gar nicht reflektiert, wo es Differenzen<br />

zwischen meinem Leben heute und der damaligen<br />

Situation gibt.<br />

Was ist das schief gelaufen? Schwierig. Die Erinnerungskultur?<br />

Gesellschaftliche Debatten? Curricula<br />

an Schulen? Das müsste man sich immer im Einzelnen<br />

anschauen. Aber man merkt, dass es in unseren<br />

Gesellschaften immer noch das Bedürfnis gibt, die Geschichte<br />

zu relativieren, da steckt ja auch der Wunsch<br />

nach Entlastung dahinter. Ich entlaste mich, meine<br />

Gesellschaft, meine Familiengeschichte, indem ich<br />

mich selbst zum Opfer mache. Damit relativiere ich<br />

auch die eigene Schuld und Verantwortung. Da stecken<br />

ganz viele Mechanismen dahinter: Schuldabwehr<br />

in Familiennarrativen, Schlussstrich, Gleichsetzung.<br />

Wie kann hier von Institutionen wie der Gedenkstätte am<br />

Wannsee nachgeschärft werden?<br />

I Einerseits versuchen wir, die Geschichte dieser Zeit<br />

zu erzählen. Ich glaube aber, dass wir hier vielleicht<br />

© zdf.de<br />

noch andere Zugänge brauchen, die auch die persönlichen<br />

Emotionen stärker mit einbeziehen. Es geht<br />

darum, dass wir, die wir hier arbeiten, bei uns, aber<br />

auch bei den Besucher:innen hinterfragen und reflektieren<br />

müssen, woher diese oder jene Emotion<br />

kommt. Da sollten wir versuchen, die Ansätze unserer<br />

Vermittlungsarbeit weiterzuentwickeln, die verstärkt<br />

auf unsere Besucher eingehen. Was bringen<br />

sie an Lebensgeschichte und Haltungen mit? Das ist<br />

auch die einzige Möglichkeit zu verstehen, welche<br />

Einstellungen Besucherinnen und Besucher haben.<br />

Aber Pädagogik und Didaktik haben auch ihre Grenzen.<br />

Wenn jemand mit einem geschlossenen Weltbild<br />

herkommt, ist es schwierig, das zu durchbrechen.<br />

Wir befinden uns in der Erinnerungsarbeit an den Holocaust<br />

derzeit an einer Zeitenwende. Es leben nur mehr sehr wenige<br />

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Wie verändert das den Zugang?<br />

Spüren Sie das im Haus der Wannsee-Konferenz auch?<br />

I Das spielt in Wannsee weniger eine Rolle, weil wir<br />

inhaltlich anders ausgerichtet sind. Aber natürlich<br />

gibt es einen generationellen Wandel und Umbruch.<br />

Das verändert den Zugang zu Geschichte und damit<br />

auch unsere Erinnerungskultur – in welcher Form<br />

kann man noch nicht sagen. Es eröffnet aber wiederum<br />

vielleicht auch die eine oder andere neue Perspektive.<br />

In Israel haben wir in Yad Vashem sehr oft mit<br />

der zweiten oder dritten Generation gearbeitet. Nachkommen<br />

von Schoah-Überlebenden können uns etwas<br />

darüber erzählen, wie sie mit dieser Geschichte<br />

aufgewachsen sind, was sie mitbekommen haben von<br />

Julia &<br />

Marianne<br />

„Nachkommen<br />

von Schoah-<br />

Überlebenden<br />

können uns<br />

etwas darüber<br />

erzählen, wie<br />

sie mit dieser<br />

Geschichte<br />

aufgewachsen<br />

sind […], auch<br />

das ermöglicht<br />

einen<br />

persönlichen<br />

Zugang.“<br />

Eltern und Großeltern und was nicht. Und auch das<br />

ermöglicht einen persönlichen Zugang. Dieser persönliche<br />

Zugang ist im Haus der Wannsee-Konferenz<br />

auch wichtig, aber durch den Aspekt Täterschaft nochmals<br />

anders gelagert.<br />

Stichwort Täterschaft: Gibt es auch Menschen, die aus<br />

Bewunderung für die Nationalsozialisten in die Gedenkstätte<br />

kommen?<br />

I Es kann sein, dass das bei einzelnen Besucher:innen<br />

so ist; aber wir hatten hier noch keine Pilgeratmosphäre.<br />

Allerdings gibt es durchaus Nachkommen von<br />

Tätern, die das Haus besuchen. Im Sommer hat die<br />

Enkelin von Martin Luther, einem Teilnehmer der<br />

Wannsee-Konferenz, in unser Gästebuch geschrieben,<br />

sie schäme sich für ihren Großvater und seine<br />

Taten. Wir haben sie dann ausfindig gemacht und<br />

sind mit ihr nach wie vor in Kontakt.<br />

Worin liegen für Sie künftig die Aufgaben der Gedenk- und<br />

Erinnerungsarbeit?<br />

I Ich glaube, was uns noch länger begleiten wird, ist<br />

die Frage der Gegenwartsbezüge, der Verbindungslinien<br />

von Vergangenheit und Gegenwart. Da ist man<br />

noch am Suchen und Überlegen: Wo befinden wir uns<br />

da, was für Ansätze und Methoden brauchen wir und<br />

was wird aus der Gegenwart thematisiert. Ich glaube,<br />

das muss immer auch auf den konkreten Ort bezogen<br />

sein, was kann der Ort in Bezug auf konkrete Themen<br />

leisten. Ich denke zudem, dass rassismus- und antisemitismuskritische<br />

Bildungsarbeit weit relevanter<br />

wird für unsere Orte als bisher.<br />

Sowie das Manna vom Himmel fiel,<br />

überfiel Julia und Marianne die Leidenschaft zum<br />

Kochen, Kreieren und Produzieren.<br />

Die Liebe und Leidenschaft zum Besonderen und die Auswahl feinster<br />

Zutaten sind die Schlüssel zu unseren eizigartigen Köstlichkeiten.<br />

Selbstverständlich verwenden wir keine<br />

Konservierungsmittel oder Geschmacksverstärker.<br />

Unsere Produkte sind mit Sorgfalt und Liebe ausgesucht;<br />

Sie sind bio, regional und teilweise koscher.<br />

Je nach Saison gibt es neue Delikatessen.<br />

Unsere Waren werden Sie in keinem Supermarkt finden,<br />

alles schmeckt wie bei Oma.<br />

Marmeladen, Chutneys, Süßigkeiten ...<br />

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wına-magazin.at<br />

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25


Opfer und Helden<br />

Reue und Versöhnung<br />

Meine Großeltern, die Nazis<br />

Der Zweite Weltkrieg ist lange vorbei. Und doch wirkt er immer noch<br />

nach. Nun ist es vermehrt die Enkelgeneration, die nachfragt – auch in<br />

den sogenannten Täterfamilien. Ein schwieriges und schmerzliches Unterfangen,<br />

dem ich in meiner neuen Fernsehdokumentation nachspüre.<br />

Von Uli Jürgens<br />

Feldpost des Großvaters<br />

von Bettina Henkel.<br />

Friedemann<br />

Derschmidt.<br />

„Meine Vorfahren<br />

[…] haben<br />

nichts weggeschmissen,<br />

keine Ahnenpässe,<br />

keine<br />

Mutterkreuze,<br />

keine Parteiabzeichen.<br />

Man könnte<br />

es ja noch mal<br />

brauchen.“<br />

Günter<br />

Kaindstorfer.<br />

Sein Großvater<br />

Anton<br />

Kaindlstorfer<br />

war Direktor der<br />

Sparkasse und<br />

NSDAP-Ortsgruppenleiter<br />

in Bad Ischl.<br />

Wie werden Familiengeschichten<br />

mit nationalsozialistischem<br />

Hintergrund weitererzählt?<br />

Was wird betont und was wird<br />

ausgelassen? Und inwiefern verändert<br />

eine Aufarbeitung die Enkelkinder? Für<br />

meine aktuelle Dokumentation habe ich<br />

vier Protagonist:innen gesucht und gefunden,<br />

die mir erzählen, was sie über<br />

ihre Großväter und Großmütter herausgefunden<br />

haben. Bettina Henkel lehrt an<br />

der Akademie der bildenden Künste, sie<br />

hat die Suche nach ihren Wurzeln zu einer<br />

Art Road-Movie verarbeitet. Den Software-Entwickler<br />

Jürgen Schmidt hat die<br />

Aufarbeitung seiner Familiengeschichte<br />

radikal politisiert und, sagt er, zu einem<br />

besseren Menschen gemacht. Spannend<br />

ist auch die Geschichte des Journalisten<br />

und Schriftstellers Günter Kaindlstorfer,<br />

die in Bad Ischl spielt. Und der Medienkünstler<br />

Friedemann Derschmidt hat unfassbar<br />

viel Material geerbt und ist zum<br />

Chronisten seiner Familiengeschichte geworden.<br />

In den Vorgesprächen und Interviews<br />

werden mir vier – man könnte sagen „typisch<br />

österreichische“ – Geschichten erzählt.<br />

Geschichten vom Schweigen und<br />

vom Verdrängen, Geschichten von Opfern<br />

und Helden, aber auch Geschichten von<br />

Reue und Versöhnung. Ich bin selbst die<br />

Enkelin eines SS-Offiziers, der den Krieg<br />

nicht überlebt hat, und erforsche meine<br />

Familiengeschichte. In vielen Antworten<br />

meiner Gesprächspartner:innen finde ich<br />

mich wieder. Sie sind, wie ich, meist angewiesen<br />

auf Archive – denn die beforschten<br />

Familienmitglieder sind bereits tot<br />

und können nicht mehr persönlich befragt<br />

werden. Eltern, Onkel oder Tanten<br />

© Nik Suchentrun, Uli Jürgens<br />

haben sich ihre Erinnerung zurechtgelegt,<br />

geradegebogen, umgeschrieben. Es<br />

sind Erzählungen aus zweiter Hand. Auf<br />

Dachböden oder in Kellern gibt es manchmal<br />

Zufallsfunde: Dokumente, Fotos und<br />

diverse Objekte, die das Familiennarrativ<br />

auf den Kopf stellen und die Enkelkinder<br />

herausfordern.<br />

Beim Besuch bei Friedemann Derschmidt<br />

überrascht mein Team und mich<br />

vor allem die Menge an „NS-Zeug“, das<br />

sich im Lauf der Jahre in der Wohnung<br />

des Künstlers angesammelt hat. „Meine<br />

Vorfahren waren so von der historischen<br />

Mission überzeugt, die haben nichts weggeschmissen,<br />

keine Ahnenpässe, keine<br />

Mutterkreuze, keine Parteiabzeichen. Man<br />

könnte es ja noch mal brauchen“, sagt er<br />

und öffnet einen Koffer, prall gefüllt mit<br />

verschiedensten Ansteckern und kleinen<br />

Spielzeugen. Diese Objekte bekam man,<br />

wenn man für das Winterhilfswerk spendete.<br />

Jeden Tag eine neue Überraschung:<br />

Minimärchenbücher, kleine Keramikvögel,<br />

Verkehrszeichen und vieles mehr.<br />

Dazwischen Führer-Huldigungen und<br />

NS-Slogans. Friedemann Derschmidts<br />

jüngster Onkel habe ihm erzählt, dass es<br />

in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren<br />

etwas ganz Besonderes gewesen sei, wenn<br />

die Großmutter den Koffer hervorholte<br />

und die Kinder mit den Objekten spielen<br />

durften. Friedemann Derschmidt verwendet<br />

immer wieder Teile seiner familiengeschichtlichen<br />

Forschung in seinen Kunstprojekten.<br />

Dreh- und Angelpunkt ist meist<br />

der Urgroßvater, ein Anhänger der Eugenik,<br />

der seine eigene Familie für die Ahnentafel<br />

biometrisch abfotografierte: einmal<br />

von vorn, einmal im Halbprofil, einmal im<br />

Profil. Mit seiner Forschung führe er das<br />

Projekt des Urgroßvaters<br />

auf absurde Art weiter,<br />

sagt Friedemann Derschmidt:<br />

„Dadurch, dass<br />

ich angefangen habe,<br />

mich damit auseinanderzusetzen,<br />

war ich ganz<br />

pragmatisch gezwungen,<br />

einen Stammbaum zu<br />

zeichnen, um zu wissen,<br />

wer ist wer. Das bedeutet,<br />

dass ich dieses Projekt<br />

quasi dekonstruiere, aber natürlich<br />

in einer paradoxen Weise auch fortführe.“<br />

Außendreh in Bad Ischl. Hier wurde Günter<br />

Kaindlstorfer geboren, aufgewachsen ist<br />

er in Wels. Seit einigen Jahren pendelt er<br />

mit dem Zug zwischen Wien und dem Salzkammergut,<br />

besitzt eine kleine Wohnung<br />

in Ischl, wo Radiosendungen und Fernsehbeiträge<br />

entstehen und er unter dem<br />

Pseudonym Günter Wels Bücher schreibt.<br />

Bad Ischl sei seine Herzensgegend, sagt er<br />

später im Interview: „Hier sieht man wie<br />

in einem Brennspiegel all das, was Österreich<br />

ausmacht, im Guten wie im Schlechten.<br />

Es ist eine landschaftlich unglaublich<br />

schöne Region, es sind freundliche, lebenslustige,<br />

hart arbeitende Menschen. Es gibt<br />

aber auch eine widerständige Tradition,<br />

die aus der Selbstorganisation der Salinenarbeiter<br />

und Bergwerksleute kommt.<br />

Das gefällt mir.“ Bad Ischl, die „Kaiserstadt“,<br />

mit ihrer vor allem in den 1920er-<br />

Jahren stark jüdisch geprägten Sommerfrische,<br />

ist immer noch ein Touristenmagnet.<br />

An unserem Drehtag ist es zwar kalt, aber<br />

die Sonne scheint und die Berge sind angezuckert.<br />

Von der Kamera verfolgt, spaziere<br />

ich mit Günter Kaindlstorfer an der<br />

„[…] dann müssen<br />

wir nicht<br />

eine Schuldfrage<br />

stellen, sondern<br />

eine Verantwortungsfrage.“<br />

Jürgen Schmidt<br />

Kirche vorbei in die Pfarrgasse.<br />

Sein Großvater Anton<br />

Kaindlstorfer war<br />

rund um das Jahr 1938 Direktor<br />

der Sparkasse und<br />

NSDAP-Ortsgruppenleiter<br />

in Bad Ischl. Arisierungen<br />

jüdischer Villen und Geschäfte<br />

gingen über seinen<br />

Schreibtisch – nicht<br />

alles, aber doch einiges davon<br />

ist belegt, sagt Günter<br />

Kaindlstorfer. Unser Gespräch vor den ehemals<br />

jüdischen Geschäften – wo Galanteriewaren<br />

und Wanderartikel verkauft wurden<br />

– wird vom Kameramann aus verschiedenen<br />

Perspektiven aufgenommen, immer<br />

wieder erzählt mir Günter Kaindlstorfer<br />

die gleiche Geschichte. Eine eigenartige<br />

Situation, denn eigentlich müssen wir fast<br />

lachen bei den vielen Wiederholungen. In<br />

Wirklichkeit sind diese Geschichten zum<br />

Weinen.<br />

Zum Weinen war auch Bettina Henkels<br />

Vater Helge auf ihrer gemeinsamen Reise<br />

in die Vergangenheit. Die Vorfahren waren<br />

Deutschbalten, die von Riga ins besetzte Polen<br />

umgesiedelt wurden. Bei ihren Nachforschungen<br />

setzten sich Vater und Tochter<br />

emotional fordernden Situationen aus.<br />

Sie suchten nach Spuren der Großmutter,<br />

die auf Fotos eigenartig traurig aussieht,<br />

und des Großvaters, der wohl an Kriegsverbrechen<br />

im Partisanenkampf beteiligt<br />

war. Entstanden ist dabei der überaus berührende<br />

Film Kinder unter Deck. Mich interessiert<br />

im Interview für meine Dokumentation<br />

vor allem, welche Gefühle die Reise<br />

bei den beiden ausgelöst hat. Eine Szene<br />

zeigt Vater und Tochter in einem Wald, sie<br />

stehen vor moosbewachsenen Gräbern, le-<br />

26 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

27


Radikaler Gesinnungswandel<br />

Thema<br />

Jürgen Schmidt. „Wir haben<br />

die Verantwortung, dass diese<br />

Dinge ans Tageslicht kommen.<br />

Wir haben kein Recht darauf,<br />

sie zu verheimlichen.“<br />

gen Blumen ab, zünden Kerzen an. Helge<br />

Henkel wird von seinen Emotionen überwältigt,<br />

er weint. Seine Tochter steht neben<br />

ihm. Ihr Vater sei sehr ehrlich mit seinen<br />

Gefühlen umgegangen, habe sich ihr<br />

und dem Kinopublikum auf sehr sensible<br />

Weise geöffnet, sagt Bettina Henkel. Und<br />

ihr selbst sei im Zusammenhang mit der<br />

Szene bei den Gräbern erst bei der Sichtung<br />

des Materials aufgefallen, dass sie sich<br />

dort überaus erleichtert fühlte: „Ich habe<br />

mich noch einmal hineinfühlen müssen<br />

und verstanden, dass in dem Moment, wo<br />

der Vater trauert, ich nicht mehr trauern<br />

muss. Ich muss das nicht. Endlich ist diese<br />

Trauer an dem Ort, wo sie sein soll.“<br />

Als wir an unserem letzten Drehtag Jürgen<br />

Schmidt besuchen, ist es draußen stürmisch.<br />

Der Wind heult in den noch blätterlosen<br />

Bäumen, ab und zu zieht ein leichter<br />

Nieselregen vorüber. Doch drinnen, in Jürgen<br />

Schmidts Wohnzimmer, geht es um etwas<br />

ganz anderes, das kräftig durcheinandergewirbelt<br />

wurde, nämlich seine Familie.<br />

Seine Kindheit und Jugend verbrachte Jür-<br />

Bettina Henkel. „[…]<br />

verstanden, dass in dem Moment,<br />

wo der Vater trauert, ich<br />

nicht mehr trauern muss.“<br />

DIE DOKUMENTATION<br />

Meine Großeltern, die Nazis<br />

(45 Minuten, Ko-Produktion Trilight<br />

Entertainment und ORF III) ist am 7.<br />

Mai im Hauptabendprogramm<br />

von ORF III zu sehen. Am 27. April<br />

findet eine Vorpremiere im Haus<br />

der Geschichte Österreichs statt.<br />

Eine Anmeldung unter hdgö.at ist<br />

notwendig.<br />

gen Schmidt in Herrnbaumgarten, nahe<br />

der tschechischen Grenze. Die Eltern wählten<br />

Volkspartei, er selbst war Mitglied der<br />

Jungen ÖVP. Als ans Licht kam, dass der<br />

Großvater an Menschentransporten aus<br />

Griechenland beteiligt war, dass die Großmutter<br />

jahrelang gelogen hatte, dass die<br />

kleine jüdische Gemeinde Herrnbaumgartens<br />

bereits vor dem Einmarsch der deutschen<br />

Truppen in vorauseilendem Gehorsam<br />

von der Dorfbevölkerung vertrieben<br />

wurde und Jürgens Schmidts Vater von all<br />

diesen Dingen nichts wissen wollte, hielt<br />

den jungen Jürgen Schmidt nichts mehr im<br />

nördlichen Weinviertel. Es folgte ein radikaler<br />

Gesinnungswandel, Mitarbeit bei antifaschistischen<br />

und antirassistischen Initiativen.<br />

Heute ist Jürgen Schmidt mit sich<br />

im Reinen, auch mit dem Vater kam es zur<br />

Versöhnung. Im Interview sagt er: „Wenn<br />

wir das aufarbeiten und überwinden wollen,<br />

dann müssen wir nicht eine Schuldfrage<br />

stellen, sondern eine Verantwortungsfrage.<br />

Wir haben die Verantwortung,<br />

dass diese Dinge ans Tageslicht kommen.<br />

Wir haben kein Recht darauf, sie zu verheimlichen.“<br />

Schön wäre, wenn in Herrnbaumgarten<br />

irgendetwas an die vertriebenen<br />

jüdischen Familien erinnern würde,<br />

meint Jürgen Schmidt. Die neuerliche Auseinandersetzung<br />

mit seiner Familiengeschichte<br />

im Zuge meiner Dokumentation<br />

habe in ihm den Wunsch reifen lassen,<br />

endlich die Initiative zu ergreifen.<br />

Enkelkinder beschäftigen sich aus verschiedenen<br />

Gründen mit der Vergangenheit.<br />

Viele wollen ihre – geliebten<br />

– Großeltern entlasten, suchen nach Widerständigkeit.<br />

Oft finden sie aber Verstörendes,<br />

Trauriges, Schmerzhaftes. Hören<br />

von „anständigen“ Nazis oder vom Großvater,<br />

der „nur seine Pflicht“ getan habe.<br />

Und in vielen Fällen bestätigen sich Ahnungen,<br />

Andeutungen und Irritationen.<br />

Bei der Sichtung des ORF-Archivmaterials<br />

stoße ich auf eine Sendung zur Ausstellung<br />

Verbrechen der Wehrmacht Ende der 1990er-<br />

Jahre. Und dann geht plötzlich jemand<br />

durch das Bild – eine junge Frau, blonde<br />

Haare, eine Art Wanderrucksack, der<br />

Gang kommt mir bekannt vor. Ich stutze:<br />

Bin das wirklich ich? Also mein damaliges<br />

Ich beim Besuch der Wehrmachtsausstellung?<br />

Gut möglich. Da bin ich nun<br />

also, mittendrin in meiner eigenen Dokumentation.<br />

Meine eigene Familiengeschichte<br />

muss trotzdem noch warten, zu<br />

viele andere Projekte sind zuerst zu erledigen.<br />

Auch wenn wir Enkelkinder im Hier<br />

und Jetzt unsere Leben leben – wir sind<br />

mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges<br />

noch lange nicht fertig.<br />

Uli Jürgens lebt und arbeitet in Wien.<br />

Seit 2015 gestaltet sie zeitgeschichtliche<br />

Fernsehdokumentationen, bisher<br />

beschäftigte sie sich mit der Opferseite,<br />

nun erstmals mit den Täter:innen.<br />

© Nik Suchentrun, Uli Jürgens<br />

28 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

29


Geschickt & skrupellos<br />

Voller Geheimnisse<br />

Patronen für Faschisten<br />

und Demokraten<br />

Der österreichische Industrielle Fritz Mandl exportierte in<br />

den 1930er-Jahren illegal in zahlreiche Länder, floh ins argentinische<br />

Exil und versorgte dann das österreichische Bundesheer.<br />

Eine neue Biografie beschreibt seine dunklen Talente.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Ursula Prutsch :<br />

