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April 2022<br />
Adar II 5782<br />
#4. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
wina-magazin.at<br />
„So arbeitet<br />
eine Diktatur“<br />
Einschüchterung, Verhaftung,<br />
manipulierte Medien. Grigory<br />
Sverdlin hat gegen den Krieg protestiert<br />
und musste aus Russland flüchten<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W /<br />
JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
04<br />
9 120001 135738<br />
Odessa – eine Stadt der<br />
Dichter und des Zionismus<br />
Geschichte und Gegenwart der strategisch<br />
wichtigen Hafenstadt, die als Zentrum<br />
osteuropäisch-jüdischer Kultur gilt<br />
Pessach mit Heinrich Heine<br />
Als der Rabbi von Bacherach<br />
zu Pessach zur Besuch kam<br />
cover_0322.indd 2 07.04.22 16:44
Sehen Sie die Welt aus<br />
unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />
DiePresse.com/Sonntagsabo<br />
Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />
cover_0322.indd 3 07.04.22 16:44
Der Krieg tobt nicht nur in<br />
der Ukraine, Demonstration<br />
gegen den Krieg in der Ukraine in<br />
Frankfurt am Main.<br />
© Boris Roessler / dpa / picturedesk.com<br />
Editorial<br />
Die Erzählung vom Auszug der Juden aus Ägypten,<br />
die jedes Jahr zu Pessach aus der Haggada<br />
vorgelesen wird, ist wohl die älteste kontinuierlich<br />
erzählte Geschichte der Freiheit. Die Rituale, die das<br />
Fest begleiten, sind seit Jahrtausenden so unverändert<br />
wie die Geschichte selbst. Wir essen statt Brot<br />
Matze, um uns an die Eile zu erinnern, mit der wir<br />
über Nacht aus Ägypten fliehen mussten. Wir beißen<br />
in Maror und erinnern uns an die Bitterkeit der Unterdrückung<br />
als Sklaven. Wir sitzen auf Polstern und<br />
lehnen uns nach hinten, um uns daran zu erinnern,<br />
dass wir mit der Flucht die Freiheit erlangten. Und<br />
wir feiern den Sederabend zu Hause mit unserer Familie<br />
und unseren Freunden, um an diesem<br />
Abend nicht nur die Freiheit selbst, sondern<br />
auch die Kraft der Familie zu feiern, die uns<br />
gegen Unterdrücker, gegen die Widrigkeiten<br />
des Lebens schützen kann.<br />
Moses, der die Sklaven aus Ägypten herausführte<br />
und sie zum Volk werden ließ, forderte<br />
die Menschen mehrmals auf, die Geschichte<br />
des Auszugs ihren Kindern und<br />
allen nachfolgenden Generationen zu erzählen.<br />
Moses verstand, dass die Freiheit zu erlangen<br />
notwendig war, um eine freie Gemeinschaft<br />
aufzubauen. Freiheit auf Dauer<br />
zu behalten, kann jedoch nur durch Bildung<br />
gelingen, und die beste Bildung erreichen<br />
wir immer noch durch das Erzählen von Geschichten,<br />
denn spannende Storys prägen<br />
sich besser ein als schnöde Fakten. Das wissen Lehrer,<br />
Werbefachleute und Autor:innen gleichermaßen.<br />
Denn wir brauchen Geschichten. Wir brauchen<br />
Märchen, Sagen und Legenden um die Welt um uns<br />
zu entschlüsseln und zu verstehen. Hätten die Menschen<br />
nicht bereits in Urzeiten angefangen, ihre Erfahrungen<br />
in Geschichten zu verwandeln, hätte die<br />
Menschheit vermutlich nicht bis heute überlebt.<br />
Nach Moses sollen die Eltern aber nicht über die<br />
Freiheit erzählen, sondern vor allem über die Unterdrückung<br />
und den Ausbruch aus ihr. Denn dieses<br />
Wissen, unterstützt durch die traditionelle Dramaturgie<br />
eines Sederabends, die es erfahrbar macht,<br />
soll den Wunsch nach Freiheit in uns auf lange Sicht<br />
erhalten.<br />
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine führt uns den<br />
Verlust der Freiheit hautnah vor Augen, macht aber<br />
auch die Kraft einer Gemeinschaft und ihres Glaubens<br />
an den Sieg über ihren Unterdrücker deutlich.<br />
Und gleichzeitig spüren wir auch, dass der Krieg<br />
nicht nur dort, sondern in uns allen ausgetragen<br />
wird.<br />
Deshalb wünsche ich uns allen wunderbare Feiertage<br />
im Kreise unserer Lieben, die zumindest den<br />
persönlichen inneren Frieden für einige Zeit einstellen<br />
lassen.<br />
Julia Kaldori<br />
„Um ein Land<br />
zu verteidigen,<br />
braucht man<br />
eine Armee, aber<br />
um eine Zivilisation<br />
zu verteidigen,<br />
braucht<br />
man Bildung. “<br />
Rabbi Lord<br />
Jonathan Sacks<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
Edi0422_korrAH.indd 1 11.04.22 13:53
S.16<br />
Aus dem ehemals kosmopo litischen Odessa<br />
floh bereits die Hälfte der jüdischen Bevölkerung.<br />
Die Älteren und Kranken werden ein<br />
trauriges, entbehrungsrei ches Pessachfest<br />
feiern müssen.<br />
INHALT<br />
Coverfoto: xxxxxxx<br />
„Vor dem Angriffskrieg<br />
der Russen am<br />
24. Februar 2022 lebten<br />
unserem Wissen nach<br />
45.000 Juden<br />
in Odessa.“<br />
Rabbi Mendy Wolf<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
Herstellungsort: Bad Vöslau<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
05 Wir müssen helfen<br />
Sowohl an der ZPC- wie an der<br />
Chabad -Schule wurden sofort die<br />
Ärmel hochgekrempelt, um jüdischen<br />
Geflüchteten zu helfen.<br />
08 Eine ganze Nation wartet<br />
Israel rechnet mit einer enormen<br />
Einwan derungswelle aus der Ukraine<br />
und ist bereit, jedem jüdischen<br />
Flüchtling ein Zuhause zu bieten.<br />
12 Andere Fluchtbewegung<br />
Leise und abseits von Fernsehkameras<br />
verlassen vor allem Jüngere, gut<br />
Gebildete das Russland Putins – darunter<br />
auch Grigory Sverdlin.<br />
16 Stadt des Zionismus<br />
Aus der kosmopo litischen Hafenstadt<br />
Odessa floh bereits die Hälfte<br />
der jüdischen Bevölkerung.<br />
22 Grenzen des Leistbaren<br />
Die Wienerin Deborah Hartmann leitet<br />
seit Ende 2020 die Gedenk- und<br />
Bildungsstätte Haus der Wannsee<br />
Konferenz.<br />
26 Meine Großeltern, die Nazis<br />
Es ist immer mehr die Enkelgeneration,<br />
die nachfragt. Ein schmerzliches<br />
Unterfan gen, dem Uli Jürgens in ihrer<br />
Dokumentation nachspürt.<br />
30 Patronen für alle<br />
Der österreichische Industrielle Fritz<br />
Mandl exportierte in den 1930er-Jahren<br />
illegal in zahlreiche Länder. Eine<br />
neue Biografie beschreibt seine dunklen<br />
Talente.<br />
32 Jüdische k. u. k. Soldaten<br />
Ein neues Buch erzählt die Geschichte<br />
der Juden in der österreich ischungarischen<br />
Armee von 1788 bis 1918.<br />
34 Wiener Möbel<br />
Ein neuer Bildband würdigt die kreativen<br />
Leistungen der meist jüdischen<br />
Designerinnen und Designern im<br />
Wien der 1920er- und 1930er- Jahre.<br />
„Russland ist kein demokratischer<br />
Staat.<br />
Es ist nicht einmal ein<br />
Rechtsstaat. Die Polizei<br />
kann alles mit dir<br />
machen, und du<br />
kannst dich<br />
nicht wehren.“<br />
Grigory Sverdlin<br />
S.12<br />
S.37<br />
Das große Putzen<br />
Pessach steht vor der Tür. Damit auch das letzte Krümelchen Chametz keine<br />
Chance hat, hat WINA ein paar saubere Produkte zusammengestellt.<br />
KULTUR<br />
40 Seder mit Heinrich Heine<br />
Heinrich Heine war so etwas wie der<br />
literarische Hausgott in vielen bildungsbürgerlichen<br />
jüdischen Familien.<br />
43 Ausflug ins Todeslager<br />
Yasmina Rezas neuer Roman Serge ist<br />
tabu lose, kluge Unter haltung mit Tiefgang,<br />
die sich unter der changierenden<br />
Oberfläche versteckt.<br />
44 We are family<br />
Das Jüdische Filmfes tival Wien präsentiert<br />
ein Programm von ineinandergreifenden<br />
Rei hen, Hommagen und<br />
aktu ellen internationalen filmi schen<br />
Stimmen.<br />
46 Der weibliche Körper<br />
Die australische Regisseurin Adena<br />
Jacobs präsentiert ihre erste Arbeit am<br />
Wiener Burgtheater: Die Troerinnen<br />
von Euripides in einer neuen Fassung.<br />
49 Bibel und Mossad<br />
Eine Wasserleiche am Strand und ein<br />
abgelegtes Frühchen: zwei Fälle für Inspektor<br />
Avi Avraham in Dror Mishanis<br />
Kriminalroman Vertrauen.<br />
50 Frankreich bis Burgenland<br />
Quer durch Europa haben Juden seit<br />
dem 13. Jahrhundert ihre kulturellen<br />
und religiösen Spuren hinterlassen.<br />
Wir besuchen drei Synagogen.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Die jüngsten Anschläge in Israel bilden<br />
zugleich ein tragisches Mosaik<br />
der Vielfalt. Von Gisela Dachs<br />
37 WINA_Lebensart<br />
Das große Putzen – mit den richtigen<br />
säubernden Accessoires<br />
38 WINA_kocht<br />
Am Seder: Warum verstecken wir<br />
Mazze, und lehnen wir uns an?<br />
53 Urban Legends<br />
Paul Divjak auf Wieder - und Neuentdeckung<br />
der Beastie Boys.<br />
54 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den April<br />
WINA ONLINE:<br />
wina-magazin.at<br />
facebook.com/winamagazin<br />
56 Das letzte Mal<br />
Claudia Prutscher, Vizepräsidentin<br />