Wer war Fritz Mandl.<br />

Nazis, Waffen und<br />

Geheimdienste.<br />

Molden Verlag,<br />

304 S., € 30<br />

„Die Augen in dem scharf gezeichneten,<br />

massiv aussehenden Kopf<br />

auf einen fragenden Ausdruck eingestellt.<br />

[…] Er sieht gefährlich aus.“<br />

Orson Wells<br />

© Votava / Imagno / picturedesk.com<br />

Er war so wichtig für die Nazis,<br />

dass sie nach dem „Anschluss“<br />

Österreichs den jüdischen Unternehmer<br />

nicht einfach enteigneten<br />

wie Tausende andere,<br />

sondern um seine Patronenfabrik<br />

verhandelten. Fritz Mandl hatte dafür<br />

schon klug vorgebaut: Der überwiegende<br />

Teil der Aktien der Hirtenberger AG lag in<br />

einem Zürcher Banktresor. Für die Übergabe<br />

an den deutschen Rüstungskonzern<br />

Gustloff Werke erzielte er einerseits einen<br />

beachtlichen Preis – noch dazu teilweise in<br />

Devisen –, anderseits konnte er unbehindert<br />

nach Argentinien emigrieren.<br />

Mandl, Jahrgang 1900, war in eine assimilierte<br />

jüdische Familie hineingeboren<br />

worden. „Er war mit Arthur Schnitzler<br />

verwandt und galt in den Zwanzigern<br />

als der reichste Industrielle im Land“,<br />

schreibt die Münchner Historikerin Ursula<br />

Prutsch in ihrer aktuellen Biografie<br />

Wer war Fritz Mandl. Nazis, Waffen und Geheimdienste.<br />

Die Familie stammte aus Mähren,<br />

Mandls Urgroßvater Leopold war Arzt und<br />

zog über einen Zwischenstopp in Ungarn<br />

nach Wien. Sein Großonkel Ludwig, einer<br />

von fünf Söhnen Leopolds, ursprünglich<br />

Getreidehändler, kaufte sich zuerst in<br />

eine Munitionsfabrik in Wien ein, später<br />

in Niederösterreich, in Hirtenberg. 1894,<br />

nach dem Tod Ludwigs, trat Fritz Mandls<br />

Vater Alexander, ein Neffe des Firmenchefs,<br />

in das Unternehmen ein. Er war<br />

studierter Chemiker und Physiker, mit<br />

Hilfe der Wiener Großbank Creditanstalt<br />

baute er den Patronenerzeuger kräftig aus.<br />

Schon um die Jahrhundertwende arbeiteten<br />

dort 1.600 Frauen und Männer, neben<br />

Munition für Jagdwaffen wurde militärische<br />

erzeugt, und gerade in diesem<br />

Bereich wuchsen die Exporte – auch in Kooperation<br />

mit der Rüstungsfabrik Steyr –<br />

recht kräftig. Dann sorgte der Erste Weltkrieg<br />

für einen ungeahnten Boom: 4.200<br />

Beschäftigte zählte das Stammwerk in Hirtenberg,<br />

eine weitere Fabrik in Ungarn<br />

führte noch einmal 3.500 Arbeiterinnen<br />

und Arbeiter auf ihren Lohnlisten.<br />

Doch der Krieg endete mit einer Niederlage,<br />

das Reich zerfiel, die ungarische<br />

Tochterfirma ging verloren, die Friedensverträge<br />

schnürten ein sehr enges Korsett<br />

für Rüstungsproduktion und einschlägige<br />

Exporte. Doch nun kam der junge Chemiestudent<br />

Fritz Mandl auf die Bühne –<br />

und in die Geschäftsführung von Hirtenberger.<br />

Und er sollte sich als äußerst<br />

geschäftstüchtig erweisen, ebenso als geschickt<br />

und skrupellos, was die Umgehung<br />

der internationalen Bestimmungen<br />

betraf. Eine kleine Auswahl: Da man<br />

in Österreich keine Waffen produzieren<br />

durfte, beteiligte sich Mandl – gemeinsam<br />

mit der deutschen Rheinmetall – an<br />

einem Schweizer Rüstungsunternehmen.<br />

Unter anderem über eine Tochterfirma in<br />

den Niederlanden exportierte er Munition<br />

in die Türkei und nach Argentinien, später<br />

verdiente er Millionen an Lieferungen<br />

für Italien, das in Abessinien Krieg führte.<br />

Lieferungen an das Militär sind immer<br />

nahe an der Politik gebaut. Mandl,<br />

zwar getauft, aber aus einer jüdischen Familie<br />

stammend, schloss sich der politischen<br />

Rechten an. In Italien pflegte er<br />

enge Kontakte zu den Faschisten Mussolinis,<br />

in Österreich wurde der Heimwehr-<br />

Führer Ernst Rüdiger Starhemberg ein enger<br />

Freund, auch in das ebenfalls stramm<br />

rechts regierte Ungarn lieferte Hirtenberger.<br />

Exporte gingen unter anderem nach<br />

Spanien, nach China und Mexiko, große<br />

Mengen aber – illegal – an die Heimwehren<br />

und an das österreichische Bundesheer.<br />

Einer dieser Deals flog auf, darüber wurde<br />

als „Hirtenberger Affäre“ groß in den Zeitungen<br />

Europas berichtet.<br />

Nach der Enteignung durch die Nazis<br />

emigrierte Mandl nach Argentinien. Dorthin<br />

hatte er wiederholt geliefert, dort verfügte<br />

er über lokale und europäische Geschäftspartner,<br />

auch durchaus solche mit<br />

Nazi-Hintergrund. Und Mandl war auch in<br />

Übersee – bei allen Schwierigkeiten – äußerst<br />

geschäftstüchtig. Sein beträchtliches<br />

Vermögen, das er hatte transferieren können,<br />

verbrauchte er nicht – auch wenn sein<br />

Lebensstil eher aufwändig blieb. Er investierte<br />

in eine Fahrradfabrik, in ein Unternehmen<br />

der Metallproduktion, in eine<br />

Kohlengrube in Peru. Zur Patronenproduktion<br />

kam er in Lateinamerika nicht,<br />

dafür waren die politischen Widerstände<br />

trotz Nähe zum damaligen Minister und<br />

späteren Präsidenten Juan Perón zu groß.<br />

Überdies stand Mandl in Fokus der US-Geheimdienste,<br />

die in ihm einen verdeckten<br />

Nazi vermuteten.<br />

Nach Kriegsende kehrte er wieder nach Österreich<br />

zurück, erhielt auch nach langen<br />

Verhandlungen die Hirtenberger Fabrik<br />

wieder. Sie hatte wegen ihrer günstigen<br />

Lage keine Zerstörungen durch alliierte<br />

Bomben erlitten, die Nachfrage nach Munition<br />

war freilich nicht gerade groß. Das<br />

sollte sich ab 1956 ändern, dem Jahr des<br />

von den Russen blutig niedergeschlagenen<br />

Aufstands in Ungarn. Österreich baute ein<br />

neues Bundesheer auf, und dieses benötigte<br />

Patronen. Mandl lieferte. Auch Exporte<br />

konnte er wieder in die Wege leiten:<br />

nach Nigeria und Biafra, nach Bolivien,<br />

Chile und Südafrika.<br />

Mandl war fünf Mal verheiratet, er eroberte<br />

als reicher, charmanter, aber auch<br />

autoritärer Mann stets schöne und intelligente<br />

Frauen. Die bekannteste unter<br />

seinen Ehefrauen war die Wiener Jüdin<br />

Hedwig Kiesler, später als Hedy Lamarr<br />

in Hollywood als Schauspielerin bekannt.<br />

Doch diese Beziehung ging schief, wie auch<br />

die anderen.<br />

Die geschäftliche Karriere und die politischen<br />

Verstrickungen Mandls sind im<br />

neuen Buch der an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München lehrenden Professorin<br />