der IKG, über griechische Hunde<br />
und burgenländische Hochzeiten<br />
„Die Leute hier sind<br />
großar tig, es ist<br />
wie in einer<br />
großen<br />
Familie.“<br />
Flora in Nof HaGalil<br />
S.08<br />
Israel rechnet mit einer<br />
enormen Einwanderungswelle<br />
aus der Ukraine und ist bereit,<br />
jedem jüdischen Flüchtling ein<br />
Zuhause zu bieten.<br />
2 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
3
Erholen können<br />
„Wir müssen alles zur Seite legen<br />
und helfen“<br />
Bis Mitte März sind bereits an die 500 jüdische Geflüchtete<br />
aus der Ukraine in Wien angekommen, unter ihnen<br />
viele Klein- und Schulkinder. Hunderte weitere wurden<br />
erwartet. Sowohl an der ZPC- wie auch an der Chabad-<br />
Schule wurden sofort die Ärmel hochgekrempelt: Jedes<br />
Kind, das eine jüdische Schule besuchen möchte, soll<br />
dies auch tun können.<br />
Von Alexia Weiss<br />
© WINA/Alexia Weiss; Lauder-Chabad<br />
Wie wir das schaffen werden? Ich<br />
habe noch keine Antwort“, sagt<br />
Rabbiner Jacob Biderman, Leiter<br />
des Lauder Chabad-Campus im Augarten.<br />
„Aber wir müssen jedes Kind aufnehmen,<br />
wir werden niemandem absagen.“<br />
Ebenso sieht das Natalie Neubauer, Vorsitzende<br />
des Schulvereins der Zwi-Perez-Chajes-Schule<br />
im Prater. Wenn langfristiger<br />
Bedarf an Kindergarten- und Schulplätzen<br />
bestehe, werde man diese schaffen –<br />
„nach bestem Wissen und Gewissen, mit<br />
enden wollenden Ressourcen, aber mit aller<br />
Kraft, die uns zur Verfügung steht“.<br />
Die ZPC-Schule wurde so konzipiert,<br />
dass im Bedarfsfall ein Stockwerk aufgesetzt<br />
werden kann. Im Notfall könne man<br />
sich als Provisorium aber auch wie schon<br />
am früheren Standort in der Castellezgasse<br />
mit Containern im Garten behelfen. Biderman<br />
ist bereits dabei, sich nach Räumen<br />
nahe des Campus umzusehen, die angemietet<br />
werden können. An beiden Schulen<br />
lernen bereits die ersten ukrainischen<br />
Kinder und Jugendliche. Wie viele es insgesamt<br />
noch werden und wie viele von ihnen<br />
langfristig in Wien bleiben werden, steht<br />
allerdings in den Sternen. Denn selbst die<br />
Betroffenen wissen derzeit noch nicht, wie<br />
ihre Zukunft aussehen wird.<br />
Oleg Vaikhonskyi und seine Frau Oksana<br />
Vaikhonska sind mit ihrem fünfjährigen<br />
Sohn Simon und ihrem 13-jährigen Labrador<br />
aus der Nähe von Kiew in Richtung<br />
Wien aufgebrochen. In aller Früh packten<br />
sie das Nötigste zusammen und machten<br />
sich mit ihrem Auto auf den Weg. Zurück<br />
blieb das Haus, das sie in den vergangenen<br />
zweieinhalb Jahren gebaut und eben erst<br />
bezogen hatten. „Das Einzige, was für uns<br />
in dem Moment wichtig war, war, unseren<br />
Sohn in Sicherheit zu bringen“, erzählt<br />
Oksana. Sie arbeitete in Kiew als Lifestyle-<br />
Journalistin. Ihr Mann hat Internationale<br />
Beziehungen studiert und war in einem<br />
Landwirtschaftskonzern tätig. Die Ukraine<br />
sei ihre Heimat, und auch wenn dort nicht<br />
alles perfekt und so sauber wie in Wien sei,<br />
irgendwann wolle sie wieder zurück, sagt<br />
Oksana. „Wir sind auch bereit, unser Land<br />
wieder aufzubauen.“<br />
Ihr Mann ist zurückhaltender. Selbst<br />
wenn der Krieg bald vorbei wäre, gäbe es<br />
in der Ukraine nichts zu essen. Jobbedingt<br />
wisse er, dass es heuer keine Ernte geben<br />
werde. „Wenn der Treibstoff von der Armee<br />
gebraucht wird, wie soll man die Felder<br />
bestellen? Und wenn Panzer über die<br />
Felder fahren, was soll man dort ernten?“<br />
Ein, zwei Jahre werde die Familie also auf<br />
jeden Fall in Österreich bleiben. Oder auch<br />
länger. „Als wir die Schule gesehen haben,<br />
überkam mich das Gefühl,<br />
dass mein Sohn hier seinen<br />
Abschluss machen wird.“<br />
Derzeit besucht der Vorschüler<br />
eine Willkommensklasse<br />
an der ZPC-Schule.<br />
Hier gibt es für die Kinder<br />
Betreuung durch auch Russisch<br />
und Ukrainisch sprechende<br />
Pädagoginnen. „Das<br />
ist ein Angebot, um hier in<br />
einen Alltag hineinzufinden“,<br />
„Wir müssen jedes<br />
Kind aufnehmen,<br />
wir werden niemandem<br />
absagen.“<br />
Rabbiner Jacob<br />
Biderman, Leiter des<br />
Lauder-Chabad-Campus<br />
Gemeinschaft und<br />
Integration. Geflohene<br />
Kinder können<br />