für Geschichte Ursula Prutsch<br />

ausführlich beschrieben, der historische<br />

Hintergrund wird klar und verständlich<br />

ausgeleuchtet. Die Hauptfigur bleibt dennoch<br />

etwas blass. „Die Aura, die ihn umgab,<br />

wurde vom Rauch seiner Havanna-<br />

Zigarren, seinem Markenzeichen, seinen<br />

maßgeschneiderten Anzügen und den<br />

Hemden mit abnehmbaren Krägen geprägt,<br />

deren Reinigung dem Butler auferlegt<br />

wurde.“ Das könnte wohl viele wohlhabende<br />

Unternehmer beschreiben, ohne<br />

ihnen wirklich näher zu kommen. Und<br />

auch die Zuflucht zu einem Text des englischen<br />

Regisseurs Orson Welles, der Mandl<br />

einmal am Comer See kennen lernte, erschließt<br />

den Leserinnen und Lesern kaum<br />

die Gedanken- oder Gefühlswelt des Patronenfabrikanten:<br />

„Die Augen in dem<br />

scharf gezeichneten, massiv aussehenden<br />

Kopf auf einen fragenden Ausdruck eingestellt.<br />

Es sind die Augen eines gerissenen<br />

Jägers, aber in ihnen überrascht doch<br />

eine seltsam fahle Leere – ein toter Fleck.<br />

So, als ob das Zentrum einer Zielscheibe<br />

weiß ausgemalt wäre, oder wie der stille,<br />

luftleere Raum im Herzen eines Wirbelsturms.<br />

Er sieht gefährlich aus.“<br />

Fritz Mandl starb 1977 im Wiener AKH<br />

an Krebs. Ein Gutteil seiner Geschäfte –<br />

legal und illegal – ist dokumentiert. Der<br />

Mensch hat viele Geheimnisse bewahrt.<br />

Wer war Fritz Mandl? Letztlich wissen wir<br />

es nicht.<br />

30 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

31


Erhebliche Größenordnung<br />

Bis in den Generalstab<br />

Die jüdischen Soldaten<br />

des Kaisers<br />

Ein neues Buch erzählt die Geschichte der Juden in<br />

Österreich-Ungarns Armee von 1788 bis 1918. Im Ersten<br />

Weltkrieg waren dies zwischen 250.000 und 300.000,<br />

darunter etwa 25.000 Offiziere.<br />

Der Krieg kommt schnell auch<br />

zuhause an. „Viele jüdische Familien<br />

im Habsburger Reich<br />

hatten zwei bis acht Söhne,<br />

die gleichzeitig eingerückt waren – und<br />

es gab entsprechend Gefallene. Die beiden<br />

Söhne von Dr. Otto Strasser wurden<br />

in einer einzigen Woche getötet, und im<br />

April 1916 hatte Salomon Pollak alle drei<br />

Enkel verloren.“ Das schreibt Peter C. Appelbaum<br />

in seinem neuen Buch Habsburg<br />

Sons. Jews in the Austro-Hungarian Army 1788–<br />

1918. Appelbaum ist emeritierter Pathologe<br />

Von Reinhard Engel<br />

in Florida und hat bereits eine Reihe militärhistorischer<br />

Bücher verfasst.<br />

Der Ausschluss von Juden aus der deutschen<br />

Armee im Zweiten Weltkrieg nach<br />

„rassischen“ Kriterien hat die Inklusion<br />

der Juden im großen Krieg davor weitgehend<br />

aus dem Bewusstsein verdrängt.<br />

Doch es handelte sich um Zahlen von erheblicher<br />

Größenordnung. Laut Appelbaum<br />

dienten zwischen 1914 und 1918<br />

250.000 bis 300.000 Juden in den kaiserlichen<br />

Armeen zwischen der Infanterie<br />

in Galizien, den Gebirgsjägern an der<br />

italienischen Front, Artilleristen in Serbien,<br />

und selbst auf hoher See und in der<br />

Luft gab es jüdische Mannschaften und<br />

Offiziere. Letztere zählten übrigens etwa<br />

25.000, zu einer Zeit, als das preußische<br />

Armeekorps für Juden noch fest verschlossen<br />

war.<br />

Die große Zahl von aktiven und aktivierten<br />

Reserveoffizieren hatte einen Grund.<br />

Während der verpflichtende Wehrdienst<br />

vor 1914 für einfache Soldaten drei Jahre<br />

betrug, konnten Männer aus gebildeten<br />

Ständen mit dem Einjährigen-Freiwilligen-Jahr<br />

Leutnant der Reserve werden.<br />

Das galt für Studenten oder zumindest Maturanten<br />

und bot sich den emanzipierten<br />

Juden als Eintrittsmöglichkeit in die Mehrheitsgesellschaft<br />

an. Unter den Reserveoffizieren<br />

waren 18 Prozent jüdisch, deutlich<br />

mehr als der Anteil der Juden in der Gesamtbevölkerung.<br />

Konversion war dafür<br />

nicht notwendig, und eine Reihe von jüdischen<br />

Offizieren kletterten bis in höchste<br />

Funktionen im Generalstab. Besonders<br />

viele Juden fanden sich im Ärztekorps – in<br />

Friedenszeiten und dann später auch auf<br />

den Schlachtfeldern.<br />

Einige Beispiele für außergewöhnliche<br />

Militärkarrieren von Juden: Leopold<br />

Austerlitz aus Prag diente im Generalstab<br />

der Artillerie als Oberst; Maximilan<br />

Mendel führte als Oberst an der italienischen<br />

Front eine Brigade von Gebirgsjägern,<br />

er wurde geadelt (Maximilan Mendel<br />

von Burghart) und 1917 zum Generalmajor<br />

befördert; Carl Schwarz aus Prag ging kurz<br />

vor dem Ersten Weltkrieg als Generalmajor<br />

in Pension; Tobias Österreicher, Sohn<br />

eines mährischen Kaufmanns, kommandierte<br />

in Lissa das Schlachtschiff „Elisabeth“<br />

und rüstete als Konteradmiral ab.<br />

Appelbaum schreibt, dass im Ersten<br />

Weltkrieg Juden an allen Fronten dienten,<br />

ihre Stellung innerhalb der Armeen<br />

war allerdings sehr unterschiedlich. Am<br />

selbstverständlichsten behandelten die<br />

Italiener ihre jüdischen Kameraden, am<br />

meisten diskriminiert wurde in der zaristischen<br />

russischen Armee. Bei den Deutschen<br />

gab es vor dem Krieg bloß in Bayern<br />

einzelne jüdische Offiziere, die Preußen<br />

erlaubten Beförderungen erst während<br />

des Kriegs. Österreich lag auf dieser Skala<br />

näher bei den Italienern, und auch wenn<br />

es immer wieder antisemitische Ausfälle<br />

gab: Im Großen und Ganzen waren Juden<br />

in den kaiserlichen Armeen gut integriert,<br />

hatten auch ihre Feldrabbiner und bekamen<br />

koscheres Essen. Gekämpft wurde<br />

auch an Hohen Feiertagen, etwa am Jom<br />

© Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

Kippur im italienisch-slowenischen Karst:<br />

„Rosenfeld, statt zu beten und zu fasten,<br />

musste am heiligen Tag als Artilleriebeobachter<br />

dienen. […] Rosenfeld hängte seinen<br />

Tallit um, betete und reparierte zerschossene<br />

Telefonkabel. Er stand an der<br />

Gefechtslinie und betete, beobachtete den<br />

Feind und betete, erfüllte seine Pflicht und<br />

betete, Granaten explodierten in seiner<br />

Nähe, und er betete.“<br />

Verbindungseinheiten. Juden kam in einer<br />

multinationalen Armee eine besondere<br />

Rolle zu. Sie hingen an keiner der zahlreichen<br />

unterschiedlichen Nationalitäten,<br />

von Ruthenen bis Italienern, von Tschechen<br />

bis Ungarn oder Kroaten, ihre Loyalität<br />

galt Österreich beziehungsweise dem<br />

Kaiser direkt. Wegen ihrer Mehrsprachigkeit<br />

wurden sie oft als Verbindungsglieder<br />

zu anders sprechenden Einheiten eingesetzt.<br />

Denn von 1.000 Soldaten sprachen<br />

267 deutsch, 233 ungarisch, 135 tschechisch,<br />

85 polnisch,<br />

81 ukrainisch, 67 kroatisch,<br />

64 rumänisch,<br />

38 slowakisch, 26 slowenisch<br />

und 14 italienisch.<br />

Aber auch die jüdischen<br />

Soldaten waren<br />

alles andere als einheitlich:<br />

In den galizischen<br />

Regimentern<br />

dominierten streng orthodoxe<br />

Mannschaften<br />

aus den Stetln, die jiddisch<br />

sprachen. Bei den<br />

jungen Offizieren aus<br />

Wien oder Prag handelte<br />

es sich zum Gutteil um assimilierte,<br />

urbane deutschsprachige Bildungsbürger.<br />

Vor dem großen Schnitter wurden sie<br />

dann freilich alle gleich. Zwar hatten die<br />

österreichischen Juden bei Kriegsausbruch<br />

zum Großteil die nationale Euphorie<br />

der anderen geteilt, es gab freilich Ausnahmen,<br />

etwa den tief skeptischen Franz<br />

Kafka. Der Präsident der Wiener Israelitischen<br />

Kultusgemeinde ließ wiederum<br />

nach einer Plenarversammlung verlauten,<br />

„dass unsere Söhne mit großem Enthusiasmus<br />

in den Krieg ziehen“. Sie fielen<br />

wie ihre Kameraden anderer Konfessionen<br />

in einer desorganisierten, schlecht geführten<br />

Armee, unter teils schrecklichen Bedingungen.<br />

Sie starben an Kugeln, Schrapnellen,<br />

Frost und Krankheiten. Insgesamt<br />

fielen im Ersten Weltkrieg zwischen 30.000<br />

und 40.000 jüdische Soldaten.<br />

Im Großen und<br />

Ganzen waren<br />

Juden in den<br />

kaiserlichen<br />

Armeen gut integriert,<br />

hatten<br />

auch ihre Feldrabbiner<br />

und<br />

bekamen koscheres<br />

Essen.<br />

Peter C. Appelbaum:<br />

Habsburg Sons. Jews<br />

in the Austro-Hungarian<br />

Army 1788–1918.<br />

Academic Studies Press<br />

2021, 366 S., € 29,99<br />

VORGESCHICHTE UND NACHSPIEL<br />

Die militärische Emanzipation der<br />

österreichischen Juden begann<br />

mit Josef II. Ein hoher preußischer Beamter<br />

und Freimaurer, Christian Konrad<br />

Wilhelm von Dohm, verfasste 1781<br />

eine von den Gedanken der Aufklärung<br />

getragene Schrift, Über die bürgerliche<br />

Verbesserung der Juden. Darin<br />

argumentierte er für die Öffnung<br />

der Armee für Juden, auch wenn das<br />

– wegen der unterschiedlichen Feiertage<br />

und Speisegesetze – praktische<br />

Probleme mit sich brächte. Ab<br />

1788 wurde in Österreich eine Wehrpflicht<br />

auch für Juden eingeführt –<br />

noch einige Jahre vor dem revolutionären<br />

Frankreich. Es begann freilich<br />

mit eher einfachen Diensten, etwa als<br />

Artillerie-Helfer. Doch schon ein Jahr<br />

später wurden erste jüdische Soldaten<br />

auf die Thora angelobt und<br />

in die Infanterie aufgenommen. Die<br />

folgenden Jahrzehnte sahen ein Auf<br />

und Ab jüdischer Integration in die<br />

Armee, aber bereits in napoleonischen<br />

Kriegen und dann wieder in<br />

den Schlachten, die Österreich im 19.<br />

Jahrhundert verlor, etwa 1859 in Solferino<br />

oder 1866 in Königgrätz, starben<br />

Juden für den Kaiser.<br />

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs,<br />

dem Zerfall des Reichs und<br />

der vorläufigen Abrüstung gab es<br />

für Karrieresoldaten kaum Möglichkeiten.<br />

Einer der wenigen war Julius<br />

Deutsch, der zuerst in der Regierung<br />

Renner als Staatssekretär für<br />

das neue österreichische Bundesheer<br />

verantwortlich war, dann als<br />

Obmann den sozialdemokratischen<br />

Schutzbund leitete und im Spanischen<br />

Bürgerkrieg als General auf<br />

Seiten der linken Republik kämpfte.<br />

Er überlebte den Nazi-Terror im Exil<br />

in den USA.<br />

Der ungarische Offizier Béla Kun<br />

(Kohn) hatte in der russischen Gefangenschaft<br />

marxistische Theorien<br />

kennengelernt und wollte diese<br />

nach Kriegsende in Ungarn umsetzen.<br />

133 Tage hielt die Räterepublik,<br />

die er maßgeblich leitete und die sich<br />

kurzzeitig sogar auf die östliche Slowakei<br />

ausdehnte. Dann floh er in die<br />

Sowjetunion und wurde auf der Krim<br />

mit verantwortlich für Massenexekutionen<br />

von mehreren zehntausend<br />

Gegnern der Kommunisten, die sich<br />

schon ergeben hatten. Kun fiel später<br />

selbst den Säuberungen Stalins<br />

zum Opfer.<br />

Nach dem „Anschluss“ Österreichs<br />

1938 nutzte den ehemaligen<br />

jüdischen Soldaten ihre Tapferkeit<br />

nichts; sie wurden ebenso Opfer des<br />

brutalen Terrors wie jüdische Zivilisten.<br />

Sie mussten die ganze Leidensgeschichte<br />

mitmachen, von entwürdigenden<br />

Reibpartien bis zu Flucht<br />

und Exil, Konzentrationslager und Ermordung.<br />

Einige Kriegsveteranen schafften<br />

es nach Palästina. Unter ihnen war<br />

etwa der Artillerieoffizier Sigmund<br />

Edler von Friedmann, der nach dem<br />

Krieg in Wien den Bund jüdischer<br />

Frontsoldaten mit gegründet und<br />

später geleitet hatte. Nach seiner Verhaftung<br />

1938 und der Flucht nach Palästina<br />

änderte er seinen Namen auf<br />

Eitan Avisar. Er wurde stellvertretender<br />

Stabschef der Untergrundarmee<br />

Haganah, avancierte zum Generalmajor<br />

und war im neu gegründeten<br />

Staat Israel Vorsitzender des obersten<br />

Militärgerichts.<br />

32 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

33


Einflussreiches Wien<br />

Neue Modernität<br />

Caroline Wohlgemuth:<br />

Mid-Century<br />

Modern. Visionäres<br />

Möbeldesign aus Wien.<br />

Birkhäuser 2022,<br />

296 S., € 49,95<br />

Wohnraum Werkbundsiedlung,<br />

Haus Nr. 12, nach einem Entwurf von<br />

Josef Frank, Wien um 1932.<br />

Multifunktionaler Stahlrohrsessel<br />

nach einem Entwuf<br />

von Friedl Dicker und Franz<br />

Singer, Wien um 1930.<br />

DIE LEICHTEN,<br />

SCHWEREN WIENER MÖBEL<br />

Ein neuer Bildband würdigt die kreativen Leistungen von Designern<br />

und Designerinnen im Wien der 1920er- und 1930er-Jahre. Die Mehrzahl<br />

von ihnen war jüdisch und musste vor den Nazis fliehen.<br />

Das Wien der Jahrhundertwende<br />

ist mit seinen künstlerischen<br />

Leistungen international<br />

bekannt. „Wien war eine<br />

der kreativsten Metropolen der Welt und<br />

die Stadt des modernen Designs“, schreibt<br />

Caroline Wohlgemuth in ihrem aktuellen<br />

Bildband Mid-Century Modern. Visionäres Möbeldesign<br />

aus Wien. Das betreffe Architekten<br />

wie Josef Hoffmann oder Adolf Loos oder<br />

auch den innovativen Möbelindustriellen<br />

Michael Thonet. „Doch kaum einer kennt<br />

Franz Singer, Ernst Schwadron, Bruno<br />

Von Reinhard Engel<br />

Pollak, Friedl Dicker oder Liane Zimbler<br />

– allesamt MöbeldesignerInnen aus dem<br />

Wien der 1920er- und 1930er-Jahre.“<br />

Wohlgemuth, studierte Juristin und<br />

Kunstmanagerin, schließt diese Lücke<br />

mit einem sorgfältig recherchierten – und<br />

reichlich illustrierten – Buch. Es gibt einen<br />

profunden Überblick über die Vorläufer<br />

und Lehrer der kreativen Möbelentwerfer,<br />

beschreibt die einzelnen Strömungen,<br />

die politisch-ökonomischen Verwerfungen<br />

der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg – und<br />

dann die Folgen des Nazi-„Anschlusses“<br />

© Birkhäuser Verlag; Martin Gerlach jun./© Wien Museum; Sammlung GS,/© FS<br />

1938. „Die Geschichte des Wiener Möbeldesigns<br />

ist jedoch auch eine Geschichte<br />

der Flucht, der Emigration und der Vertreibung<br />

der intellektuellen und kreativen<br />

Elite Österreichs“, erläutert Wohlgemuth.<br />

Der überwiegende Anteil dieser Elite<br />

war jüdisch, darunter besonders viele<br />

Frauen als erste Absolventinnen der Technischen<br />

Hochschule (heute TU) oder der<br />

Kunstgewerbeschule. Friedl Dicker wurde<br />

in Auschwitz ermordet, viele andere wurden<br />

deportiert, mussten fliehen, und nicht<br />

allen gelang es, im Ausland neu anzufangen<br />

oder gar erfolgreich zu werden. Auch<br />

diese Beispiele finden sich gut dokumentiert<br />

im Buch. Kaum überraschend gab es<br />

nur eine ganz kleine Zahl von Emigranten,<br />

die nach 1945 zurückkehrten und den Neustart<br />

schafften.<br />

Die Vorgeschichte. Wien hatte schon im Biedermeier<br />

ein protoindustrielles designorientiertes<br />

Unternehmen: Die Möbelfabrik<br />

Danhauser beschäftigte Anfang des<br />

19. Jahrhunderts 130 Mitarbeiter, darunter<br />

viele gut ausgebildete Kunsttischler, und<br />

exportierte einen Teil der Produktion. Der<br />

große Durchbruch für die Symbiose aus Design<br />

und Massenfertigung folgte dann in<br />

der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.<br />

Der aus dem Rheinland zugewanderte<br />

Michael Thonet wurde mit seinen Bugholzmöbeln<br />

schnell erfolgreich und avancierte<br />

zum internationalen Markenartikler<br />

mit mehreren Fabriken, Flagship-Stores in<br />

den Hauptstädten Europas und in den USA<br />

mit sowie einem umfangreichen Bestellkatalog.<br />

Und auch dem Unternehmen Jacob &<br />

Josef Kohn – „schärfster Konkurrent“ von<br />

Thonet – gelang die Internationalisierung<br />

– ebenfalls mit industriell gefertigten Möbeln<br />

und modernem Design.<br />

Als weitere Vorbedingung für die spätere<br />

Blüte sieht Wohlgemuth das Interesse<br />

renommierter Architekten für Möbelentwürfe,<br />

es gab damals noch keine spezialisierte<br />

einschlägige Ausbildung. Und dann<br />

öffneten sich – zögerlich – die Türen der<br />

höheren Schulen und Universitäten für<br />

Frauen. Diese nahmen die Angebote an,<br />

vor allem aus jüdischen bürgerlichen Familien.<br />

Doch die politische Entwicklung sorgte<br />

für eine mächtige Zäsur. „Der Ausbruch<br />

des Ersten Weltkriegs 1914 bedeutete eine<br />

abrupte Unterbrechung der Wiener Moderne.<br />

[…] Damit ging in Wien eine Ära zu<br />

Ende. Der Einfluss Wiens auf die Entwicklung<br />

des europäischen Möbeldesigns war<br />

jedoch enorm.“<br />

Die Blütezeit. Der verlorene Krieg und die<br />

Zerschlagung des Habsburgerreichs hatten<br />

die ökosozialen Bedingungen für die Designbranche<br />

grundlegend verändert. Während<br />

Wiener Werkstätte und Stararchitekten<br />

vorwiegend für den Adel und das<br />

Großbürgertum gearbeitet hatten, sich in<br />

Gesamtkunstwerken von Villen oder Repräsentativbauten<br />

verwirklichten, waren<br />

nun andere Probleme drängender: Wohnungsnot,<br />

strikte Ökonomisierung der<br />

Wohnungsgrößen, sparsames Umgehen<br />

mit Materialien.<br />

Mit diesen Voraussetzungen arbeiteten<br />

die jungen Männer und Frauen, großen<br />

Einfluss hatte auf sie vor allem Adolf Loos,<br />

der zwar nicht an der Universität unterrichtete,<br />

aber in informellen Kreisen seine<br />

Ansichten von Modernität – ohne „verbrecherische<br />

Ornamente“ – weitergab. Internationale<br />

Einflüsse kamen von der angloamerikanischen<br />

Arts-and-Craft-Bewegung<br />

und dann natürlich vom deutschen Bauhaus,<br />

wo einige österreichisch-ungarische<br />

Als weitere<br />

Vorbedingung<br />

für die spätere<br />

Blüte sieht<br />

Wohlgemuth<br />

das Interesse<br />

renommierter<br />

Architekten<br />

für Möbelentwürfe.<br />

34 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

35


Neues Wiener Wohnen<br />

Gemischtes Ensemble. Lampen von<br />

Louis Kalff und Serge Mouille, der Couchtisch<br />

von Nanna Ditzel, die Tischlampe von Gabriella<br />

Crespi und der Fauteuil von Marco Zanuso.<br />

die Ateliergemeinschaft Singer & Dicker<br />

sowie die Werkbundsiedlung in Wien-<br />

Hietzing als „Höhepunkt modernen Möbeldesigns“<br />

und sozialen Wohnbaus. Beim<br />

Werkbund ließ sich dräuendes Unheil bereits<br />

erahnen: Nach der Machtübernahme<br />

der Nazis in Deutschland spaltete sich dieser<br />

in Österreich, einer der Nachfolger, der<br />

Neue Werkbund Österreich, schloss Juden<br />

als Mitglieder aus.<br />

Entwurf des Kistenkastens<br />

von Friedl<br />

Dicker und Franz<br />

Singer, Wien um 1927.<br />

„In Wien entwickelte<br />

sich<br />

in diesen Jahren<br />

eine ganz<br />

spezifische<br />

Ausprägung<br />

des modernen<br />

Möbeldesigns.“<br />

Caroline<br />

Wohlgemuth<br />

Talente studierten oder arbeiteten, etwa<br />

Friedl Dicker und Marcel Breuer.<br />

„In Wien entwickelte sich in diesen Jahren<br />

eine ganz spezifische Ausprägung des<br />

modernen Möbeldesigns“, weiß Wohlgemuth.<br />

„Es kam zu einer Blüte der Innenarchitektur<br />

und des Möbeldesigns.“ Die Kreativität<br />

schien unerschöpflich. „Die neue<br />

Zeit verlangte nach neuen Möbeln, die sich<br />

durch eine Vielfalt an Formen, Leichtigkeit,<br />

raffinierten Details sowie eine hervorragende<br />

handwerkliche Qualität und<br />

Verarbeitung auszeichneten.“<br />

Die Bewegung wurde auch unter dem<br />

Namen „Neues Wiener Wohnen“ bekannt,<br />

Oskar Strnad, Josef Frank und Oskar<br />

Wlach galten als hervorragende Vertreter,<br />

darüber hinaus Walter Sobotka oder<br />

Ernst Lichtblau. Doch anders als zur Zeit<br />

der Wiener Moderne blieben die männlichen<br />

Kreativen nun nicht mehr unter<br />

sich. „Unter den ersten Architektinnen<br />

und Möbeldesignerinnen befanden sich<br />

großteils junge, moderne Frauen aus jüdischen<br />

Familien. Sie waren akademisch<br />

gebildet, weltoffen, überzeugte Feministinnen,<br />

setzten sich für Frauenrechte und<br />

soziales Wohnen ein und bewiesen neben<br />

ihrer unerschöpflichen Kreativität ein<br />

enormes persönliches Durchsetzungsvermögen.“<br />

Die Liste dieser Designerinnen<br />

ist lang. Auf ihr finden sich neben Dicker<br />

etwa Ella Baumfeld, Margarete Schütte-Lihotzky,<br />

Rosa Weiser, Felice Rix oder Jacqueline<br />

Groag.<br />

Drei besondere Bespiele der kreativen<br />

Zusammenballung dieser Zeit beschreibt<br />

Mid-Century Modern noch etwas genauer:<br />

Haus & Garten, das Einrichtungsunternehmen<br />

von Josef Frank und Oskar Wlach,<br />

Vertreibung und Flucht. Eine Reihe kreativer<br />

Designerinnen und Architekten hatten<br />

schon im Laufe der 1930er-Jahre aufgrund<br />

des Antisemitismus Deutschland und Österreich<br />

verlassen. Ab dem „Anschluss“<br />

1938 musste dann die überwiegende Zahl<br />

der in Österreich in der Branche Tätigen<br />

fliehen. So „verlor Wien innerhalb weniger<br />

Jahre fast sein gesamtes intellektuelles,<br />

modernes und visionäres Potential an ArchitektInnen<br />

und MöbeldesignerInnen.“<br />

Die – oft sehr weiten – Wege lesen sich<br />

lakonisch im umfangreichen biografischen<br />

Teil des Buches. Nach dem Namen<br />

als Überschrift folgen Geburts- und Todesorte.<br />

Eine kleine Auswahl: Friedl Dicker<br />

Wien–Auschwitz; Paul Engelmann<br />

Olmütz–Tel Aviv; Friedrich Kiesler Czernowitz–New<br />

York; Ernst Freud Wien–London;<br />

Felice Rix-Ueno Wien–Kyoto; Ernst Schwadron<br />

Wien–New York; Dora Gad Langenau–<br />

Caesarea; Martin Eisler Wien–Brasilia.<br />

Manchen gelang es, auch an ihren<br />

neuen Wohn- und Arbeitsorten an frühere<br />

Erfolge anzuschließen, auch örtlich<br />

Einfluss auf die Möbelbranche auszuüben.<br />

Dafür steht etwa Josef Frank in seiner Zeit<br />

in Schweden – neben Möbelentwürfen<br />

haben seine Stoffdesigns bis heute überlebt.<br />

Nur bei ganz wenigen steht am Beginn<br />

und am Ende ihres Lebens die Adresse<br />

Wien, so bei Ernst Lichtblau. Ähnlich<br />

wie in anderen Bereichen der Gesellschaft<br />

wurden auch die Designerinnen und Designer<br />

nicht gerade laut in ihre frühere Heimat<br />

zurückgerufen.<br />

Mid-Century Modern präsentiert einen<br />

auch heute noch oft unterschätzten Höhepunkt<br />

Wiener Kreativität. Das Buch lässt<br />

einen staunen über die Leistungen und<br />

schaudern über die ungerührte Brutalität,<br />

mit der eine kleine, feine Branche zerstört<br />

wurde und diese tragenden Frauen<br />

und Männer unfreiwillig in alle Himmelsrichtungen<br />

zerstreute.<br />

© Stephanie Weinhappel; FS<br />

36 wına | April 2022


LEBENS ART<br />

Das große Putzen<br />

Pessach steht vor der Tür – und somit wedeln die Feudel, Besen und Staubsauger<br />

wieder durch die Haushalte. Damit auch das letzte Krümelchen<br />

Chametz keine Chance hat, hat WINA hier ein paar saubere Produkte<br />

zusammengestellt.<br />

Fremde Federn<br />

Das altmodische Gerät sieht auf<br />

den ersten Blick aus, als sei seine<br />

Existenzberechtigung mit der Erfindung<br />

des Mikrovliestuchs untergegangen.<br />

Aber keineswegs: Straußenfedern<br />

binden Staub elektrostatisch. Empfindliche<br />

Gegenstände und Möbeloberflächen können so<br />

sanft, aber gründlich gereinigt werden.<br />

manufactum.at<br />

Zum Fressen gern<br />

Was wird seit über 100 Jahren nicht alles mit<br />

Schmitzols „Wiener Kalk“ auf Hochglanz poliert:<br />

Edelstahl, Silber, Chrom, Messing, Glas, Keramik,<br />

Kunststoffe! Und das völlig umweltfreundlich,<br />

denn das Wundermittel ist ein reines Naturprodukt.<br />

Der Kalk ist sogar bei versehentlichem<br />

Verzehr unschädlich (schmeckt jedoch auch<br />

nicht besonders gut).<br />

Z. B. über nowwow.shop<br />

Echter Feger<br />

Die Blinden- und Sehbehinderten<br />

Förderungswerk<br />

GmbH (bsfw.at) ist eine Arbeitsund<br />

Ausbildungsstätte, in der<br />

Menschen vorwiegend mit Sehbehinderungen<br />

zum Besen- und Pinselmacher ausgebildet<br />

werden. Was diese Werkstatt verlässt, ist also nichts<br />

als mit viel Präzision und Fingerfertigkeit hergestelltes<br />

Handwerk – etwa dieser tolle Handbesen aus<br />

Buchenholz mit handgezogenen Kokosfasern.<br />

Z. B. über goodgoods.at<br />

Tolle Tonne<br />

Der ikonische „Kickmaster CL Mülleimer“ lässt sich durch<br />

einen einfachen Fußtritt leicht öffnen und schließt dank<br />

des eingebauten Dämpfers wieder geräuschlos. Die beiden<br />

Klappen auf der Oberseite garantieren nicht nur einen<br />

einfachen Einwurf des Abfalls, sondern verschließen<br />

den Müll samt Geruch sicher. In vielen Farben erhältlich!<br />

wesco.de<br />

Feudeln mit Freude<br />

Superkluger Sauger<br />

Wenn der Staubsauger intelligenter ist als<br />

man selbst, wird’s brenzlig. Oder sehr sauber!<br />

Der „Dyson V15 Detect“ kommt tatsächlich<br />

mit einem präzise ausgerichteten<br />

Laser, der unsichtbaren Staub auf<br />

Hartböden sichtbar macht. Dabei errechnet<br />

ein Sensor kontinuierlich die<br />

Anzahl und Größe der aufgesaugten<br />

Staubpartikel – und erhöht die<br />

Saugkraft bei Bedarf automatisch.<br />

dyson.at<br />

Flash-Mopp<br />

Dieser amerikanische Wollmopp sieht nicht nur<br />

aus, als würde er sich auf jeder Bühne gut<br />

machen. Er könnte sie auch mit links blitzeblank<br />

reinigen (solang sie aus Parkett, Laminat oder<br />

Fliesen besteht). Sein Geheimnis: Die Wollfasern<br />

binden mit dem in ihnen enthaltenen Lanolin<br />

die Staubpartikel außerordentlich gut.<br />

Z. B. über manufactum.at<br />

Eine staubtrockene Anleitung für Menschen,<br />

„die eigentlich keine Lust auf Putzen haben“ –<br />

ergo: für alle! Die in Hamburg lebende Wiener<br />

Autorin Sigrid Neudecker gibt in Sauber! leicht<br />

umsetzbare Tipps, wie man sein Heim ohne<br />

übermäßigen Mittel- und Körpereinsatz sauber<br />

bekommt und diesen Zustand auch beibehalten<br />

kann. Inklusive Checklisten, Psychotest und<br />

Soforthilfe für jeden Raum.<br />

piper.de<br />

Heil’ges Blechle<br />

Ein Two-in-one-Produkt für Saubermänner<br />

und -frauen: Mit den Silikonborsten<br />

des Handfegers „Sweep“ lassen<br />

sich feuchte wie trockene Dinge<br />

auf das passende Kehrblech schieben.<br />

Wenn der Handfeger nicht in<br />

Gebrauch ist, wird er einfach in das<br />

Kehrblech gesteckt, und das Set<br />

kann platzsparend verstaut werden.<br />

evasolo.com<br />

Fotos: Hersteller<br />

wına-magazin.at<br />

37


Liebe wina-Redaktion,<br />

in der Pessach-Haggada heißt es, dass sich der Mensch<br />

in jeder Generation so betrachten soll, als sei er selbst<br />

aus Ägypten ausgezogen sei. Die Elemente und Rituale<br />

des Seders bringen das zum Ausdruck. Was für mich<br />

aber immer rätselhaft geblieben ist, ist die Geschichte<br />

des Afikomans. Könnt ihr mich erhellen, was es mit<br />

diesem Stück der am Seder gegessenen Mazze auf sich<br />

hat und warum es während des Mahls versteckt wird?<br />

<br />

D<br />

Laura C.<br />

ann holen wir die Erklärung mal aus ihrem<br />

Versteck. Drei Mazzot liegen auf der<br />

festlichen Seder-Tafel – als Sinnbild für die drei<br />

Arten von Juden, Kohanim, Levi’im und Jisraelim.<br />

Zu Beginn der Feier wird bei den Segenssprüchen<br />

die mittlere Mazza in zwei ungleiche<br />

Teile (Jachaz) gebrochen und der größere<br />

Teil, den wir Afikoman nennen, während des<br />

Mahls verborgen. Dafür bieten heute manche<br />

Onlineshops als stilvolles Pessach-Accessoire<br />

aufwendig gestaltete „Afikoman-Bags“ an. Der<br />

Höhepunkt des Abends ist erreicht, wenn das<br />

verborgene Mazzastück wieder auf der Tafel erscheint<br />

und vor dem dritten Becher Wein verspeist<br />

wird.<br />

Aus dem Verbergen des Afikomans hat sich<br />

in vielen Familien ein Spiel entwickelt: Der<br />

Seder kann erst beendet werden, wenn eines<br />

der Kinder den Afikoman wiedergefunden hat<br />

und eine Belohnung für dessen Rückgabe verhandelt<br />

wurde. Nach einer anderen Tradition<br />

versteckt eines der Kinder den Afikoman und<br />

wird mit einem kleinen Geschenk oder einer<br />

Art „Lösegeld“ (wie wäre es mit Schokoladentalern,<br />

Rezept anbei?) belohnt, gegen welches<br />

es den Afikoman eintauscht. Weil das Verspeisen<br />

des Afikomans das Sedermahl abschließt, haben die Kinder<br />

damit maßgeblichen Einfluss auf die Länge des Festabends – und<br />

natürlich ihren Spaß.<br />

So oder so: Der Brauch ist „erst“ seit dem Mittelalter fester Bestandteil<br />

des Rituals. In der Thora lässt sich kein Hinweis auf diese<br />

Tradition finden. Und im Talmud ist nur von einer<br />

Mazza, die gebrochen wird, die Rede<br />

(Pessachim 115).<br />

Die Wurzeln des Brauchs reichen jedoch<br />

weit in die Antike zurück. Manche<br />

Quellen leiten die Bezeichnung<br />

aus dem Aramäischen von Afiko und<br />

Kamen ab für „vor uns herausziehen“,<br />

38 wına | April 2022<br />

WINA KOCHT<br />

Was hat Anlehnen mit Freiheit zu tun,<br />

… und wieso wird ein Stück Mazze versteckt? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher Rätsel,<br />

die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte:<br />

Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

SÜSSES AFIKOMAN-<br />

LÖSEGELD:<br />

SCHOKOLADENTALER<br />

ZUTATEN (für ca. 30 Stück):<br />

200 g vegane Zartbitterschokolade<br />

1 EL Ahornsirup<br />

1 EL Kokosöl<br />

¼ Tasse gehackte Pistazien<br />

¼ Tasse gefriergetrocknete<br />

Himbeeren in Stücken<br />

1 Prise Salz<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Kokosöl, Ahornsirup und Salz in einem<br />

Topf erhitzen. 2 bis 3 Minuten leicht<br />

köcheln lassen, bis die Mischung etwas<br />

eindickt. Gehackte Pistazien einrühren.<br />

Masse auf ein mit Backpapier<br />

ausgelegtes Blech gießen und verteilen,<br />

sodass die Pistazien nicht aneinander<br />

kleben. Abkühlen lassen.<br />

Schokolade über einem Wasserbad<br />

erhitzen, bis sie durchgeschmolzen ist<br />

und ca. 45 °C bis 50 °C heiß ist.<br />

Vom Herd nehmen und fünf Minuten<br />

abkühlen lassen.<br />

Backpapier auf der Arbeitsfläche ausbreiten.<br />

Esslöffelweise runde Taler<br />

aus der Schokolade auf das Papier<br />

gießen. Die Taler mit den Karamellpistazien<br />

und Himbeeren bestreuen, solange<br />

sie noch flüssig sind. Himbeer-<br />

Pistazien-Schokotaler im Kühlschrank<br />

für mindestens 30 Minuten auskühlen<br />

lassen und dann vorsichtig vom<br />

Backpapier abziehen.<br />

Kühl und luftdicht lagern.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

was in Hinblick auf das Verstecken und Wiederauftauchen<br />

des Mazzestücks durchaus logisch<br />

erscheint.<br />

Andere sagen wiederum, der Name „Afikoman“<br />

komme aus dem Griechischen, bedeute<br />

so viel wie „Dessert“ und nehme Bezug<br />

darauf, dass man nach dem Pessachmahl<br />

nicht mehr an anderen profanen Feierlichkeiten<br />

teilnehmen sollte (Pessachim 119b).<br />

Später deuteten die Rabbiner das als Verbot,<br />

nach dem Pessachlamm noch eine andere<br />

Speise zu essen. Da seit der Zerstörung<br />

des Zweiten Tempels keine Opferungen mehr<br />

stattfinden, wurde das Pessachlamm symbolisch<br />

durch die Mazza ersetzt, die seit dem<br />

Mittelalter selbst als Afikoman bezeichnet<br />

wird.<br />

Die Bezeichnung lässt aber auch andere<br />

Deutungsmöglichkeiten zu. Sie könnte auch<br />

auf den griechischen Begriff „Aphikomenos“<br />

zurückgehen für „der da kommen soll“. Die<br />

Mazza gilt dann nicht nur als Reminiszenz<br />

an das Lamm, sondern kann auch als Verheißung<br />

der Erlösung Israels und als Hinweis auf<br />

den Messias gedeutet werden. So wie ohne<br />

Messias keine Erlösung zuteilwerden kann,<br />

kann auch der Seder ohne Afikoman kein<br />

Ende finden.<br />

Servus und Shalom,<br />

könnt Ihr mir erklären, warum wir uns auf die linke<br />

Seite neigen und anlehnen, wenn wir beim Seder zum<br />

Beispiel den Wein trinken und Mazze essen? Und warum<br />

gilt diese Haltung als Zeichen der Freiheit?<br />

D<br />

Gregor M.<br />

er Brauch stammt aus der Antike. Damals<br />

lagen freie Menschen bei den<br />

Mahlzeiten auf gepolsterten Liegen. Sie ruhten dabei auf dem<br />

linken Arm und Ellbogen und nahmen das Essen mit der rechten<br />

(reinen) Hand auf – so wollte es die Etikette, auch für Linkshänder.<br />

Freie aßen und tranken also in einer sehr bequemen, entspannten<br />

Haltung. Sklaven hingegen mussten stets abrufbereit<br />

sein und durften nur sitzen. Am Seder glichen die Juden der<br />

Mischnazeit (d. h. Römerzeit) ihr Verhalten dem ihrer nichtjüdischen<br />

aristokratischen Nachbarn an, um zu zeigen, dass sie in<br />

der Sedernacht so frei und ungezwungen waren wie alle anderen<br />

auch. Gleichzeitig erinnert das Ritual daran, dass G-tt die Israeliten<br />

aus Ägypten herausgeführt und sie „mit starker Hand und<br />

ausgestrecktem Arm“ zu freien Menschen gemacht hat.<br />

© 123RF<br />

Mato Johannik<br />

IKG.KULTUR PRÄSENTIERT<br />

DIE HIGLIGHTS IM<br />

FRÜHLING/SOMMER 2022<br />

Dvori Barzilais Ausstellung<br />

„Shirat Dvora“<br />

09. bis15. Juni 2022<br />

Kunstraum Nestroyhof<br />

IKG/Morgensztern<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.ikg-wien.at/kultur<br />

Lea Kalisch & Bela Koreny<br />

„Heute Abend: So wie<br />

musikalisch, aber leakalisch!“<br />

14. Juni 2022<br />

20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />

Mehr Infos und Tickets unter:<br />

www.porgy.at/events/10894/<br />

Ethel Merhaut & Wladigeroff<br />

Brothers ‚Tif vi di Nakht‘<br />

23. Mai 2022<br />

20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />

Mehr Infos und Tickets unter:<br />

www.porgy.at/events/10842/<br />

Das Jüdische Straßenfest<br />

12. Juni 2022<br />

14:30 bis 20:00 Uhr, Judenplatz<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.ikg-wien.at/kultur<br />

privat<br />

Liz Doz<br />

wına-magazin.at<br />

39


Rabbi vom Rhein<br />

Sederabende<br />

mit Heinrich Heine<br />

Als der „Der Rabbi von Bacherach“ bei<br />

uns daheim zu Gast war.<br />

Von Anita Pollak<br />

„Jeder, der<br />

hungrig ist,<br />

komme<br />

und esse!“<br />

Pessach-Hag ga da<br />

Heinrich Heine war so etwas<br />

wie der literarische Hausg-tt<br />

in vielen bildungsbürgerlichen<br />

jüdischen Familien.<br />

© akg-images / picturedesk.com; 123RF<br />

Gäste, bekannte, aber auch kaum<br />

bekannte, am Sedertisch willkommen<br />

zu heißen, Menschen,<br />

die keine Familie haben, Reisende<br />

und natürlich auch Flüchtlinge<br />

einzuladen, ist seit jeher Brauch und eine<br />

Mitzwa, sprich eine gute Tat. Heißt es doch: „Jeder,<br />

der hungrig ist, komme und esse! Jeder, der<br />

in Not, komme und feiere mit uns das Pessachfest!“<br />

Waren wir an dieser Stelle der Hag ga da angelangt,<br />

trat in meinem Elternhaus immer ein<br />

ganz besonderer Gast unsichtbar auf: der Rabbi<br />

von Bacherach. Denn alljährlich erzählte mein<br />

Vater, der den Seder nicht nur routiniert leitete,<br />

sondern über die Texte der Hag ga da hinaus<br />

mit zahlreichen Episoden zu würzen pflegte,<br />

Heinrich Heines Geschichte aus dunkler Vorzeit<br />

nach.<br />

Und wir Kinder warteten darauf mit derselben<br />

Angstlust, mit der wir später die Wohnungstür<br />

öffneten, um als letzten Gast den Propheten<br />

Elijahu einzulassen, für den ein Becher Wein in<br />

der Mitte des Tisches bereitstand.<br />

In unserer Kindheit waren die Haustore in<br />

der Stadt noch nicht verschlossen, sodass theoretisch<br />

auch Fremde Zutritt gehabt hätten.<br />

Solange also laut gesungen wurde, „Gieße aus<br />

deinen Grimm über die Völker […]“, bis es erlösend<br />

hieß, „Ihr könnt die Türe wieder schließen!“,<br />

solange fürchtete ich mich. Und das eben<br />

auch wegen des Rabbis von Bacherach. Heinrich<br />

Heine war ja so etwas wie der literarische<br />

Hausg-tt in vielen bildungsbürgerlichen jüdischen<br />

Familien, und einige seiner Gedichte waren<br />

uns schon früh vertraut. „Keine Messe wird<br />

man singen, keinen Kadosch wird man sagen“,<br />

zitierte mein Vater immer warnend Heines Dilemma<br />

als getaufter Jude.<br />

Ritualmord-Legende. In seinem unvollendeten<br />

Prosafragment über Rabbi Abraham aus dem<br />

idyllischen Städtchen am Rhein spiegeln sich die<br />

beiden Seelen des deutschen Juden wie in wenigen<br />

anderen seiner Werke. Als Heinrich Heine<br />

(1797–1856) vermutlich um 1840 seine Erzählung<br />

schrieb, war die Legende vom Ritualmord, dass<br />

also Juden das Blut christlicher Kinder für religiöse<br />

Zwecke gebrauchen, bereits ebenso uralt<br />

wie unausrottbar und offenbar in Europa wieder<br />

einmal aufgeflammt.<br />

Heine blendet zurück in das späte 15. Jahrhundert,<br />

die Lebenszeit des Rabbi, dem wiederum<br />

die im Volk fest verankerte Historie vom angeblichen<br />

Ritualmord an dem Knaben Werner<br />

von Bacherach aus dem Jahr 1287 mitsamt dem<br />

anschließend blutigen Pogrom wohl bewusst ist,<br />

als sich zwei Männer in weiten, dunklen Gewändern<br />

auf die Einladung: „Jeder, der hungrig ist<br />

[...]“ an die von ihm angeführte Sedertafel setzen.<br />

Mit Entsetzen erspürt er mit seinem Fuß<br />

plötzlich, dass ihm ein Kinderleichnam untergeschoben<br />

wurde, und weiß auf der Stelle, was<br />

das für ihn und seine Gemeinde bedeutet. Er erbleicht,<br />

fasst sich aber bald, und als das festliche<br />

Mahl bevorsteht, ergreift er die Hand seiner<br />

schönen Frau Sara und flieht mit ihr in einem<br />

Kahn über den nächtlichen Rhein, der die Melodien<br />

der „Agade“ zu murmeln scheint, ein schönes<br />

Wunschbild der Vereinigung des urdeutschen<br />

„Vater Rhein“ mit dem jüdischen Erbe.<br />

Anderntags landet das Paar in Frankfurt und<br />

sucht im Ghetto die Synagoge auf, wo der Rabbi<br />

beim Feiertagsg-ttesdienst „Gomel benscht“,<br />

das heißt das Dankgebet nach Errettung aus Lebensgefahr<br />

und anschließend das Kaddisch sagt,<br />

das Totengebet für seine in Bacherach verbliebenen<br />

Verwandten. Mit einer satirischen Schilderung<br />

der reichen Frankfurter Gemeindemitglieder,<br />

Juwelen behängten tratschenden Frauen<br />

und dem Auftritt eines spanischen Ritters, der<br />

sich zwar vom Judentum losgesagt hat, aber nach<br />

wie vor die jüdische Küche liebt, bricht das tragische<br />

Fragment fast humorvoll jäh ab.<br />

So ist es, so war es offenbar immer schon, und<br />

wie wunderbar ist all das getroffen! Heines intime<br />

Kenntnis der jüdischen Welt, die er wie sein<br />

spanischer Ritter verlassen wollte, was ihm aber<br />

nie gelang, schlägt sich im Großen und Kleinen<br />

nieder, in Atmosphäre und Gesellschaftsbild<br />

und nicht zuletzt in den liebevoll geschilderten<br />

Details der Seder-Gebräuche, von den rituellen<br />

Speisen, den Gebeten und Gesängen. Das Lied<br />

Chad gadja, vom „Böcklein“, dessen Tod gerächt<br />

wird, eine Metapher für das jüdische Volk, legt<br />

er einem Possen reißenden Narren in den Mund,<br />

der ernst endet. „Einst kommt der Tag, wo der<br />

Engel des Todes den Schlächter schlachten wird,<br />

und all unser Blut kommt über Edom.“<br />

Längst ist der Rabbi vom Rhein nicht mehr<br />

Gast an unserem Sedertisch. Kinder darf man<br />

heutzutage mit derart grausigen Geschichten ja<br />

nicht ängstigen, sie beschäftigt weit mehr, welche<br />

Geschenke sie für das Auffinden des Afikoman<br />

bekommen könnten. Unsere Haustore sind<br />

fest verschlossen, kein Fremder begehrt Einlass,<br />

nur das Glas für Elijahu bleibt nach wie vor unberührt.<br />

Mir geht es aber alljährlich an besagter<br />

Stelle der Hag ga da wie Heinrich Heine mit seiner<br />

Loreley vom Rhein: „Ein Märchen aus alten<br />

Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn“, und<br />

ich sehne mich nach den Sederabenden in meinem<br />

Elternhaus.<br />

„Einst kommt<br />

der Tag, wo der<br />

Engel des Todes<br />

den Schlächter<br />

schlachten<br />

wird.“<br />

40 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

41


HIGHLIGHTS | 03<br />

Am Anfang:<br />

ein Bild<br />

„Die Fotografinnen Nini und Carry Hess“:<br />

eine Schau im Frankfurter Museum Giersch<br />

erkstätte für die Lichtbildkunst“, Börsenstraße<br />

2, Ecke Rathenauplatz, Frankfurt<br />

„W<br />

am Main. Innenstadtlage also, nicht weit von der<br />

Hauptwache und dem Goethehaus entfernt. Mit<br />

diesem Firmennamen plus soignierter Adresse<br />

warben 1920 Nini und Carry Hess in der viel gelesenen<br />

Zeitschrift Die Dame für sich. Da betrieben<br />

die beiden Schwestern gemeinsam bereits seit sieben<br />

Jahren ihr Fotoatelier. Nini, geboren 1884, und<br />

die um fünf Jahre jüngere Carry waren innovativ,<br />

imaginativ begabt und gefragt, beim Theater (Carl<br />

Zuckmayer) und fürs Porträt (Albert Schweitzer),<br />

aber auch für Tanz-, Architektur- und Modeaufnahmen.<br />

Nun ist fast 80 Jahre nach Ninis Tod in einem<br />

Konzentrationslager und 65 Jahre nach Carrys<br />

Tod erstmals eine Retrospektive mit rund 120<br />

Vintage-Prints zu sehen.<br />

Die Fotografinnen Nini und Carry<br />

Hess im Frankfurter Museum Giersch<br />

am Mainufer, nur einen Steinwurf vom<br />

großen Städel Museum und dem pittoresken<br />

Liebieghaus, dem Museum<br />

für Skulpturales wie für Watteau, entfernt,<br />

ist eine Entdeckung. Dass hier so<br />

manches Hochinteressante zu sehen<br />

ist, verdankt sich jahrelanger mühselig<br />

detektivischer Recherchearbeit, war<br />

doch im November 1938 ihr Archiv zerschlagen<br />

worden. A.K.<br />

Wall Drawing<br />

#528G aus dem<br />

Jahr 1987 von Sol<br />

LeWitt (re.).<br />

Nini & Carry Hess:<br />

Mary Wigman in<br />

Die sieben Tänze<br />

des Lebens, 1921.<br />

Am Anfang:<br />

die Idee<br />

Umfassende Sol-LeWitt-Ausstellung<br />

im Jüdischen Museum in Brüssel<br />

Das Ausprobieren und in die Welt bringen<br />

war wohl family business bei Solomon Le-<br />

Witt. 1928 kam er in Hartford im US-Ostküstenbundesstaat<br />

Connecticut zur Welt, seine Mutter<br />

war Hebamme, sein Vater ein Arzt, der in<br />

seiner Ordination unablässig chirurgische Gerätschaften<br />

ersann, beide waren aus Russland<br />

nach Amerika emigriert.<br />

40 Jahre später gehörte Sol, wie er seinen<br />

Vornamen abzukürzen pflegte, zu jener Kunstbewegung<br />

Jüngerer, die mit dem inzwischen<br />

arg müde gewordenen abstrakten Expressionismus<br />

brachen und Konträres produzierten:<br />

Geometrisches, Reduziertes, Konzeptionen<br />

statt Pinselstriche.<br />

Er war einer der Pioniere der Konzeptkunst<br />

ab den 1960er-Jahren, in dem, wie er selbst 1967<br />

schrieb, die „Idee oder das Konzept der wichtigste<br />

Aspekt“ des Kunstschaffens sei. Die Ausführung?<br />

Sei nachrangig. So fielen denn auch<br />

Le Witts Projektexekutivvorschreibungen in den<br />

nächsten fünf Jahrzehnten, bis zu seinem Tod<br />

2007, ausführlich und höchst penibel aus.<br />

Das Musée Juif de Belgique in Brüssel hat nun<br />

in einer Ausstellung seine Wall Drawings, Works<br />

on Papers, Structures (1968–2002) zusammengeführt.<br />

Dabei kann man luzide verfolgen, wie luzide<br />

LeWitts künstlerischer Weg in eine fast mystische<br />

Ruhe voranschritt. A.K.<br />

DIE FOTOGRAFINNEN NINI & CARRY HESS<br />

Museum Giersch der Goethe-Universität,<br />

Frankfurt am Main<br />

bis 22. Mai 2022<br />

mggu.de<br />

MUSIKTIPPS<br />

SOL LEWITT. WALL DRAWINGS, WORKS<br />

ON PAPER, STRUCTURES (1968–2002)<br />

Jüdisches Museum von Belgien, Brüssel<br />

bis 1. Mai 2022<br />

mjb-jmb.org<br />

COHEN<br />

Ja, eh, das Münchner Jazz-Label<br />

ECM, Heimat von Keith Jarrett<br />

e tutti quanti. Erst fünf Sekunden Pause,<br />

dann meditativer Kammerjazz. Naked Truth<br />

von Avishai Cohen erfüllt all diese ECM-Klischees.<br />

Und überschreitet sie. Es ist das improvisierteste<br />

Album des Trompeters, vielleicht<br />

das suggestivste. Mit Yonathan Avishai<br />

(Piano), Barak Mori am Kontrabass und Ziv Ravitz<br />

(Drums) musiziert er auf hohem Niveau.<br />

GLASS<br />

Es gibt sie noch, die Überraschun-<br />

gen. Etwa die Symphonie Nr. 14,<br />

„The Liechtenstein Suite“ (Orange Mountain),<br />

von Philip Glass, inzwischen 84. Für eine klei-<br />

nere Besetzung, das sehr junge Ensemble LGT<br />

Young Soloists aus Liechtenstein, geschrie-<br />

ben und eine Rückkehr zu seinen suggestiven<br />

Minimal-Music-Wurzeln. Dazu gibt es auf der<br />

CD neben der Weltersteinspielung als älpleri-<br />

sches Encore das Tirol Concerto.<br />

AMERICA<br />

Fast möchte man à la West Side<br />

Story „I wanna be in America“ singen<br />

, sobald man in America (Deutsche Grammophon),<br />

das jüngste Themenalbum des Geigers<br />

Daniel Hope, hineingehört hat. George<br />

Gershwin und Aaron Copland, Kurt Weill, Duke<br />

Ellington, Samuel Ward, aber auch Sam Cooke<br />

und Florence Price kombiniert Hope plus fein<br />

ausgesuchte Mitmusizierende klug, charmant<br />

und ausdrucksstark miteinander. A.K.<br />

© Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln; © Estate of Sol LeWitt, 2021; Private Collection, Belgium/Image: Hugard & Vanoverschelde; Verlage<br />