in ihrer Sprache sprechen,<br />
sich erholen und<br />
in Kontakt mit anderen<br />
Schüler:innen kommen.<br />
wına-magazin.at<br />
5
Erste Kontakte<br />
Weiter unterrichten<br />
Am Eingang<br />
der ZPC-Schule.<br />
6 wına | April 2022<br />
Schüler Michael<br />
(Mitte) mit Freunden<br />
aus der ZPC-Schule:<br />
„Jetzt muss ich neue<br />
Pläne machen.“<br />
Willkommen.<br />
Kinder im Sesselkreis<br />
am Lauder-Chabad-Campus.<br />
Rabbiner Jacob<br />
Biderman wird die<br />
Schule für den neuen<br />
Bedarf erweitern.<br />
erklärt Daniela Davidovits-Nagy, die sich<br />
im Vorstand der ZPC-Schule der Hilfe für<br />
geflüchtete Kinder aus der Ukraine angenommen<br />
hat. „Die Kinder können in ihrer<br />
Sprache sprechen, sich ein bisschen erholen,<br />
können aber auch in Kontakt mit anderen<br />
Schülern kommen – in Pausen, bei den<br />
Mahlzeiten, bei Festen.“ Purim wurde bereits<br />
gemeinsam gefeiert. Langfristig sollen<br />
jene, deren Familien sich dazu entschieden<br />
haben zu bleiben, in die Klassen integriert<br />
werden. Für Ältere sind zu Beginn in Kooperation<br />
mit dem Jüdischen Beruflichen<br />
Bildungszentrum (JBBZ) Deutschintensivkurse<br />
angedacht, erzählt Davidovits.<br />
Wir wollen hier bleiben. Einer von ihnen ist<br />
Michael. Er ist 16 Jahre alt und mit seiner<br />
Mutter und seinen Großeltern aus Charkiw<br />
nach Wien geflüchtet. Vater hat er keinen<br />
mehr, er wurde vor einigen Jahren bei einem<br />
Überfall auf das Haus der Familie ermordet.<br />
Wien kannte er schon von einer<br />
Reise hierher vor drei Jahren. Und wenn<br />
man ihm zuhört, ist er gekommen, um zu<br />
bleiben. „Es kommt nun nur darauf an, ob<br />
meine Mutter einen Job findet.“<br />
Michael möchte rasch Deutsch lernen,<br />
die Matura machen und dann hier an einer<br />
Universität studieren. Dass das in nächster<br />
Zeit sehr viel Lernen bedeuten wird, weiß<br />
er. Etwas brüchig wird sein Tatendrang,<br />
wenn er erzählt: „Ich hatte große Pläne in<br />
Charkiw. Ich wollte die Schule fertigmachen<br />
und danach an eine Universität in<br />
Europa gehen. Jetzt muss ich neue Pläne<br />
machen.“ Dass er jemals nach Charkiw zurückgehen<br />
könnte, diese Möglichkeit sieht<br />
er nicht. „1,5 Millionen Menschen lebten<br />
dort, jetzt sind nur mehr 300.000 geblieben.<br />
Die meisten von ihnen sind ältere<br />
Leute und solche, die zu arm waren, um<br />
zu flüchten.“ Die Stadt sei kaputt, „meine<br />
Schule steht auch nicht mehr“.<br />
„Sehr viele sagen, dass sie auch, wenn<br />
der Krieg vorbei sein wird, hier bleiben<br />
wollen“, weiß Rabbiner Jacob Biderman.<br />
Städte wie Mariupol oder Charkiw seien<br />
zerstört. Die jüdische Infrastruktur in der<br />
Ukraine wurde in den vergangenen Jahrzehnten<br />
von Chabad aufgebaut – über 40<br />
Schulen und Kindergärten werden beziehungsweise<br />
wurden landesweit betrieben,<br />
einige davon in Dnipro, wo bisher 40.000<br />
Juden und Jüdinnen lebten und sich das<br />
Menora-Center befindet. Shmuel Kaminetsky<br />
ist Rabbiner in Dnipro – und ein<br />
Schulfreund des Wiener Rabbiners. Über<br />
diese Verbindung kommen seit März laufend<br />
Familien aus Dnipro in Wien an; teils<br />
© WINA/Alexia Weiss; Lauder-Chabad<br />
hier rasch alle neu aufgenommenen Kinder<br />
gemeinsam mit den Schüler:innen<br />
unterrichten, die schon bisher die Schule<br />
besuchten. Das würden sich auch die Eltern<br />
der ukrainischen Mädchen und Buben<br />
wünschen. Deutschunterricht findet<br />
an der Chabad-Schule bereits für die geflüchteten<br />
Kinder statt.<br />
Sowohl seitens der ZPC- wie auch der<br />
Chabad-Schule wird betont, es sei einzig<br />
Entscheidung der Eltern, in welche Schule<br />
ihre Kinder schließlich gehen. Wobei Rabbiner<br />
Biderman betont, dass viele Kinder,<br />
die in der Ukraine eine Chabad-Schule besuchten<br />
und nun hierher kämen, nicht religiös<br />
seien; nur ein Drittel spreche Hebkommen<br />
Kindergruppen sogar mit ihren<br />
Elementarpädagoginnen und Lehrern.<br />
Rabbiner Biderman stellte am Chabad-<br />
Campus sofort Raum zur Verfügung, damit<br />
die Schülerinnen und Schüler weiter<br />
unterrichtet werden können. An die 200<br />
Kinder und Jugendliche dockten im Lauf<br />
des März schon hier an.<br />
„Was mich sehr gerührt hat: Ich gehe mit<br />