42 wına | April 2022


Familienausflug ins Todeslager<br />

Marta Poppers letzte Worte waren<br />

NTV. Diesen Fernsehkanal wollte<br />

sie eingestellt haben, bevor sie im<br />

neuen Pflegebett verstarb. Mit diesem Anfangsakkord<br />

schlägt Reza den Ton an, auf den<br />

das weitere Familiendrama gestimmt ist:<br />

makabrer Humor im Angesicht des Todes.<br />

„Omi“ Marta hinterlässt eine „Kuddelmuddelkiste“<br />

von drei schon angejahrten<br />

Kindern, den Popper-Geschwistern, samt<br />

teilweise wechselndem Anhang, und will<br />

keinesfalls bei ihrem Ehemann beerdigt,<br />

sondern verbrannt werden.<br />

„Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin<br />

einäschern lässt“, empört sich Enkelin Joséphine,<br />

die offenbar als einzige der Hinterbliebenen<br />

eine gewisse Sensibilität für<br />

das jüdische Erbe, von dem sich Großmutter<br />

zeitlebens distanzierte, entwickelt. Sie ist<br />

es auch, die schließlich auf eine Reise nach<br />

„Osvits“ und eine Spurensuche zu ihren dort<br />

zu Tode gekommenen ungarischen Vorfahren<br />

drängt. Ihr Vater Serge leistet anfänglich<br />

Widerstand, bis sich auch seine Schwester<br />

Nana und Bruder Jean, der Erzähler der<br />

Geschichte, zum Familienausflug ins KZ bereitfinden.<br />

KZ-Folklore. Es kommt, wie es kommen<br />

muss und wie man es bereits von zahlreichen<br />

Berichten und Büchern von derlei<br />

Exkursionen kennt. Konfrontiert mit<br />

der touristischen Folklore am Gelände des<br />

ehemaligen Todeslagers fällt es schwer, eigene<br />

Emotionen zu entwickeln oder einzuordnen,<br />

angesichts dauerfotografierender,<br />

schwitzender Besuchergruppen in Shorts,<br />

die sich ständig ihrer Betroffenheit versichernd<br />

in den einstigen Krematorien,<br />

vor Vitrinen mit angehäuften Haaren und<br />

Schuhen drängen.<br />

Serge weigert sich rauchend und ätzend,<br />

die „Judenrampe“ und andere Besichtigungshighlights<br />

abzugehen, behält<br />

dabei aber beharrlich seinen<br />

dunklen Anzug an. Ob ihm nicht<br />

heiß sei, fragt besorgt die Tochter.<br />

„Doch, doch. Aber in Auschwitz<br />

werd ich mich nicht beklagen.“<br />

Im Kopf laufende Bilder aus<br />

Filmen wie Claude Lanzmanns<br />

Shoah überlagern die Eindrücke<br />

vor Ort, echte Gefühle wollen<br />

nicht gelingen. „Ich schwankte<br />

Bitte nicht schon wieder ein<br />

Buch über den Auschwitz-Tourismus<br />

und seine bizarren Auswüchse,<br />

mag man denken,<br />

wenn man Yasmina<br />

Rezas neuen Roman Serge<br />

zur Hand nimmt. Doch der<br />

Markenname der französischen<br />

Autorin, international<br />

bekannt vor allem durch ihre<br />

Bühnenstücke wie Kunst oder<br />

Der Gott des Gemetzels, hält letztlich,<br />

was er verspricht. Tabulose,<br />

kluge, zeitgeistige Unterhaltung<br />

mit Tiefgang, der sich<br />

elegant unter der changierenden<br />

Oberfläche versteckt.<br />

Von Anita Pollak<br />

zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu<br />

empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten<br />

unter Beweis stellen will“, resigniert<br />

Jean, und während sich die beiden Frauen<br />

verärgert abwenden, bilanziert Serge: „War<br />

dieses Auschwitz wirklich nötig?“<br />

Die Bruchlinien, bereits davor in der<br />

Geschwisterbeziehung sichtbar, klaffen im<br />

emotionalen Stress der gemeinsamen Reise<br />

endgültig auf. Dabei spielen Erinnerungen<br />

an die Kindheit, an das Elternhaus immer<br />

wieder in die Gegenwart hinein. Serge, der<br />

titelgebende Älteste, in den der Vater die<br />

größten Hoffnungen setzte, ist eine kläglich<br />

gescheiterte Existenz, ein alternder<br />

Womanizer mit Herzproblemen, den seine<br />

letzte Freundin auf die Straße setzte, nachdem<br />

er sie betrogen hatte. Jean, der Mittlere,<br />

ein Single, hängt emotional am verhaltensauffälligen<br />

Sohn seiner Exfreundin. Nana,<br />

als Kind das verwöhnte Nesthäkchen,<br />

hat nach dem Tod des Vaters<br />

einen Spanier geheiratet,<br />

der das französische Sozialsystem<br />

Yasmina Reza:<br />

Serge.<br />

Aus dem Französischen von<br />

Frank Heibert und Hinrich<br />

Schmidt-Henkel. Hanser 2022,<br />

208 S., € 22,70<br />

strapaziert. Doch wie eine Löwin verteidigt<br />

sie ihn und ihre Kinder vor der herablassenden<br />

Verachtung ihrer beiden Brüder.<br />

Geschwisterdrama. Viel mehr als beim eigentlichen<br />

Auschwitz-Thema, vor dem<br />

auch Yasmina Reza als Tochter einer ungarischen<br />

Jüdin und eines aus sephardischer<br />

Herkunft stammenden Vaters letztlich die<br />

Sprache versagt, läuft sie im Geschwisterdrama<br />

in bühnenreifen Dialogen zur Hochform<br />

auf. Vieles mag einem da vielleicht<br />

vertraut erscheinen in den Rückblenden<br />

auf das Popper’sche Familienleben in den<br />

1960er- und 1970er-Jahren, in dem das Judentum<br />

so gut wie keine, der Staat Israel, zu<br />

dem der Vater eine absolute Loyalität empfand,<br />

dafür aber vor allem als Streitobjekt<br />

eine besondere Rolle spielte. „Dank Israel<br />

hatten die Poppers Stoff für ihren Irrsinn.“<br />

Beharrlich geschwiegen wurde hingegen<br />

über das Schicksal der umgekommenen<br />

Verwandtschaft, was das „geschichtsvergessene“<br />

Geschwistertrio auch gern weiterhin<br />

so gehalten hätte, gäbe es da nicht die<br />

dritte Generation in der unförmigen Gestalt<br />

von Serges Tochter aus erster Ehe, Joséphine,<br />

Auslöser der tragikomischen Pilgerfahrt<br />

an den Ort des Grauens.<br />

Beispielhaft zeichnet Reza nicht nur<br />

die Problematik einer vom Massentou-<br />

„Ist doch<br />

verrückt,<br />

dass sich<br />

eine Jüdin<br />

einäschern<br />

lässt.“<br />

rismus pervertierten<br />

Gedenkkultur<br />

auf,<br />

sondern auch<br />

das Lebensgefühl<br />

dreier jüdischer<br />

Generationen<br />

und ihren<br />

Umgang mit der<br />

Vergangenheit<br />

nach, tabu- und<br />

respektlos, wie man es von ihr nicht anders<br />

erwartet, aber doch mit spürbarer Empathie<br />

für die ihr offenbar wohlbekannte bedrohte<br />

Spezies der Nachgeborenen. Gewidmet<br />

hat sie diese Erkundungsreise übrigens<br />

ihren „lieben Freunde(n)“ Magda und Imre<br />

Kertész, dem verstorbenen ungarischen Nobelpreisträger<br />

also, der 15 Jahre darum rang,<br />

eine Sprache für seinen Roman über Auschwitz<br />

zu finden, das er als jüdischer Junge<br />

überlebt hatte.<br />

wına-magazin.at<br />

43


Jüdisches Filmfestival<br />

Familie, Freundschaft, Freiheit<br />

Mischpoche und andere<br />

Schwierigkeiten<br />

Einblicke in das Programm des Jüdischen Filmfestivals 2022<br />

Von Angela Heide<br />

Unter dem Motto „We<br />

are family!“ – „Wir<br />

sind Familie!“ – präsentiert<br />

das Jüdische Filmfestival<br />

Wien in seiner Ausgabe<br />

2022 ein Programm, das sich<br />

überzeugend zwischen fein<br />

kuratierten und ineinandergreifenden<br />

Reihen, Hommagen<br />

und aktuellen internationalen<br />

filmischen Stimmen<br />

bewegt. Dabei lässt das Festival<br />

kaum einen Wunsch offen,<br />

wenn es darum geht, das<br />

Motto in gelebte gemeinsame<br />

Filmerlebnisse zu gießen: 35<br />

Langfilme, zehn Kurzfilme,<br />

Gespräche und<br />

ein Symposion mit Vorträgen<br />

und einem weiteren<br />

Filmprogramm<br />

umfasst das reiche Angebot,<br />

das von 24. April bis<br />

8. Mai an unterschiedlichen<br />

Orten in Wien zu<br />

erleben ist.<br />

„Truus Children“ (5.5.)<br />

Kinder auf der Flucht<br />

Der Themenschwerpunkt<br />

ist, machen die<br />

Veranstalter:innen des Festivals<br />

in ihrer Vorankündigung<br />

deutlich, in mehrfachem<br />

Sinne absolut gegenwärtig:<br />

Nicht nur hat uns die Pandemie<br />

in den letzten Jahren<br />

gezeigt, wie wichtig Zusammenhalt<br />

und das Gefühl von<br />

Nähe, auch in Zeiten der Distanz,<br />

sind. Auch die letzten<br />

Monate und ein Krieg,<br />

der Europas Gemeinschaft<br />

schmerzhaft in die Pflicht<br />

nimmt und zugleich aufzeigt,<br />

wie Nähe, aber auch Distanz<br />

erzeugt werden (können),<br />

verweisen auf Fragegestellungen,<br />

denen wir alle aktuell<br />

nicht ausweisen können.<br />

Mit der Reihe „Kinder auf der<br />

Flucht“ leistet auf das Jüdische<br />

Filmfestival einen Beitrag<br />

dazu und präsentiert mit<br />

Der Pfad (25.4.), Das As der Asse<br />

(30.4.), Truus Children (5.5.)<br />

und Le vieil homme et l’enfant<br />

(7.5.) Filme, die sich auf sehr<br />

unterschiedliche Weise mit<br />

Fluchterfahrungen<br />

von Kindern auseinandersetzen.<br />

Mischpoche!<br />

So richtig nah am Motto ist<br />

die Reihe an Filmen des<br />

Festivals, die sich mit der „jüdischen<br />

Mischpoche“ auseinandersetzen<br />

– und all ihren<br />

herrlichen wie schwierigen<br />

Begleiterscheinungen.<br />

Die Komödien Laavor et hakir/Eine,<br />

die sich traut von Rama<br />

Burshtein und Paam haiti/The<br />

Matchmaker über religiöse<br />

„Sublet“ (28.4.)<br />

Partnersuche, Talya Lavies<br />

Honeymood über Ehe, Liebe<br />

und Verständnis und ein<br />

Wiedersehen mit Burshteins<br />

eminentem Langfilmdebüt<br />

Fill The Void aus dem<br />

Jahr 2012 stehen ebenso<br />

auf dem Programm wie Get<br />

der Geschwister Ronit und<br />

Shlomi Elkabetz über den<br />

langen, verzweifelten Kampf<br />

der Israelin Viviane Amsalem<br />

um ihre Ehescheidung. Die<br />

Dokumentation Hatuna Hafucha/Marry<br />

Me However über<br />

die schwierige Situation Homosexueller<br />

in strenggläubigen<br />

Gemeinden sowie Sublet,<br />

der neueste Film von Eytan<br />

Fox, der sich mit generationsbedingten<br />

Unterschieden<br />

in der Lebensart homosexueller<br />

Männer in Tel Aviv befasst,<br />

bereichern zudem das<br />

dichte Programm.<br />

Starke Frauen<br />

„Working Woman“ (1.5.)<br />

Ein besonderer Fokus der<br />

diesjährigen Festivalausgabe<br />

liegt, nicht nur im Kontext<br />

Familie, auf den vielen<br />

„Rollen“ von Frauen innerhalb<br />

gesellschaftlicher Regeln<br />

und Normen von einst<br />

bis heute. Wie vielfältig und<br />

oft schmerzhaft das Ringen<br />

um Eigenständigkeit, Wahrnehmung<br />

und Selbstbestimmung<br />

war und ist, beweisen<br />

zahlreiche Filme des Festivals,<br />

darunter Isha Ovedet/<br />

Working Woman von Michal<br />

Aviat (1.5.), in dem eine junge<br />

Frau versucht, ihren eigenen<br />

beruflichen Weg zu gehen,<br />

und sich dabei sowohl ihrem<br />

Mann wie dem übergriffigen<br />

neuen Chef stellen muss,<br />

der mehrfach ausgezeichnete<br />

Streifen Shalosh Ima’ot/<br />

Three Mothers von Dina Zvi-Riklis<br />

(27.4./7.5.) über das Leben<br />

dreier sehr unterschiedlicher<br />

Schwestern und More<br />

than I deserve von Pini Tavger<br />

(27.4.) über eine aus der Ukraine<br />

kommende junge, alleinerziehende<br />

Mutter und<br />

ihre langsame Annäherung<br />

an die orthodoxe Welt ihrer<br />

neuen Umgebung. Matti Harari<br />

und Arik Lubetzky liefern<br />

mit ihrem 2020 entstandenen<br />

Film The Dinner eine emotionale<br />

psychologische Studie<br />

über das Verhältnis von<br />

Emigration und Abhängigkeit.<br />

Drei weitere Filme über<br />

das Ringen um Selbstbestimmung<br />

und Unabhängigkeit<br />

von Frauen unterschiedlicher<br />

Herkunft und Generationen<br />

(Get, 93 Queen von Paula<br />

Eiselt und Yentl) runden den<br />

Schwerpunkt ab.<br />

Barbra!<br />

„A star is born“ (6.5.)<br />

Dass sie für so viele – und aus<br />

so vielen Gründen – zu einer<br />

der größten Ikonen des 20.<br />

Jahrhunderts werden sollte, war<br />

ihr nicht in die Wiege gelegt: Barbara<br />

Joan Streisand wurde 1942<br />

geboren – am selben Tag, an dem<br />

heuer das Jüdische Filmfestival<br />

beginnt. Mitten im Brooklyner<br />

Williamsburg und mitten hinein<br />

in die große New Yorker Jewish<br />

Community, väterlicherseits<br />

als Enkelin von aus Galizien,<br />

der heutigen Westukraine, emigrierten<br />

Großeltern. Ihr Vater, ein<br />

Volksschullehrer, starb, ohne dass<br />

sie ihn je kennenlernen konnte,<br />

ihre Mutter heiratete erneut, als<br />

Barbara sieben Jahr alt war. Mit<br />

18 Jahren änderte sie ihren Namen<br />

auf „Barbra“. „Ich wollte einzigartig<br />

sein“, erzählte sie später<br />

über diesen Schritt – und zugleich<br />

authentisch. So war klar,<br />

dass sie ihren Namen nicht ganz<br />

ändern würde, sie selbst bleiben<br />

würde, ihm aber eben diesen<br />

kleinen „Twist“ geben würde, der<br />

rasch zum Mythos werden sollte.<br />

Es sollte noch eine Dekade harter<br />

Arbeit folgen, ehe Barbra 1969<br />

mit Funny Girl und 1969 mit Hello<br />

Dolly Musical-Geschichte schrieb<br />

– und mit Yentl 1983 ihre ganz persönliche<br />

filmische Hommage an<br />

ihren Vater. Das Jüdische Filmfestival<br />

zeigt aus Anlass des 80. Geburtstag<br />

dieser ganz Großen des<br />

amerikanisch-jüdisch-emanzipatorischen<br />

„Showbiz“ gleich<br />

fünf Filme, darunter Hello Dolly als<br />

„ganz großes Kino“ in einer Nachmittagsvorstellung<br />

im Gartenbaukino<br />

(1.5.) und Yentl zum Abschluss<br />

am 8. Mai; daneben ihren<br />

ersten selbst produzierten Film A<br />

star is born (6.5.), die Tragikomödie<br />

The Mirror Has Two Faces und Meet<br />

the Fockers (beide am 30.4.).<br />

Jüdische Juwelen<br />

Mit dem Slogan „Jewish<br />

Gems“ verbinden<br />

die Kurator:innen des<br />

Festivals dieses Jahr eine<br />

Sammlung von Filmen aus<br />

dem reichhaltigen Filmschaffen<br />

Israels der letzten<br />

Monate.<br />

So findet sich hier beispielsweise<br />

eine Biografie<br />

des großen Pazifisten und<br />

„Vaters der Statistik“ Emil<br />

Julius Gumbel (EJ Gumbel –<br />

Statistik des Verbrechens, 3.5.)<br />

und die Verfilmung von<br />

Noah Gordons Weltbestseller<br />

The Physician (1.5.).<br />

Hier sind auch das Inquisitionsdrama<br />

1618 (30.4.),<br />

die Komödie Greener Pastures<br />

(30.4./6.5.) und die<br />

Doku Fiddler’s Journey to the<br />

Big Screen (27.4.) angesiedelt<br />

– und mit einem großen<br />

gemeinsamen „Sing<br />

„Alegria“ von Viola Salama (30.4./3.5.)<br />

along“ zu Fiddler on the Roof<br />

(5.5., 20.15 Uhr) ist sicher<br />

eines der vielen wunderbaren<br />

Highlights des Festivals<br />

erreicht, in denen Familie,<br />

Freiheit und Freude<br />

in Zeiten, in denen das nur<br />

schwer möglich scheint,<br />

gemeinsam gefeiert – und<br />

besungen – werden.<br />

„Eine, die sich traut“ (1.5.)<br />

„We are family“<br />

Jüdisches Filmfestival Wien<br />

24. April bis 8. Mai 2022<br />

Village Cinemas Wien Mitte,<br />

Metro Kinokulturhaus, Gartenbaukino<br />

jfw.at<br />

Vernichtung<br />

und Erinnerung<br />

Gemeinsam mit dem<br />

Filmarchiv Austria<br />

und Kurator Florian Widegger<br />

widmet sich das<br />

Festival auch dieses Jahr<br />

der Erinnerung an die<br />

Verfolgung und Vernichtung<br />

jüdischen Lebens<br />

während der Schoah. Gezeigt<br />

werden im Rahmen<br />

des zweitägigen begleitenden<br />

Symposions Dokumente<br />

der Vernichtung am 6.<br />

und 7. Mai im Metro Kinokulturhaus<br />

filmische<br />

„Die Rothschild-Saga“ (4.5.)<br />

Dokumente, darunter Befreite<br />

Lager, Westerborkfilm<br />

und Ute Adamczewskis beklemmender<br />

Dokumentarfilm<br />

Zustand und Gelände<br />

über frühe so genannte<br />

„wilde Konzentrationslager“<br />

des NS-Regimes, begleitet<br />

von mehreren Vorträgen.<br />

Bereits am 4. Mai<br />

ist zudem Klaus T. Steindls<br />

im Auftrag des ORF entstandenes<br />

TV-Dokudrama<br />