einer Mutter in eine Kindergartengruppe,<br />
und sie sieht die Elementarpädagogin<br />
und beginnt zu schreien, und die beiden<br />
Frauen umarmen einander und weinen,<br />
und es stellte sich heraus, das war schon<br />
in der Ukraine die Pädagogin der Tochter<br />
gewesen.“ Was den Rabbiner noch bewegt:<br />
„Die Gemeinde übersiedelt zusammen. Es<br />
ist ein Schochet mitgekommen, ein Sojfer,<br />
ein Mohel. Eine Gemeinde, die fliehen<br />
musste, bildet sich hier wieder.“<br />
Wie auch an der ZPC-Schule, die Mitte<br />
März etwa ein Dutzend Kinder betreute, ist<br />
am Chabad-Campus das langfristige Ziel,<br />
die ukrainischen Schülerinnen und Schüler<br />
gemeinsam mit den österreichischen<br />
zu unterrichten. Da wegen des Chabad-<br />
Netzwerks derzeit mehr Schüler:innen in<br />
der Schule im Augarten anklopfen, wird<br />
es dort allerdings rascher nötig sein, neue<br />
Klassen zu öffnen. Rabbiner Biderman will<br />
Sie haben<br />
Fragen an das<br />
Bundeskanzleramt?<br />
service@bka.gv.at<br />
0800 222 666<br />
Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />
(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />
+43 1 531 15 -204274<br />
Bundeskanzleramt<br />
Ballhausplatz 1<br />
1010 Wien<br />
„[…] und die beiden<br />
Frauen umarmen<br />
einander und weinen,<br />
und es stellte<br />
sich heraus, das war<br />
schon in der Ukraine<br />
die Pädagogin der<br />
Tochter gewesen.“<br />
Rabbiner Biderman<br />
räisch. 20 Prozent der Neuankömmlinge<br />
seien dagegen sogar chassidisch. An beiden<br />
Schulen wird es also nötig sein, nicht<br />
nur für intensiven Deutsch-, sondern auch<br />
Hebräischunterricht zu sorgen.<br />
Noch sind Dinge wie konkrete Lehrpläne<br />
aber Zukunftsmusik. Da wie dort disponiert<br />
man von Tag zu Tag neu und versucht<br />
nur eines: der momentanen Situation gerecht<br />
zu werden und Kinder willkommen<br />
zu heißen. „Ja“, sagt Rabbiner Biderman,<br />
„es kann auch sein, dass das den Schulalltag<br />
ein bisschen stört und unbequem ist für<br />
das Lehrerteam. Aber diesen Familien und<br />
Kindern zu helfen, ist derzeit das Wichtigste.“<br />
Er erzählt dabei vom Lubawitcher<br />
Rebben, der 1986 nach der Atomkatastrophe<br />
in Tschernobyl sofort eine Luftbrücke<br />
für Kinder nach Israel startete. Die Chabad-Organisation<br />
sei überfordert gewesen,<br />
man habe gefragt, wo man nun so schnell<br />
so viele Kinder unterbringen solle. „Von<br />
mir aus schließt Jeschiwot und Mädchenschulen,<br />
um die Internate frei für die Kinder<br />
zu machen“, habe der Rebbe damals<br />
gesagt. „Zu gewissen Zeiten muss man Prioritäten<br />
setzen“, betont Rabbiner Biderman.<br />
Das sieht auch Davidovits so. „Das Wichtigste<br />
ist, dass jedes Kind, das einen Platz<br />
braucht, einen findet.“<br />
Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />
auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />
bundeskanzleramt.gv.at<br />
wına-magazin.at<br />
7<br />
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG
Rückkehrrecht der Juden<br />
Biblische Heimat<br />
Da ist eine ganze Nation auf der<br />
anderen Seite, die auf dich wartet<br />
Israel rechnet mit einer enormen Einwanderungswelle<br />
aus der Ukraine und ist bereit,<br />
jedem jüdischen Flüchtling ein Zuhause zu<br />
bieten. Wie viele nicht jüdische Ukrainer<br />
zusätzlich aufgenommen werden können,<br />
wird noch diskutiert.<br />
Von Daniela Segenreich-Horsky<br />
Jüdische Ukrainer auf der Flucht aus<br />
dem Kriegsgebiet bei ihrer Ankunft am Ben<br />
Gurion Airport bei Tel Aviv.<br />
Anfang März trafen auch in Israel<br />
die ersten Flüchtlinge ein,<br />
die über Moldawien, Polen und<br />
Rumänien aus der Ukraine geschleust<br />
worden waren. Die erschöpften<br />
Passagiere, unter ihnen hundert Kinder<br />
aus einem jüdischen Waisenhaus in Schytomyr<br />
in der Nord-Ukraine, wurden mit<br />
rotem Teppich, israelischen Flaggen und<br />
Applaus auf der Landebahn begrüßt. Sie<br />
waren die Vorboten eines immer mehr anschwellenden<br />
Menschenstroms aus dem<br />
Krisengebiet. Die Regierung hat bereits<br />
Maßnahmen für die Aufnahme und Eingliederung<br />
von bis zu 100.000 Neueinwanderer<br />
geplant, wobei auch viele Juden aus<br />
Russland, die sich in der momentanen Situation<br />
nicht mehr sicher fühlen, um Visa<br />