Die Rothschild-Sage über<br />

„Aufstieg, Glanz, Verfolgung“<br />

und Untergang einer<br />

der mächtigsten jüdischen<br />

Familien des 19. und<br />

frühen 20. Jahrhunderts<br />

zu sehen, deren Name bis<br />

heute auf erschreckend<br />

ungebrochene Weise „antisemitische<br />

Verschwörungstheorien<br />

und Hetzkampagnen“<br />

auslöst.<br />

Freundschaft<br />

und Familie<br />

Die Eröffnung und der<br />

Abschluss des Festivals<br />

werden mit Ein nasser<br />

Hund des kroatisch-deutschen<br />

Filmemachers Damir<br />

Lukačević gefeiert, der, so<br />

es Covid-19 erlaubt, auch<br />

persönlich anwesend sein<br />

wird. Lukačević erzählt in<br />

seinem im letzten Jahr entstandenen<br />

vielbeachteten<br />

Streifen, der lose auf dem<br />

autobiografischen Roman<br />

des deutsch-persisch-israelischen<br />

Autors Arye Sharuz<br />

Shalicar basiert, über<br />

den 16-jährigen Iraner Soheil,<br />

der mit seinen Eltern<br />

nach Berlin-Wedding zieht<br />

und dort in eine multiethnische<br />

Jugendgruppe aufgenommen<br />

wird. Soheil<br />

„Ein nasser Hund“ (25.4./8.5.)<br />

verheimlicht, um Teil der<br />

Gruppe sein zu können,<br />

seine jüdische Herkunft,<br />

befreundet sich mit dem<br />

muslimischen Husseyn<br />

und verliebt sich in die<br />

türkische Schulkameradin<br />

Selma. Als die Gruppe<br />

durch einen Zufall erfährt,<br />

dass Soheil Jude ist, findet<br />

der bis dahin brüderliche<br />

Zusammenhalt ein jähes<br />

Ende, und Konflikte brechen<br />

auf, die alle Beteiligten<br />

zu radikalen Entscheidungen<br />

zwingen.<br />

44 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

45


Grenzenlose Mythologien<br />

INTERVIEW MIT ADENA JACOBS<br />

<br />

„Der weibliche Körper<br />

als Archiv gibt Auskunft<br />

über gestern und heute“<br />

Die australische Regisseurin Adena Jacobs präsentiert ihre<br />

erste Arbeit am Wiener Burgtheater mit Euripides’ Troerinnen in<br />

neuer Fassung. Interview: Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />

Adena<br />

Jacobs im<br />

Burgtheater<br />

mit WINA-<br />

Autorin Marta<br />

S. Halpert.<br />

ADENA JACOBS wurde 1982 in New York geboren, lebt in Melbourne,<br />

Australien, und ist künstlerische Leiterin des freien Theaterkollektivs<br />

Fraught Outfit. Ihr Werk umfasst queere und feministische Interpretationen<br />

alter Texte. Ihre Produktionen wurden am Sydney Opera House,<br />

auf dem Melbourne Festival, am Malthouse Theatre und am Belvoir St<br />

Theatre aufgeführt, wo sie in der Spielzeit 2014/2015 als Hausregisseurin<br />

tätig war. Ihre Regiearbeiten waren unter anderen an der English National<br />

Opera und beim Tokyo Festival zu sehen.<br />

WINA: In diesen Tagen hat Ihre erste Regiearbeit<br />

am Wiener Burgtheater Premiere: Die Troerinnen<br />

von Euripides. Bereits im Jänner 2020 sind Sie<br />

von Melbourne nach Wien geflogen, um Direktor Martin<br />

Kušej zu treffen. Wie kam es zu diesem Projekt?<br />

Adena Jacobs: Eigentlich überraschend und unverhofft.<br />

Regisseur Daniel Kramer*, der von 2016 bis<br />

2019 als künstlerischer Direktor die English National<br />

Opera London leitete, kannte meine Salome-Opernregie<br />

an seinem Haus und hat mich Direktor Kušej<br />

empfohlen.<br />

Wer hat Die Troerinnen letztlich ausgewählt?<br />

I Die Troerinnen habe ich vorgeschlagen, nachdem wir<br />

in sehr guten, offenen Gesprächen vieles überlegt<br />

hatten. Auf dem langen Flug hatte ich einige Ideen,<br />

aber nachdem ich hier am Burgtheater Aufführungen<br />

besucht hatte, war ich mir sicher.<br />

Griechische Tragödien scheinen Sie stark anzuziehen: Bereits<br />

mit 16 Jahren haben Sie Medea für Ihr Gymnasium<br />

eingerichtet. Ihre erste selbstständige Produktion in Melbourne<br />

war die Elektra von Sophokles 2010, es folgten<br />

Oedipus Rex und Antigone. Zuletzt inszenierten Sie Die<br />

Bakchen von Euripides. Woher kommt dieses spezifische<br />

Interesse?<br />

I Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Diese Erfahrung<br />

mit Medea hat etwas mit mir gemacht. Die Welt der<br />

griechischen Mythologie ist so ein grenzenloses Gebiet,<br />

und die Tragödien gehen immer auch an eine<br />

Grenze des Unvorstellbaren, überschreiten Extreme.<br />

Es gefällt mir, das Unsagbare zu sagen, Tabus<br />

zu brechen, und das passiert in den griechischen<br />

Stücken.<br />

Sie interpretieren Die Troerinnen neu, weil Sie Neues in<br />

dem Stück entdeckt haben. Wie viel haben Sie am Original<br />

verändert?**<br />

I Es ist vor allem wichtig, das Original zu lieben,<br />

sonst wird das ein sehr zynisches Unterfangen.<br />

Diese Tragödie ist hauptsächlich eine Darstellung<br />

des Unglücks Besiegter und im konkreten Fall einer<br />

Gruppe von Frauen, die im wahrsten Sinne des<br />

Wortes am Rande einer zerbrochenen Welt und einer<br />

neuen Realität stehen. Alles, was sie kannten –<br />

Kultur, Sprache, Bräuche und Recht –, hat sich in<br />

Luft aufgelöst. Warum also nicht etwas Neues wagen,<br />

jenseits dieses Rahmens? Warum befreien wir<br />

uns nicht von diesen belastenden patriarchalischen<br />

Bildern und Geschichten und wählen eine feministische<br />

Sichtweise – auch wenn diese Texte dadurch<br />

noch bedrückender und beunruhigender werden.<br />

Ganz geglückt ist die Befreiung vom Patriarchat noch nicht.<br />

I Ich beschäftige mich mit diesen Legenden nicht, um<br />

ihre tiefsitzenden Probleme zu lösen. Ich will auch<br />

nicht zeigen, wie sie korrigiert oder uns zugänglicher<br />

gemacht werden können. Aber vielleicht können<br />

wir den Wurzeln dieser Legenden auf den Grund<br />

gehen und sie entwirren; dann könnten wir uns von<br />

ihren Botschaften befreien, denn womöglich stimmen<br />

diese nicht.<br />

Sie stellen den gespenstischen Zwischenraum – eigentlich<br />

ein Niemandsland –, den die Troerinnen bewohnen, in das<br />

Zentrum Ihrer bildhaften Auseinandersetzung und fragen<br />

ausdrücklich nach dem Schicksal weiblicher Körper im Krieg,<br />

nach dem weiblichen Körper als Kampfplatz. Geht es nur um<br />

die äußere Hülle?<br />

I Nein, es geht trotz und vor allem um die Psyche,<br />

die Seele, um die Neshama – im WINA-Magazin wird<br />

man das verstehen. Darum, was diese Kriege mit den<br />

Frauen machen. Der Körper als Archiv, das uns erzählt,<br />

was in ihm eingeschrieben wurde: als Ort der<br />

Macht, jedoch mit seiner Fähigkeit zur Transformation<br />

und schließlich Identität.<br />

Bei Euripides ist man am Ende einer Kultur angelangt,<br />

am Ende der bekannten Welt – und die letzten Überlebenden<br />

sind Frauen. Königin Hekabe wiederholt<br />

ständig den Satz: Das ist nicht Troja, das ist nicht Troja. Sie<br />

sieht die Verwüstung, die Zerstörung; das gewohnte<br />

Leben ist verschwunden, alles ist verwaist.<br />

Also wieder Opfer! Und wir sind mitten in unserer Realität:<br />

Als Sie im Winter 2021 – während des längsten Lockdowns<br />

von 262 Tagen in Melbourne – über die Troerinnen sinnierten,<br />

dachten wir alle noch, dass die weltweite Pandemie das<br />

Schlimmste ist, was derzeit passieren kann. Jetzt wird das<br />

Stück aufgeführt, und seit über einem Monat beschäftigen<br />

und bedrängen uns ganz andere Bilder im Kopf: der brutale<br />

„Aber vielleicht<br />

können<br />

wir den Wurzeln<br />

dieser<br />

Legenden auf<br />

den Grund<br />

gehen und<br />

sie entwirren,<br />

dann könnten<br />

wir uns von ihren<br />

Botschaften<br />

befreien,<br />

denn womöglich<br />

stimmen<br />

diese nicht.“<br />

Adena Jacobs<br />

* Die Produktion des amerikanischen<br />

Regisseurs Pelleas und Melisande war 2021<br />

am Wiener Akademietheater zu sehen.<br />

** Die Wiener Dramatikerin Gerhild<br />

Steinbuch hat die Texte von Ovid, Seneca,<br />

Euripides und Jane M. Griffiths für diese<br />

Inszenierung neu ins Deutsche übertragen.<br />

46 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

47


In das Schicksal eingreifen<br />

„Die Troerinnen“:<br />

Aktueller geht kaum noch …<br />

Die Schlacht ist geschlagen,<br />

aber der Krieg ist nicht vorbei.<br />

Troja ist gefallen, Rauchsäulen<br />

stehen über den Trümmern,<br />

und die siegreichen Griechen bereiten<br />

sich auf ihre Abfahrt vor. Die<br />

überlebenden trojanischen Frauen<br />

befinden sich vor der Stadt, auf der<br />

Schwelle zwischen ihrem alten Leben<br />

als Staatselite und dem kommenden<br />

in der Sklaverei. Der denkbar<br />

schlimmste Verlust und tiefste<br />

Fall vereinen sich mit der größtmöglichen<br />

Ungewissheit. Hekabe, Königin<br />

Trojas, beklagt den Mord an ihrem<br />

Ehemann Priamos und den Tod<br />

der meisten ihrer zahlreichen Kinder;<br />

wohin das Schicksal sie noch führen<br />

wird, weiß sie nicht. Mit ihr wartend<br />

ist Hekabes überlebende Tochter<br />

Kassandra, die Seherin, der nicht<br />

geglaubt wurde, und ihre Schwiegertochter<br />

Andromache mit ihrem<br />

kleinen Sohn Astyanax, letzter<br />

männlicher Erbe der Trojaner, sowie<br />

die Griechin Helena, die als Auslöserin<br />

des Kriegs gebrandmarkt wird<br />

und nun auf ihr Urteil wartet.<br />

Die trojanischen Frauen sind auf<br />

nichts als ihre Körper zurückgeworfen,<br />

angefüllt mit Erinnerung, mit<br />

wütendem Schmerz, versehrt, gezeichnet,<br />

klagend, mit einem Bein<br />

bei ihren Toten in der Unterwelt, mit<br />

dem anderen im Diesseits Halt suchend.<br />

schrieben hat. Zuerst in Jiddisch und dann auch in<br />

Englisch. Er wurde 1922 im polnischen Łódź geboren<br />

und kam nach der deutschen Besetzung zuerst<br />

mit seiner Familie in das Ghetto der Stadt und später<br />

nach Auschwitz, wo er als Einziger seiner ganzen Familie<br />

überlebte. Nach der Befreiung lernte er meine<br />

Warschauer Großmutter, Esther Laufer, in einem DP-<br />

Lager (Displaced Persons) in Italien kennen. Dort haben<br />

sie auch geheiratet und sind dann 1948 nach Australien<br />

eingewandert.<br />

Welchen Themen hat er sich literarisch gewidmet?<br />

I Die Schrecken der Schoah haben ihn nie verlassen: In<br />

East of Time (2005) und Sunrise West (2007) hat er ebenso<br />

Autobiografisches aufgearbeitet wie in seinen Gedichten<br />

und Kurzgeschichten. Er ist 2008 gestorben, seine<br />

Werke wurden auch ins Russische, Hebräische und<br />

Polnische übersetzt.<br />

Sie und Ihre Eltern wurden in Melbourne geboren?<br />

I Meine Mutter ist Australierin, hat aber in den USA<br />

Vernichtungskrieg in der Ukraine. Wir sehen die verzweifelten,<br />

flüchtenden Frauen und Kinder. Welches Ende der Welt<br />

zeigen Sie jetzt?<br />

I Oh G-tt, was für eine Frage. Ja, bei Euripides existieren<br />

die Frauen in einer konturlosen Welt, sie agieren<br />

nicht, sie werden herumgeschoben und erleiden<br />

ihr Schicksal, über das sie nicht mehr Herr sind.<br />

Nichts ergibt mehr einen Sinn, und sie warten, gefangen<br />

zwischen dem doppelten Grauen von Krieg<br />

und Sklaverei. Doch sie protestieren auch, erzählen<br />

und erinnern sich an ihr eigenes Leben. Sie sind<br />

zwar verzweifelt und voll Gram, aber bei klarem Verstand.<br />

Sie erschaffen sich durch Sprache neu. Die<br />

bloße Tatsache, dass sie sprechen, ist ein radikaler<br />

Akt des Überlebens.<br />

Dennoch sind sie bei Euripides machtlos …<br />

I Selbst wenn die griechische Tragödie sagt, dass unser<br />

Schicksal bereits im Mutterleib feststeht und dass<br />

Gewalt nur noch mehr Gewalt erzeugt, müssen wir<br />

das nicht machtlos hinnehmen. Was, wenn die trojanischen<br />

Frauen nie mit ihren griechischen Herren an<br />

Bord der Schiffe gehen? Wenn sie an der Küste blieben,<br />

weil sie sich eine echte Zukunft für sich vorstellen<br />

könnten? Das wäre zwar kein Paradies, aber zumindest<br />

eine Zukunft, eine Alternative. Das weckt doch<br />

die Hoffnung, dass sie in ihr Schicksal auch selbst eingreifen<br />

und dieses verändern können.<br />

Gibt es künstlerische Vorbelastungen in Ihrer Familie?<br />

I Ja, durch meinen Großvater Jacob G. Rosenberg, der<br />

Gedichte, Kurzgeschichten und zwei Biografien ge-<br />

„Die bloße<br />

Tatsache,<br />

dass sie<br />

sprechen, ist<br />

ein radikaler<br />

Akt des<br />

Überlebens.“<br />

Adena Jacobs<br />

Regisseurin<br />

Adena Jacobs:<br />

das Unsagbare<br />

sagen, Tabus<br />

brechen.<br />

studiert und dort meinen amerikanischen Vater geheiratet.<br />

Ich bin 1982 in New York geboren, aber als<br />

ich elf Jahre alt war, kehrten wir zu den Großeltern<br />

nach Melbourne zurück. Meine Mutter schreibt Essays,<br />

meine jüngste Schwester Ariela ist Sängerin und<br />

Komponistin.<br />

Kommen Sie aus einem religiösen Haus?<br />

I In New York bin ich in eine jüdisch-progressive (conservative)<br />

Volksschule gegangen. Später in Melbourne<br />

absolvierte ich das jüdische Gymnasium, das war aber<br />

viel weniger progressiv. Wir haben alle Feiertage eingehalten<br />

und Freitagabend den Schabbat gefeiert.<br />

Sie haben eine dreijährige Tochter, die jetzt während der<br />

zweimonatigen Probezeit in Wien von Ihrer Partnerin betreut<br />

wurde. Wie sehen Ihre nächsten Projekte aus?<br />

I Ich arbeite gerade an einem Stück, das im nächsten<br />

Jahr in Melbourne Premiere haben wird.<br />

48 wına | April 2022


Zwischen Bibel<br />

und Mossad<br />

Eine Wasserleiche am Strand und ein abgelegtes Frühchen vor<br />

einem Spital in Tel Aviv: zwei Fälle für Inspektor Avi Avraham in<br />

Dror Mishanis Kriminalroman Vertrauen.<br />

Von Anita Pollak<br />

Wenn ein Kommissar findet, dass<br />

die Aufklärung so mancher tragischer<br />

Gewaltverbrechen niemandem<br />

nützt, sondern nur weiteres<br />

Leid mit sich bringt, dann hat er ein Problem.<br />

In seiner tiefen Sinnkrise will sich<br />

Ermittler Avi Avraham aus Cholon daher<br />

vom Tel Aviver Polizeidistrikt Ayalon versetzen<br />

lassen. Da sieht er sich an einem<br />

Tag gleich mit zwei Fällen konfrontiert, die<br />

offenbar nichts miteinander zu tun haben:<br />

Ein frühgeborenes Baby wird vor einem<br />

Krankenhaus abgelegt, und ein Tourist<br />

mit Schweizer Pass ist verschwunden,<br />

ohne seine Hotelrechnung beglichen zu<br />

haben. Auf den ersten<br />

Blick also polizeilicher<br />

Kleinkram und damit<br />

genau das, was Avi so<br />

frustriert, sind seine literarischen<br />

Krimi-Vorbilder<br />

doch Inspektor<br />

Maigret, Kommissar<br />

Wallander und der italienische<br />

Autor Leonardo Sciascia.<br />

Da hat sich nicht nur Avi die Latte wohl<br />

etwas hoch gehängt. Auch sein Schöpfer<br />

Dror Mishani, seines Zeichens auf Kriminalliteratur<br />

spezialisierter Literaturwissenschaftler<br />

und Schriftsteller, teilt offenbar<br />

die Verehrung dieser Helden mit<br />

seinem Protagonisten, freilich ohne an sie<br />

heranzukommen.<br />

Dror Mishani:<br />

Vertrauen. Ein Fall<br />

für Avi Avraham.<br />

Aus dem Hebräischen<br />

von Markus Lemke.<br />

Diogenes, 352 S., € 22<br />

Avis literarische Krimi-Vorbilder<br />

sind Inspektor Maigret und Kommissar<br />

Wallander und der italienische<br />

Autor Leonardo Sciascia.<br />

Grenzüberschreitungen. So lässt er Avi Avraham<br />

in seinem nunmehr vierten Fall<br />

lange vor sich hin wursteln, vom stets geheimnisumwitterten<br />

Mossad gleichsam<br />

ferngesteuert auf falsche Fährten locken<br />

und schließlich in Paris landen. Dort verfolgt<br />

er nicht nur die Spuren des mittlerweile<br />

als Wasserleiche an den Strand von<br />

Tel Aviv gespülten vorgeblichen Schweizers,<br />