ansuchen. Die berüchtigte Bürokratie der<br />
israelischen Einwanderungsbehörde soll<br />
mit Rücksicht auf die Lage auf ein Minimum<br />
beschränkt werden.<br />
Flora war unter den Ersten, die nach einer<br />
abenteuerlichen Odyssee auf dem Ben-<br />
Gurion-Flughafen landeten. Sie konnte<br />
mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in<br />
einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Kiew<br />
flüchten und wurde im Städtchen Nof<br />
HaGalil im israelischen Norden untergebracht.<br />
Während sie im Speisesaal des mit<br />
Flüchtlingen vollgepackten Plaza-Hotels<br />
ihre zwei Wochen alte Tochter füttert, beschreibt<br />
sie ihre Erlebnisse der vergangenen<br />
Wochen: „Als ich aus der Geburtsklinik<br />
zurück nachhause gekommen bin, ging<br />
wirbt der Bürgermeister von Nof HaGalil,<br />
der selbst vor 50 Jahren aus Odessa kam,<br />
seine Stadt auf Facebook. „Wir werden so<br />
viele aufnehmen, wie wir nur können.“<br />
Tatsächlich lebt man in Israel seit jeher<br />
mit großen Einwanderungswellen. In den<br />
ersten Jahren nach der Staatsgründung<br />
verdoppelte sich die Zahl der Einwohner<br />
aufgrund des Stroms der Immigranten aus<br />
Europa und Nordafrika. Der bei Weitem<br />
größte Schub kam nach dem Zerfall der<br />
Sowjetunion – damals absorbierte der jüdische<br />
Staat innerhalb kürzester Zeit über<br />
eine Million Menschen. Israels „Law of return“,<br />
das Rückkehrrecht der Juden in ihre<br />
biblische Heimat, gibt jeder und jedem mit<br />
zumindest einem jüdischen Eltern- oder<br />
Großelternteil das Recht auf die israelische<br />
Staatsbürgerschaft.<br />
Doch während jüdische Einwanderer<br />
die Gewissheit haben, in Israel einen sicheren<br />
Hafen zu finden, ringt man noch<br />
um eine Formel für die Aufnahme von<br />
nicht jüdischen Ukrainern. Außenminister<br />
Yair Lapid trat für eine Ausweiterung<br />
© Yossi Zeliger/Flash90<br />
„Wir laden die<br />
ukrainischen<br />
Einwanderer<br />
ein, in unsere<br />
Stadt zu kommen.<br />
Wir werden<br />
so viele aufnehmen,<br />
wie wir<br />
nur können.“<br />
Ronen Plot,<br />
Bürgermeister<br />
von Nof HaGalil<br />
der Flüchtlingspolitik<br />
ein und betonte:<br />
„Wir werden unsere<br />
Tore und unsere Herzen<br />
nicht vor Menschen<br />
schließen, die<br />
alles verloren haben.“<br />
Innenministerin<br />
Ayelet Schaked<br />
dagegen wurde in<br />
Jerusalem von entrüsteten<br />
Demonstranten<br />
ausgebuht,<br />
weil sie zu Anfang<br />
strenge Quoten für<br />
nicht jüdische Visa-<br />
Anwärter aufstellte:<br />
Zu den 20.000 bereits in Israel verweilenden<br />
Ukrainern sollten noch weitere fünfbis<br />
sechstausend eingelassen werden. Sie<br />
rechtfertigte dies mit dem enormen Ausmaß<br />
der zu erwartenden Welle an jüdischen<br />
Flüchtlingen: „Obwohl mich alle attackieren,<br />
vergesse ich nicht, dass Israel<br />
vor allem die Heimat des jüdischen Volkes<br />
es mit dem Baby direkt in den Luftschutzkeller.<br />
Es war entsetzlich kalt dort unten,<br />
und ich rief unseren Rabbi an und bat ihn<br />
um Hilfe. Er hat dann einen Wagen organisiert,<br />
der uns und andere Ukrainer an<br />
die Grenze von Moldawien gebracht hat.<br />
Wir wussten nicht, was uns erwartet und<br />
wohin es geht.“ Ihre Erzählung klingt wie<br />
ein Thriller: An der Grenze wartete ein anderer<br />
Wagen, und sie wurden über Nacht<br />
in einer Kolonne von Mini-Vans nach<br />
Kishinov gebracht. Von dort ging der Flug<br />
dann weiter nach Israel.<br />
In Nof Hagalil in Galiläa, wo etwa die<br />
Hälfte der 50.000 Einwohner russischsprachig<br />
sind, ist man auf Einwanderer<br />
eingestellt. „Die Leute hier sind großartig,<br />
es ist wie in einer großen Familie, sie<br />
helfen uns mit allem, von Windeln bis<br />
zu Kleidung und Spielsachen – wir haben<br />
hier wirklich alles, was wir brauchen“,<br />
schwärmt Flora. Ihr sechsjähriger<br />
Sohn ist traumatisiert. Er erschrickt<br />
bei jeder Sirene, hat Albträume und traut<br />
sich nicht alleine zur Toilette. Aber er und<br />
seine beiden größeren Geschwister waren<br />
sofort am Tag nach der Ankunft in<br />
der Schule, die ausgebildete medizinische<br />
Assistentin hat schon einen Arbeitsplatz<br />
und eine Wohnung für ihre Familie<br />
in Aussicht. Um Therapie für ihre Kinder<br />
will sie sich kümmern, sobald sie sich etwas<br />
eingelebt haben.<br />
„Wir laden die ukrainischen Einwanderer<br />
ein, in unsere Stadt zu kommen“, beist,<br />
und wir werden alle unsere<br />
Bemühungen für diejenigen<br />
einsetzen, die nach den Kriterien<br />
des Rückkehrgesetzes zur<br />
Immigration qualifiziert sind.“<br />
Inzwischen erhalten auch Ukrainer,<br />
die einen Verwandten in<br />
Israel haben, ein Einreisevisum<br />
nach Israel. An einem separaten<br />
Abkommen für ukrainische<br />
Flüchtlinge, die keine Familie<br />
hier haben, wird noch gefeilt.<br />
Gastfamilien organisieren. Tatsächlich<br />
muss wohl kaum ein<br />
Land mit so einem dichten<br />
Strom an Immigranten zurechtkommen<br />
wie Israel. Die zuständigen<br />
Behörden arbeiten im Rahmen der Operation<br />
„Israel garantiert“ intensiv an der<br />
Schaffung zusätzlicher Wohnungen sowie<br />
Schul- und Arbeitsplätze für Einwanderer.<br />
Darüber hinaus müssen die Ankommenden<br />
medizinisch versorgt und krankenversichert<br />
werden. Und an den Grenzen zur<br />
Ukraine arbeiten Angestellte der Jewish<br />
Agency und Freiwillige von Hilfsorganisationen<br />
wie Zaka und United Hazalah unermüdlich<br />
daran, die ankommenden Juden<br />
mit erster Hilfe und Medikamenten,<br />
Lebensmitteln und sanitären Produkten<br />
zu versorgen und ihnen bei Visa-Prozeduren<br />
und der Beschaffung von Flugtickets<br />
nach Israel behilflich zu sein. Jede Neueinwandererfamilie<br />
erhält 3.000 Schekel<br />
vom Staat, einen weiteren Betrag als<br />
Flüchtlingshilfe und oft noch ein monatliches<br />
Stipendium. Außerdem werden Gastfamilien<br />
organisiert, die die Neuankömmlinge<br />
zum bevorstehenden Pessach-Fest<br />
aufnehmen können.<br />
Der Politiker, Autor und einstige Refusnik<br />
Nathan Sharansky brachte die Situation<br />
auf den Punkt, als er sich kürzlich bei einer<br />
Rede an sein Leben in der ehemaligen Sowjetunion<br />
erinnerte: „Die tausenden Menschen,<br />
die flüchten wollen, warten Tag und<br />
Nacht an der ukrainischen Grenze, und es<br />
gibt nur ein Wort, das ihnen helfen kann:<br />
,Jude‘. Wenn du Jude bist, dann […] ist da<br />
jemand auf der anderen Seite der Grenze,<br />
der dich sucht. Deine Chancen rauszukommen<br />
sind exzellent […]. Als ich ein Kind [in<br />
der Sowjetunion] war, war ,Jude‘ eine unglückliche<br />
Bezeichnung, niemand hat uns<br />
beneidet. Aber heute, an der ukrainischen<br />
Grenze, bezeichnet ,Jude‘ diejenigen, die<br />
einen Platz, eine Familie, eine ganze Nation<br />
haben, die auf der anderen Seite auf<br />
sie warten.“<br />
8 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
9
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Mosaik der<br />
Vielfalt<br />
Reisen aus und nach<br />
Israel sind wieder<br />
möglich. Doch einmal<br />
mehr gibt es hohe<br />
Alarmbereitschaft vor den<br />
Feiertagen.<br />
Die Opfer, aber auch die Täter der jüngsten<br />
Anschläge und ihre Geschichten spiegeln die<br />
Komplexität der Gesellschaft Israels wider.<br />
Es kommt alle zehn Jahre einmal vor, diesmal<br />
ist es wieder soweit: Die Feiertage der<br />
drei monotheistischen Religionen fallen<br />
alle in diesem Frühjahr zusammen. Der<br />
Ramadan hat gerade angefangen, in diese Zeit fallen<br />
diesmal auch Pessach und Ostern. Mehr als zwei<br />
Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie<br />
denken viele jetzt wieder ans Verreisen. Im Radio<br />
läuft Werbung für Einkäufe im Duty-Free-Shop am<br />
Flughafen. Es gibt aber auch Versuche, die einheimischen<br />
Touristen „mit bezahlbaren Preisen“ im<br />
In der kollektiven Erinnerung ist<br />
rund um die Feiertage im Frühjahr<br />
nichts Gutes abgespeichert.<br />
Land zu halten. Wenigstens spielt das Wetter mit.<br />
Nach einem ungewöhnlich kalten und nassen Winter<br />
ist es gerade übergangslos Sommer geworden.<br />
Ansonsten hat sich nach den jüngsten Anschlägen<br />
in Be’er Scheva, Hadera, Bnei Brak und Gusch Etzion<br />
die Furcht vor einer erneuten Terrorwelle wie<br />
Blei über die angehende Ferienstimmung gelegt.<br />
Die Sicherheitskräfte sind in höchste Alarmbereitschaft<br />
versetzt worden.<br />
In der kollektiven Erinnerung ist rund um die<br />
Feiertage im Frühjahr nichts Gutes abgespeichert.<br />
Vor einem Jahr hatten Spannungen in<br />
einem elftägigen Krieg mit der Hamas gemündet.<br />