der eigentlich ein Franzose namens<br />

Raphael Chouchani war, sondern verhört<br />

gleich auch noch Danielle, die minderjährige<br />

Kindesmutter des weggelegten<br />

Säuglings. Schuldig im Sinne des Gesetzes<br />

hat sich allerdings nur deren Mutter<br />

Liora gemacht, die Danielle zu einer Abtreibung<br />

verholfen und, nachdem diese<br />

schiefging, das Frühchen in einer Tasche<br />

weggelegt und die Tochter nach Paris geschickt<br />

hat. Bibelfest und immer mit einem<br />

passenden Psalm im Kopf und auf<br />

den Lippen, verweigert Liora in den Verhören<br />

jedoch raffiniert und unglaublich<br />

frech jegliche Schuldeinsicht.<br />

War es eine Vergewaltigung oder ein<br />

„Identitätsbetrug“, das heißt, hat sich der<br />

arabische Teenager-Kindesvater Danielle<br />

gegenüber als Jude ausgegeben?<br />

Und warum soll Chouchani eher ein<br />

Drogenhändler als ein Agent des Mossad<br />

und sein Tod ein Selbstmord gewesen<br />

sein?<br />

Allein auf weiter Flur und nicht einmal<br />

seinen Vorgesetzten vertrauend, die<br />

ihn auf einen verlockenden Auslandsposten<br />

wegloben wollen – warum der Roman<br />

gerade „Vertrauen“ heißt, erschließt<br />

sich übrigens nicht –, steht Avi nur seine<br />

katholische Ehefrau Marianka, eine Berufsdetektivin,<br />

mit Rat und Tat bei. Dem<br />

Judentum entfremdet, hat er sie in ihrer<br />

kroatischen Heimat vor Kurzem kirchlich<br />

geheiratet.<br />

Zwischenmenschliche Spannungen<br />

haben zumindest in diesem israelischen<br />

Alltag weniger mit Religionskonflikten<br />

als mit polizeilichen Strukturen und den<br />

undurchsichtigen Agenden der Geheimdienste<br />

zu tun. Im Gegensatz zu dieser säkularen<br />

Welt spielen ausführlich zitierte<br />

biblische Assoziationen eine fürs Krimigenre<br />

ungewöhnliche Rolle. Offenbar<br />

sind es gerade die Überschreitungen dieser<br />

Genregrenzen die Mishani reizen und<br />

die er in dem zuweilen doch recht ausufernd<br />

mäandernden Spannungsbogen<br />

auch hinlänglich ausreizt. Irgendwann<br />

berühren die beiden parallel geführten<br />

Fälle, Kindesweglegung und Agentenmord,<br />

einander peripher, die Hoffnung<br />

auf ein klassisches Whodunit, und da<br />

verrät man nicht zu viel, sollte man aber<br />

fahren lassen. „Kann ich jetzt anfangen,<br />

Ihnen die Geschichte zu erzählen, mon<br />

ami“, heißt es – am Ende.<br />

wına-magazin.at<br />

49


Bethäuser<br />

Gedenkstätten<br />

VON FRANKREICH<br />

BIS INS BURGENLAND<br />

Quer durch Europa haben Juden seit<br />

dem 13. Jahrhundert ihre kulturellen<br />

und religiösen Spuren hinterlassen.<br />

Von Viola Heilman<br />

SYNAGOGE CARPENTRAS<br />

Knapp 30 Kilometer von der französischen<br />

Stadt Avignon entfernt liegt die<br />

Stadtgemeinde Carpentras. Im 13. Jahrhundert<br />

haben sich in dem kleinen Städtchen<br />

mit heute etwa 30.000 Einwohnern<br />

Juden unter dem Schutz des damaligen<br />

Papstes von Avignon angesiedelt. 1367<br />

wurde eine Synagoge errichtet, die heute<br />

als eine der ältesten Europas gilt.<br />

Der Bau der Synagoge wurde an der<br />

Stelle eines in der Rue de la Muse gekauften<br />

Hauses begonnen, das als Bethaus<br />

diente. Anstelle des alten Hauses musste<br />

der Neubau innerhalb genehmigter Abmessungen,<br />

das heißt einer Länge von<br />

nicht mehr als fünf Canes (etwa zehn Meter)<br />

errichtet werden. 1473 lebten etwa 90<br />

Familien im jüdischen Viertel von Carpentras.<br />

Sie verdienten ihren Lebensunterhalt<br />

hauptsächlich mit Handel, landwirtschaftlichen<br />

Produkten und mit Krediten.<br />

1523 verschlechterte sich durch Beschränkungen<br />

der Aktivitäten das Leben<br />

der jüdischen Familien. Als Folge<br />

schrumpfte die Gemeinde erheblich. Nach<br />

den Vertreibungen von 1570 und 1593 verblieben<br />

nur wenige Familien in Carpentras.<br />

Erst als 1669 die kleinen umliegenden<br />

Gemeinden des Comtat Venaissin zusammengefasst<br />

wurden, lebten wieder 83 Familien,<br />

also 298 Personen in und um Carpentras.<br />

Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts<br />

wurde die Synagoge immer wieder verändert.<br />

Doch Ende des 17. Jahrhunderts verfiel<br />

der Synagogenbau zunehmend, und es<br />

fehlte an ausreichenden Mitteln, um eine<br />

Renovierung zu finanzieren.<br />

Erst Anfang des 18. Jahrhundert wurde<br />

mit der Planung eines Neubaus begonnen,<br />

der aber lange Zeit Gegenstand eines<br />

Streits über die Dimensionen war, die<br />

schließlich durch den damaligen Bischof<br />

auf jene des ursprünglichen mittelalterlichen<br />

Baus festgelegt wurden. Als die Bauarbeiten<br />

1741 begonnen wurden, ging es<br />

Synagoge Szentendre.<br />

Die erste Synagoge, die<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

in Ungarn gebaut<br />

wurde, ist ein Denkmal<br />

für die ehemalige kleine,<br />

sehr lebendige jüdische<br />

Gemeinde (Mitte und<br />

rechts oben).<br />

Synagoge Carpentras. Der<br />

Synagogenbau aus dem 18. Jahrhundert<br />

spiegelt das zeitgenössische<br />

barocke Dekor wider (links<br />

oben, Mitte und unten).<br />

rasch voran, denn es galt der steigenden<br />

Zahl an Gläubigen – Ende des 18. Jahrhunderts<br />

waren es 2.000 – gerecht zu werden.<br />

Der Synagogenbau des 18. Jahrhunderts<br />

spiegelt das zeitgenössische barocke<br />

Dekor wider. So führt eine monumentale<br />

Treppe vom Erdgeschoss in den ersten<br />

Stock und verdeckt die bescheidene Fassade<br />

der Synagoge. Im Erdgeschoss stellen<br />

die rituellen Bäder (Mikwe) und zwei<br />

Bäckereien einige der ältesten erhaltenen<br />

Merkmale des Gebäudes dar. Bereits 1924<br />

wurde die Synagoge von Carpentras unter<br />

Denkmalschutz gestellt.<br />

Die Innenausstattung der Synagoge ist<br />

bemerkenswert: Die emaillierte Decke<br />

ist mit blauen Sternen dekoriert. An den<br />

© Xxxxxx<br />

Synagoge Kobersdorf. Nach dem Brand<br />

1857 wurde ein neues, größeres Synagogengebäude<br />

in der Nähe des Esterhazy-<br />

Schlosses im Stil des Historismus gebaut<br />

(rechts unten).<br />

Wänden befindet sich eine Holzvertäfelung,<br />

die Dekoration des Tabernakels ist<br />

vergoldet, und zwischen den Säulen, die<br />

die Tevah tragen, befindet sich der Stuhl<br />

des Propheten Elia. Die G’ttesdienste werden<br />

im Gebetsraum von einem speziell<br />

ernannter Rabbiner abgehalten, der die<br />

Gebete in einer speziellen Sprache, dem<br />

Judeo-Comtadin, leitet. Bis heute werden<br />

G‘ttesdienste für eine kleine örtliche<br />

Gemeinde abgehalten, auch um die Relevanz<br />

für die heutige Gesellschaft zu demonstrieren.<br />

2001 unterstützte der WMF konservatorische<br />

Arbeiten im Inneren der Synagoge.<br />

Der Putz an Decken und Wänden wurde<br />

gereinigt, die Bodenfliesen erneuert und<br />

die Treppe repariert. Zusätzlich wurde ein<br />

Durchgang für eine Buchhandlung geschaffen.<br />

Elektro- und Beleuchtungssysteme<br />

wurden auf zeitgemäße Standards<br />

gebracht, um modernen Bedürfnissen gerecht<br />

zu werden.<br />

Die Synagoge in Carpentras ist ein bedeutender<br />

Teil des jüdisch-provenzalischen<br />

Kulturerbes und ein Denkmal für<br />

die Migrationsmuster von Juden, die vor<br />

Verfolgung im mittelalterlichen Frankreich<br />

flohen.<br />

SYNAGOGE SZENTENDRE<br />

In der großen<br />

ungarischen<br />

Tiefebene<br />

befindet sich<br />

die kleinste<br />

Synagoge<br />

der Welt.<br />

Knapp 30 Kilometer von Budapest entfernt<br />

liegt die kleine Stadt Szentendre<br />

an einem Seitenarm der Donau. Szenten-<br />

dre heißt mit deutschem Namen St. Andreas,<br />

nach einer Kirche des gleichnamigen<br />

Heiligen, die im 12. Jahrhundert in Szentendre<br />

errichtet wurde. Dort, in der großen<br />

ungarischen Tiefebene, befindet sich<br />

die kleinste Synagoge der Welt.<br />

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts<br />

zeichnet sich die Kleinstadt durch Toleranz<br />

gegenüber ethnischer und religiöser<br />

Vielfalt aus. Die Grenznähe und die<br />

Donau trugen darüber hinaus dazu bei,<br />

das Zusammenleben seiner ungarischen<br />

und serbischen Bevölkerung und anderen<br />

Kulturen zu fördern und zu einem Ort des<br />

friedlichen Miteinanders, der Integration<br />

und des produktiven Austausches zu machen.<br />

Auch unter totalitärer Herrschaft<br />

konnte sich Szentendre seine künstlerische<br />

und kulturelle Freiheit bewahren.<br />

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa<br />

250 Juden in Szentendre. Sie wurden fast<br />

alle in der Schoah ermordet. Heute leben<br />

noch etwa 20 bis 30 Juden in der kleinen<br />

Stadt, wobei keiner dort geboren wurde.<br />

Die kleine Synagoge, eigentlich nur ein<br />

„Stibl“, wird von ihnen unter der Leitung<br />

eines Budapester Rabbiners auch heute<br />

zum Gebet genutzt. Als erste Synagoge,<br />

die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn<br />

gebaut wurde, ist das Gebäude<br />

auch ein Denkmal für<br />

die ehemalige kleine, sehr lebendige<br />

jüdische Gemeinde,<br />

bevor sie durch die Nationalsozialisten<br />

ausgelöscht wurde.<br />

Das kleine Synagogengebäude<br />

dient auch als Museum und<br />

wird von einem Nachkommen<br />

eines Überlebenden der Familie<br />

Szanto unterhalten. An<br />

den Wänden im Innenhof der<br />

Synagoge sind Tafeln mit den<br />

Namen der Opfer angebracht,<br />

und es gibt mehrere historische Objekte im<br />

ganzen Haus. Neben Artefakten sind auch<br />

interessante Fotografien der Familie Szanto<br />

ausgestellt. Es gibt Gebetbücher und zwei<br />

Thora-Rollen, von denen eine koscher ist.<br />

Im Blau gestrichenen Betraum stehen zwei<br />

mit rotem Samt überzogene Stühle und ein<br />

Holzpult. Der Thoraschrein ist durch eine<br />

schwarze gusseiserne Tür geschützt, davor<br />

ein mittelblauer Vorhang mit goldenen<br />

Inschriften. Im Hof der Synagoge befindet<br />

sich ein kleines Waschbecken mit einem in<br />

Stein gemeißelten Magen David.<br />

Einige hundert Meter von der Synagoge<br />

entfernt liegt der kleine jüdische Friedhof<br />

von Szentendre. Das jüdische Gedenkhaus<br />

und der Tempel von Szántó sind von gro-<br />

50 wına | April 2022<br />

wına-magazin.at<br />

51


Denkmäler<br />

mer weiter ab, bis 1938 nurmehr 223 Juden<br />

in Kobersdorf lebten. Nach 1945 kamen<br />

dann nur drei Überlebende in die<br />

Gemeinde zurück.<br />

1857 fiel die ursprüngliche Synagoge einem<br />

Brand zum Opfer und es wurde ein<br />

neues, größeres Synagogengebäude in der<br />

Nähe des Schlosses im Stil des Historismus<br />

gebaut, das bis heute besteht. Aus bisher<br />

ungeklärten Gründen wurde die Synagoge<br />

während der Reichspogromnacht nicht<br />

angezündet und zerstört. Nach 1945 wurde<br />

sie in den Besitz der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Wien restituiert, die aber keine<br />

Geldmittel hatte, um eine Renovierung<br />

durchzuführen. 1994 wurde die Synagoge<br />

um 400.000 Schilling an den Verein zur<br />

Erhaltung und kulturellen Nutzung der Synagoge<br />

Kobersdorf verkauft. Die Kaufbedingung<br />

war die Erhaltung und Renovierung<br />

der Synagoge sowie die Errichtung<br />

eines Museums mit dem Schwerpunkt der<br />

Geschichte der „Sieben Gemeinden“. 2010<br />

wurde die Synagoge vom Bundesdenkmalamt<br />

offiziell unter Denkmalschutz gestellt,<br />

nicht zuletzt, um die Rechtsstreitigkeiten<br />

zwischen dem alten und dem<br />

neuen Eigentümer der Synagoge beizulegen.<br />

Doch auch der Verein stieß bei der Reßer<br />

historischer Bedeutung, da es der erste<br />

Tempel ist, der in Ungarn als Gedenkstätte<br />

für die Opfer des Holocaust gebaut wurde.<br />

SYNAGOGE KOBERSDORF<br />

Knapp 30 Kilometer von Eisenstadt<br />

entfernt liegt die burgenländische<br />

Marktgemeinde Kobersdorf. Aufzeichnungen<br />

belegen, dass es bereits im 16.<br />

Jahrhundert eine Synagoge gegeben hat,<br />

denn in dieser Zeit entstand auch die jüdische<br />

Gemeinde von Kobersdorf. Den<br />

aus Ungarn vertriebenen Jüdinnen und<br />

Juden wurde in der Nähe des Schlosses<br />

ein Grund zugewiesen, auf dem sie sich<br />

gegen eine Schutzgebühr ansiedeln durften.<br />

Im 18. Jahrhundert zählte die jüdische<br />

Gemeinde Kobersdorf 18 Familien, die in<br />

einer organisierten Gemeinde mit Synagoge,<br />

Friedhof, einem Rabbiner, Schächter,<br />

Schulsinger und einem Gemeindegericht<br />

lebten. Ab dem 18. Jahrhundert fiel<br />

Kobersdorf und damit auch die jüdische<br />

Gemeinde in den Besitz der Familie Esterházy<br />

und stand als eine der „Sieben Gemeinden“<br />

(Sheva Kehillot) mit 746 Personen<br />

unter dem Schutz der Adelsfamilie.<br />

In den folgenden Jahrzehnten nahm die<br />

Anzahl der jüdischen Bevölkerung imnovierung<br />

an seine finanziellen Grenzen,<br />

und so übernahm 2019 das Land Burgenland<br />

auf Initiative von Landeshauptmann<br />

Hans Peter Doskozil sämtliche Verpflichtungen<br />

und begann mit der Generalsanierung.<br />

Das Architekturbüro Anton Mayerhofer<br />

in Neckenmarkt verantwortete die<br />

Renovierungs- und Konservierungsarbeiten<br />

sowie den Zubau eines Kulturzentrums.<br />

Nach eingehenden Untersuchungen<br />

konnte der Raumeindruck originalgetreu<br />

wiederhergestellt werden. Die weiß übermalten<br />

Wände wurden behutsam von der<br />

Farbe befreit, um die darunterliegenden<br />

Wandmalereien freizulegen. Einige Bereiche<br />

blieben allerdings in ihrem ursprünglichen<br />

Zustand. So wurden die geplünderten<br />

und stark beschädigten Opferstöcke in<br />

der Vorhalle nicht restauriert und in der<br />

zerstörten Form belassen. Sie sollen ein<br />

mahnender Beleg sein, wozu Menschen<br />

fähig sind. Die Fertigstellung der Renovierung<br />

und Einweihung wird bis zum<br />

Sommer 2022 erfolgen. In Zukunft soll die<br />

ehemalige Synagoge als Kultur-, Wissenschafts-<br />

und Bildungszentrum mit einem<br />

Schwerpunkt auf regionaler jüdischer Kultur<br />

und Geschichte sowie als Gedenkstätte<br />

und Mahnmal genutzt werden.<br />

Jüdisches Filmfestival Wien<br />

Vienna Jewish Film Festival<br />

24.April–<br />

08.Mai<br />

2022<br />

More Then I Deserve<br />

Mi 27.04. 20:30<br />

Village Cinemas<br />

Wien Mitte, Saal 7<br />

Fr 06.05. 16:30<br />

Village Cinemas<br />

Wien Mitte, Saal 7<br />

R: Pini Tavger<br />

IL/D 2021, Spielfilm,<br />

hebr./russ. OF<br />

mit engl. UT<br />

Pinchas (12) und seine Mutter Tamara (39) sind Neueinwanderer aus<br />

der Ukraine. Als Pinchas erfährt, dass die Gleichaltrigen sich auf ihre Bar<br />

Mizwa vorbereiten, bittet er den religiösen Nachbarn Shimon um Hilfe.<br />

Trotz ihrer anfänglichen Missbilligung verliebt sich Tamara allmählich in<br />

Shimon. Doch auch er hat eine Vergangenheit.<br />

Village Cinemas Wien Mitte<br />

Gartenbaukino<br />

Metro Kinokulturhaus<br />

52 wına | April 2022<br />

Greener Pastures<br />

Sa 30.04. 16:30<br />

Village Cinemas<br />

Wien Mitte, Saal 6<br />

Fr 06.05. 18:30<br />

Village Cinemas<br />

Wien Mitte, Saal 7<br />

R: Assaf Abiri und<br />

Matan Guggenheim<br />

IL 2020, Spielfilm,<br />

hebr. OF mit engl. UT<br />

Dov (79), Witwer wurde von seiner Familie ins Seniorenheim<br />

verfrachtet. Er will nichts als raus von da und spart, um sein Haus<br />

zurückkaufen zu können. Als er bemerkt, dass alle seine Mitbewohner<br />

legales medizinisches Cannabis rauchen, wird ihm klar, dass Gras seine<br />

Rettung sein wird – es zu verkaufen, nicht es zu rauchen.


URBAN LEGENDS<br />

It takes a second<br />

to wreck it<br />

Anlässlich des Todestages von Adam Yauch, der sich im Mai<br />

zum zehnten Mal jährt, ist es an der Zeit, das Werk der Beastie<br />

Boys wieder- und neu zu entdecken.<br />

dam Yauch aka MCA, Gründungsmitglied<br />

der legendären Beastie<br />

Boys, der unter dem Pseudonym<br />

Nathaniel Hörnblowér bei Musikvideos<br />

der Band aus Brooklyn<br />

mitunter auch Regie ge-<br />

Von Paul Divjak<br />

führt hat (unter anderem What’cha Want, Shake Your<br />

Rump, Intergalactic oder Ch-check It Out) starb 2012<br />

mit 47 Jahren nach dreijähriger Krebserkrankung.<br />

Anlässlich seines Todestages, der sich im Mai zum<br />

zehnten Mal jährt, ist es an der Zeit, das Werk der<br />

Beastie Boys wieder- und neuzuentdecken.<br />

Nervöse Bewegungen, Verkleidungsklamauk und<br />

große Gesten, gerne festgehalten mit dem obligaten,<br />

comichaft verzerrenden Superweitwinkelobjektiv.<br />

Dem Weltwahnsinn haben die Beastie Boys<br />

erfolgreich ihr anarchisch-lustvolles Abfeiern ihrer<br />

Skills und des Lebens entgegengehalten, Yauch<br />

freilich auch sein politisch-gesellschaftliches Engagement<br />

für Frauenrechte und die Unabhängigkeit<br />

Tibets.<br />

Das kraftstrotzende Œuvre des Trios Yauch-Horovitz-Diamond,<br />

das sich immer schon auf ein ebenso<br />

avanciertes wie souveränes, lyrisch-musikalisches<br />

wie visuelles Jonglieren mit popkulturellen Referenzen<br />

(Musik, Film, TV) verstanden hat, ist längst<br />

in die Musikgeschichte eingegangen.<br />

Das Schrille der prägnanten Stimmen im Wechselsprechgesang,<br />

groovende Basslines, scheppernde<br />

Beats, präzise platzierte Samples, gekonnt<br />

gebaute Loops: die drei hatten sichtlich Spaß am<br />

Spielen, am Reimen und Posen.<br />

Auch heute noch überträgt sich die Energie des<br />

unverkennbaren Sounds, den die ewigen Boys des<br />

Hip-Hops über einen Zeitraum von mehr als drei<br />

Jahrzehnten in die Medienkanäle gepumpt und live<br />

zelebriert haben: Sie erzählt von einer Haltung gegen<br />

kopfloses Business as usual und Respektlosigkeit.<br />

„It takes time to build / It takes a second to wreck<br />

it …“<br />

Auch Umweltzerstörung, Xenophobie und Rüstungspolitik<br />

wurden von den Beastie Boys popkulturell<br />

reflektiert. So war der Track It takes time to build<br />

aus dem Jahr 2004 ein kritisches Hip-Hop-Statement<br />

in Sachen News-Overload, Militarismus und<br />

(versäumten) Klimaschutzmaßnahmen; souveränes<br />

Dissen von SUVs inklusive.<br />

„I think that all of us here on the planet<br />

at this point have come into these lifetimes<br />

and into these bodies because<br />

it’s a crucial time in the evolution of the<br />

planet and humanity.“ Adam Yauch<br />

2013 wurde in Brooklyn ein Park nach Adam<br />

Yauch benannt, in dem er einst als Kind gespielt<br />

hat, auf dem Basketball-Court zwischen Silberlinden,<br />

Platanen, Stileichen und Spitzahornen. – 2016<br />

war dort ein Klettergerüst von Trump-Anhängern<br />

mit nationalsozialistischen Symbolen beschmiert<br />

worden. Daraufhin protestierte Yauchs Freund<br />

und Bandkollege Adam Horovitz aka Ad-Rock gemeinsam<br />

mit lokalen Politiker:innen und hunderten<br />

von Anrainer:innen gegen Antisemitismus und<br />

Rassismus.<br />

„I’m pretty hopeful about the evolution of humanity<br />

in general“, hatte Yauch in einem frühen, stilleren<br />

Interview einmal festgestellt. – Seine Worte<br />

in G-ttes Ohr.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

53


APRIL KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

Villa Mercedes Jellinek,<br />

nach 1945.<br />

FOTOGRAFIE<br />

Treffpunkt Lerchenfeld,<br />

Lerchenfelder Straße 141, 1070 Wien<br />

lerchenfelderstrasse.at<br />

6. APRIL BIS 8. JULI<br />

KINO-EINBLICKE<br />

2008 entdeckte die in Wien lebende<br />

Fotografin Juliane Batthyány bei einem<br />

Spaziergang durch die Innenstadt<br />

die lieblos auf die Straße geworfene<br />

Innenausstattung des kurz zuvor<br />

für immer geschlossenen Imperial Kinos<br />

– „Stühle wurden vor die Tür gestellt,<br />

Maschinen entsorgt. Und ich<br />

habe mir in diesem Moment gedacht,<br />

wie schade das eigentlich ist“, erinnerte<br />

sich die Fotografin später an ihre<br />

erste Begegnung mit der untergegangenen<br />

Welt der ehemaligen „Kinostadt“<br />

Wien. Der Anblick dieses traurigen Endes<br />

eines einst zu den beliebtesten Kinos<br />

der Inneren Stadt zählenden Ortes<br />

inspirierte Batthyány dazu, in einem<br />

aufwendigen und sehr persönlichen<br />

fotodokumentarischen Projekt die damals<br />

noch bestehenden historischen<br />

Kinos der Stadt in Bildreihen festzuhalten.<br />

2010 erschien ihr erstes Buch Wiener<br />

Kinos, zehn Jahre später wurde der<br />

Band in einem anderen Verlag neu aufgelegt<br />

– eine Auswahl von rund 30 Bildern<br />

werden nun unter demselben<br />

Titel im Treffpunkt Lerchenfeld der Lebendigen<br />

Lerchenfelder Straße gezeigt<br />

– viele der meistgeliebten Wiener Kinos,<br />

etwa das Admiral oder das Haydn<br />

Kino, hatten jüdische Gründer:innen,<br />

Leiter:innen und Mitarbeiter:innen, von<br />

denen die meisten heute gänzlich vergessen<br />

sind.<br />

54 wına | April 2022<br />

FILM-RETROSPEKTIVE<br />

Metro Kinokulturhaus,<br />

Johannesgasse 5, 1010 Wien<br />

filmarchiv.at<br />

19. APRIL BIS 9. MAI<br />

NEUFELD REVISITED<br />

Maximilian „Max“ Neufeld, dessen Geburtstag<br />

sich dieses Jahr zum 135. Mal wiederholt,<br />

wurde in eine k. u. k. Schauspielerfamilie<br />

hineingeboren. Er selbst begann am<br />

Stadttheater Klagenfurt, ging von dort an Josef<br />

Jarnos Josefstädter Theater und arbeitete<br />

früh schon mit dem Wiener Kunstfilm zusammen.<br />

Bereits 1913 findet man seinen Namen<br />

zum ersten Mal auf einer Filmleinwand. Nach<br />

dem Kriegsdienst wurde Neufeld, der privat<br />

mit Liane Haid liiert war, zum Stummfilmstar,<br />

ab 1919 führte er auch selbst Regie. Ende<br />

der 1920er-Jahre übersiedelte er nach Berlin<br />

und realisierte von da an oft mehrere Filme<br />

pro Jahr – ehe ihm aufgrund seiner jüdischen<br />

Herkunft vom NS-Regime zuerst in Deutschland,<br />

dann in Österreich, wohin er zurückgekehrt<br />

war, ein Arbeitsverbot auferlegt wurde<br />

und Neufeld zuerst nach Italien, dann nach<br />

Spanien floh.<br />

Ab 1947 konnte er erneut in Österreich arbeiten,<br />

sein letzter großer Kinoerfolg der sonst<br />

an Erfolgen mageren späten Lebens- und Arbeitsjahre<br />

war 1957 Der schönste Tag in meinem<br />

Leben. Kurz darauf zog sich Neufeld für<br />

immer aus der Film- und Theaterwelt zurück.<br />

Er starb am 2. Dezember 1967 in Wien.<br />

Kuratiert von Florian Widegger widmet das<br />

Filmarchiv Austria eine Retrospektive dem<br />

Schaffen des heute fast vergessenen einstigen<br />

österreichisch-jüdischen Filmpioniers,<br />

dessen Schaffen allein in den Jahren 1915 bis<br />

1955 weit über 100 Filme als Schauspieler und<br />

Regisseur umfasst.<br />

14. APRIL 2022<br />

GEMEINSAM FEIERN<br />

Dass das Wiener Klezmer Orchester<br />

erst vor fünf Jahren gegründet wurde,<br />

davon zwei mehr oder minder im allgemeinen<br />

Lockdown verbrachte und<br />

dennoch heute beinahe sowas wie<br />

ein „Standardorchester“ der Stadt geworden<br />

ist, wenn es um die Auseinandersetzung<br />

mit jüdischer und jiddischer<br />

Musik von einst und heute geht,<br />

scheint fast unglaublich. Umso schöner<br />

ist der Gedanke, dass das Orchester,<br />

dirigiert von Sasha Danilov und<br />

begleitet von Wolfgang Böck (Schauspiel/Lesung),<br />

dem bulgarisch-österreichischen<br />

bildenden Künstler Krassimir<br />

Kolev (Visuals) und Bayan-Virtuose<br />

Alexander Shevchenko als „Special<br />

Guest“ – sofern alles gut geht und alle<br />

gesund bleiben –, am 14. April zum Abschluss<br />

des diesjährigen Yiddish Culture<br />

Festivals im Festsaal Zentrum<br />

Simmering ein Galakonzert geben darf,<br />

bei dem der ganze weite musikalische<br />

Bogen vom jiddischen Schtetl Osteuropas<br />

bis hin zu Werken zeitgenössischer<br />

österreichischer Komponisten<br />

gespannt werden darf. Und wie der Titel<br />

Az der Rebe lacht verspricht: Lachen<br />

und singen sind erlaubt! Auch wenn<br />

es in diesen Tagen schwer fällt – und<br />

umso wichtiger für uns alle ist …<br />

Karten über die Website oder telefonisch<br />

unter +43/(0)664/383 46 56.<br />

© Juliane Batthyány; Yiddish Culture Festival/Sujetfoto/Wolfgang Frank; Web; Hamakom/Presse; Stadtarchiv Baden; Matt Humphrey/Theater in der Josefstadt/Presse<br />

PERFORMANCE<br />

ABSCHLUSSKONZERT SPRECHTHEATER<br />

18 Uhr<br />

19.30 Uhr<br />

19.30 Uhr<br />

Theater Nestroyhof Hamakom,<br />

Yiddish Culture Festival, SimmCity,<br />

Theater in der Josefstadt,<br />

Startpunkt: Uhrenmuseum,<br />

Simmeringer Hauptstraße 96A, 1110 Wien<br />

Josefstädter Straße 24–26, 1080 Wien<br />

Schulhof 2, 1010 Wien<br />

yiddishculturevienna.at<br />

josefstadt.org<br />

AB 28. APRIL<br />

KEINE RÜCKKEHR FÜR IMMER<br />

Tom Stoppard zählt zu den größten Dramatikern<br />

und Drehbuchautoren (Das Rußland-Haus,<br />

Shakespeare in Love) der Gegenwart. Der diesen<br />

Juli seinen 85. Geburtstag feiernde Sohn jüdischer<br />

Emigranten wurde in der Tschechoslowakei<br />

als Tomáš Straussler geboren, 1939 floh<br />

die Familie nach Singapur, die Großeltern wurden<br />

ermordet. 1942 emigrierte die Familie weiter<br />

nach Indien, der Vater starb während der<br />

Flucht, Toms Mutter heiratete 1946 einen britischen<br />

Major namens Stoppard und zog mit<br />

ihren Söhnen nach England. Nun erzählt der<br />

vielfach Ausgezeichnete in seinem 2020 im Londoner<br />

Wyndham’s Theatre uraufgeführtem<br />

Drama Leopoldstadt die Geschichte der wohlhabenden<br />

Wiener jüdischen Familie Merz über<br />

vier Generationen, von der Jahrhundertwende<br />

über zwei Weltkriege, Verfolgung und Vernichtung<br />

bis hin zum Wiedersehen der letzten überlebenden<br />

Nachkommen in der verlassenen<br />

großbürgerlichen Ringstraßen-Wohnung. Der<br />

Daily Telegraph lobt das „Stück über geforderte<br />

und versuchte Assimilation und ihren grausam<br />

hohen Preis, das einen mitten ins Herz trifft“<br />

ebenso wie der Independent, der es als „Meisterwerk“<br />

bezeichnet. Das Theater in der Josefstadt<br />

präsentiert die österreichische Erstaufführung<br />

der deutschen Übersetzung (Daniel Kehlmann)<br />

von Stoppards nicht zuletzt auch sehr persönlicher<br />

Auseinandersetzung mit seinen eigenen<br />

jüdischen Wurzeln in der geübten<br />

Regie Janusz Kicas und in<br />

hochkarätiger Besetzung.<br />

19. APRIL BIS 12. MAI<br />

KOMMEN, GEHEN, BLEIBEN<br />

In seiner neuen Eigenproduktion zeigt das<br />

Theater Nestroyhof Hamakom The more it<br />

comes the more it goes des in Wien lebenden<br />

Regisseurs und Gründer der „Schule<br />

des Lachens“ David Maayan. Unterstützt<br />

von den Autor:innen Joshua Sobol und<br />

Magda Woitzuck untersucht das von Maayan<br />

anhand von Texten und Gesprächen<br />

mit Darsteller:innen, Schüler:innen und<br />

Künstler:innen zusammengestellte dokumentarische<br />

Stück, das teils im öffentlichen<br />

Raum, teils im Theater stattfindet, das<br />

große Themenfeld des Gedenkens an und<br />

des Denkens über NS-Zeit und Schoah. Wie<br />

beeinflusst beides unser Agieren im Heute<br />

und die Ereignisse in unserem Alltag? Wie<br />

unterscheidet sich das Erinnern in verschiedenen<br />

Generationen? Wie und was wird<br />

in österreichischen Familien heute über<br />

die Jahre des Nationalsozialismus erzählt?<br />

Und wo begegnet die Schoah Jugendlichen<br />

von heute? Gesucht und untersucht<br />

wird damit nicht zuletzt auch, so das Theater<br />

in seiner Presseaussendung zum Projekt,<br />

das „Finden einer (Theater-)Sprache<br />

für das Unsagbare“, die ein „Aussprechen<br />

des Unaussprechlichen“ ermöglichen mag.<br />

Und einen „– vielleicht tröstlicheren – Blick<br />

in die Zukunft“.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com<br />

AUSSTELLUNG<br />

Kaiserhaus Baden,<br />

Hauptplatz 17, 2500 Baden<br />

Di.–So. u. Feiertage, 10–18 Uhr<br />

kaiserhaus-baden.at<br />

AB 23. APRIL 2022<br />

VERGESSENES JÜDISCHES<br />

BADEN<br />

Marie-Theres Arnbom, die neue<br />

wissenschaftliche Direktorin des Wiener<br />

Theatermuseums, ist für ihre akribischen<br />

Studien zu jüdischen Familien<br />

und deren Lebensorte bekannt.<br />

Aber auch für ihre Ausstellungen, die<br />

stets publikumsnah und doch hoch<br />

wissenschaftlich unterschiedliche Aspekte<br />

jüdischen Lebens und jüdischer<br />

Kultur in Österreich von einst beleuchten.<br />

Nun hat sie auf Einladung der Gemeinde<br />

Baden die Ausstellung „Sehnsucht<br />

nach Baden“ – Jüdische Häuser<br />

erzählen Geschichte(n) kuratiert. Arnbom<br />

liefert damit einen wichtigen aktuellen<br />

Beitrag zur Geschichte der jüdischen<br />

Bevölkerung der Stadt Baden.<br />

„Mich faszinieren die Villen mit den<br />

schönen Fassaden aus den unterschiedlichen<br />

architektonischen Bauepochen“,<br />

verrät die Kuratorin. „Sie machen<br />

neugierig, welche Geschichten<br />

sich wohl hinter den Fassaden ereignet<br />

haben – schöne und traurige, beglückende<br />

und tragische.“ Einige dieser<br />

Familien- und Villengeschichten<br />

erzählt die vielseitige Historikerin in<br />

dieser Ausstellung, die vom Begleitbuch<br />

Die Villen von Baden ihrer Reihe<br />

„Wenn Häuser Geschichten erzählen“<br />

(Amalthea) begleitet wird.<br />

wına-magazin.at<br />

55


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal<br />

selbst eine handwerkliche Arbeit abgeschlossen<br />

habe ich …<br />

vor wenigen Tagen, nämlich meine Sträucher<br />

im Garten für den Frühling fit gemacht.<br />

Ansonsten nähe ich vielleicht ab<br />

und zu einen Knopf an – eine talentierte<br />

Handwerkerin bin ich aber leider nicht.<br />

Das letzte Mal, dass ich von einem sakralen<br />

Raum überrascht war, war ...<br />

tatsächlich bei der ersten Begehung der<br />

renovierten Synagoge in Kobersdorf. Ich<br />

war wirklich beeindruckt davon, wie sorgfältig<br />

und genau der ursprüngliche Zustand<br />

dieses fantastischen Raums wiederhergestellt<br />

wurde.<br />

Das letzte Mal, dass ich gerne jemandem<br />

ein kleines Denkmal gesetzt hätte,<br />

war …<br />

Der Bürgermeister der Stadt Wien, Michael<br />

Ludwig, und Gesundheitsstadtrat<br />

Peter Hacker verdienen meiner Meinung<br />

nach viel Respekt für ihren eigenen, sehr<br />

umsichtigen Weg bei der Um- und Durchsetzung<br />

der Corona-Maßnahmen.<br />

Das letzte Mal, dass ich mir nach dem<br />

Motto „Mein Körper ist mein Tempel“<br />

etwas Gutes getan habe, war …<br />

heute in der Früh, als ich mit meiner griechischen<br />

Hütehündin Ella unsere tägliche<br />

Morgenrunde im Wald gedreht habe.<br />

Das letzte Mal, dass ich etwas Burgenländisches<br />

gelernt habe, war …<br />

Das ist schon etwas länger her. Vor einigen<br />

Jahren war ich bei einer typisch burgenländischen<br />

Hochzeit eingeladen und<br />

habe alle Traditionen diesbezüglich kennengelernt:<br />

vom Abholen der Braut über<br />

den gemeinschaftlichen Zug durch das<br />

Dorf bis hin zu den unglaublichen Mengen<br />

an wahnsinnig gutem Essen, das zu<br />

dieser Gelegenheit aufgetischt wird.<br />

DIE TALENTIERTE<br />

KNOPFANNÄHERIN<br />

Es gibt immer ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In dieser<br />

Ausgabe berichtet Claudia Prutscher, Vizepräsidentin und<br />

Kulturbeauftragte der IKG, von ihrer Sympathie für griechische<br />

Hunde und burgenländische Hochzeiten.<br />

Claudia Prutscher, 1955 in Wien geboren, hat die Modeschule<br />

Hetzendorf besucht und war schon in der Werbung, in der Filmproduktion<br />

und im Außendienst einer Bausparkasse tätig. Seit<br />

2015 ist die heute freiberufliche Mediatorin und Coachin in der<br />

IKG Wien Vorsitzende der Kulturkommission. In diesem Rahmen<br />

hat sie gemeinsam mit dem Bundeskanzleramt und dem Land<br />

Burgenland die Restaurierung der verfallenen Synagoge in<br />

Kobersdorf (Kreis Oberpullendorf) begleitet.<br />

Am 26. April 2022 um 18 Uhr wird die 1860 errichtete Kobersdorfer<br />

Schul' wieder für Besucherinnen und Besucher geöffnet.<br />

Prutscher wird weiterhin in einem Fachbeirat vertreten sein, der<br />

das Bildungs-, Forschungs- und Kulturprogramm erarbeiten soll,<br />

das ganz im Zeichen der burgenländisch-jüdischen<br />

Tradition steht.<br />

© Daniel Shaked<br />

56 wına | April 2022


IKG.KULTUR PRÄSENTIERT<br />

DIE HIGLIGHTS IM<br />

FRÜHLING/SOMMER 2022<br />

Ethel Merhaut & Wladigeroff<br />

Brothers ‚Tif vi di Nakht‘<br />

23. Mai 2022<br />

20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />

Mato Johannik<br />

Mehr Infos und Tickets unter:<br />

www.porgy.at/events/10842/<br />

Dvori Barzilais Ausstellung<br />

„Shirat Dvora“<br />

09. bis15. Juni 2022<br />

Kunstraum Nestroyhof<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.ikg-wien.at/kultur<br />

IKG/Morgensztern<br />

privat<br />

Das Jüdische Straßenfest<br />

12. Juni 2022<br />

14:30 bis 20:00 Uhr, Judenplatz<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.ikg-wien.at/kultur<br />

Lea Kalisch & Bela Koreny<br />

„Heute Abend: So wie<br />

musikalisch, aber leakalisch!“<br />

14. Juni 2022<br />

20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />

Mehr Infos und Tickets unter:<br />

www.porgy.at/events/10894/<br />

Liz Doz<br />

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SEIT 1707<br />

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Zeitgenössische Kunst<br />

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Editorial<br />

Julia Kaldori<br />

Es gibt Situationen, in denen die eigenen Worte nur hohl<br />

klingen, die eigenen Gedanken umherfliegen und nach<br />

Ordnung suchen und andere bereits viel klügere Worte<br />

dafür gefunden haben, was man selbst fühlt und hofft.<br />

„Nichts ist unentschuldbarer als der Krieg und der<br />

Aufruf zum Völkerhass. Aber ist der Krieg einmal aus-<br />

gebrochen, ist es zwecklos und feige, sich unter dem<br />

Vorwand, man sei nicht für ihn verantwortlich, ab-<br />

seits zu stellen ... Jeder Mensch besitzt einen mehr<br />

oder weniger großen Einflussbereich ... Individuen<br />

sind es, die uns heute in den Tod schicken. Warum<br />

sollte es nicht anderen Individuen gelingen, der Welt<br />

den Frieden zu schenken? ... In dem Zeitraum, der<br />

von Geburt bis zum Tod reicht, ist nichts festgelegt:<br />

man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt<br />

gebieten und sogar den Frieden erhalten, wenn man<br />

es inständig, stark und lange will.“<br />

Albert Camus (1913–1960), Tagebuch von 1939<br />

© 123rf<br />

wına-magazin.at<br />

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