Zuvor war es zu blutigen Ausschrei-<br />
Von Gisela Dachs<br />
tungen in der Jerusalemer Altstadt und um den<br />
Tempelberg gekommen. Während in Israel Raketen<br />
aus Gaza einschlugen, kam es in den gemischten<br />
jüdisch-arabischen Städten zu bürgerkriegsähnlichen<br />
Zuständen. Jetzt, nach drei tödlichen Anschlägen<br />
innerhalb einer Woche und einem weiteren Angriff<br />
mit einem Schraubenzieher, bei dem das Opfer<br />
schwer verletzt überlebt hat, fragt man sich, wohin<br />
das führen mag.<br />
Die Attentäter stammen aus Israel und dem Westjordanland.<br />
Die einen waren inspiriert vom Islamischen<br />
Staat, andere vom islamischen Djihad. Neu ist<br />
dabei die Nähe zum Islamischen Staat, den die Sicherheitskräfte<br />
offenbar nicht auf dem Radar hatten.<br />
Viele sind es nicht. Auf rund 80 bis 100 wird die<br />
Zahl der Männer geschätzt, die in Israel und dem<br />
Westjordanland dem IS nahestehen sollen. Sie haben<br />
in Be’er Scheva und Hadera zugeschlagen. Was<br />
dann auch andere aufs Parkett rief, wie den Attentäter<br />
von Bnei Brak, der früher schon einmal wegen<br />
eines versuchten Selbstmordanschlags im Gefängnis<br />
gesessen war.<br />
Die Bilder der Überwachungskameras zeigen,<br />
wie sich Letzterer selbstbewusst mit seiner automatischen<br />
Waffe auf den Straßen von Bnei Brak bewegt.<br />
Man sieht, wie er sich einem stehengebliebenen<br />
Auto nähert, sich dann herunterbeugt und<br />
den Insassen aus allernächster Nähe exekutiert. Die<br />
schreckliche Szene lief immer wieder in den Fernsehnachrichten,<br />
wie in einem gruseligen Krimi.<br />
Die Opfer und ihre ganz eigenen Geschichten<br />
spiegeln in nahezu beispielhafter Weise die komplexe<br />
Realität der israelischen Gesellschaft wider. In<br />
der Aula der Hebräischen Universität in Jerusalem<br />
© Flash90 2022/Yonatan Sindel<br />
brennen Kerzen neben den Fotos<br />
der elf Opfer, die bei den Anschlägen<br />
ums Leben gekommen sind.<br />
Es ist ein Mosaik der Vielfalt.<br />
Unter ihnen ist der 29-jährige<br />
Rabbiner Avishai Yehezkel, der seinen kleinen Sohn<br />
abends im Kinderwagen durch die Straßen von Bnei<br />
Brak schiebt, um ihn zum Einschlafen zu bringen. Er<br />
hört Schüsse in der Nachbarschaft, schafft es noch,<br />
seinen Bruder anzurufen. Als ihn der Attentäter ins<br />
Visier nimmt, wirft er sich über den Kinderwagen,<br />
sein Sohn überlebt, er nicht.<br />
Da ist auch der 32-jährige Polizist Amir Khoury,<br />
ein arabischer Israeli, der als Erster den Angreifer ortet<br />
und auf ihn schießt, um ihn zu stoppen. Im Feuergefecht<br />
wird Khoury von einer der letzten Kugeln<br />
des Attentäters tödlich getroffen. Khoury mutiert<br />
zum Helden, weil er durch seinen Einsatz vielen Zivilisten<br />
das Leben gerettet hat. Zu seiner Beerdigung<br />
auf dem christlichen Friedhof in der Nähe von Nazareth<br />
kommen viele Haredim aus Bnei Brak, um ihm<br />
die letzte Ehre zu erweisen. Auch der Bürgermeister,<br />
Rabbiner Avraham Rubinstein, ist angereist, er<br />
umarmt tröstend den Vater, der selbst einst ein Ordnungshüter<br />
gewesen war, und dankt ihm für den<br />
Mut seines Sohnes. Gemeinsam mit dem Vater trauert<br />
auch Amir Khourys Lebensgefährtin, Shani Yashar,<br />
eine jüdische Israelin. Beide liegen einander in<br />
Tränen aufgelöst in den Armen. Das Paar hätte demnächst<br />
heiraten sollen.<br />
Erst am Tag zuvor war ein anderer junger arabischer<br />
Mann in Uniform beerdigt worden. Der 19-jährige<br />
Yazan Falah war Grenzpolizist und stammte aus<br />
einem drusischen Dorf im Norden des Landes. Ihn<br />
Die Attentäter stammen aus Israel und dem Westjordanland,<br />
die Opfer aus den unterschiedlichsten religiösen<br />
und ethnischen Gruppierungen der israelischen Gesellschaft.<br />
hatten die Kugeln des Angreifers in Hadera getroffen,<br />
der dem Islamischen Staat nahestand.<br />
Zu den Opfern im streng religiösen Bnei Brak<br />
zählen auch zwei Migranten aus der Ukraine, der<br />
32-jährige Victor Sorokopot und der 23-jährige Dimitri<br />
Mitrik. Sie waren einst mit einem Touristenvisa<br />
ins Land gekommen. Beide hatten als Gelegenheitsarbeiter<br />
ihren Unterhalt verdient. In staubiger<br />
und gipsverklebter Kleidung versammelten sich<br />
Freunde und Bekannte am Tag danach in Trauer<br />
am Tatort, jenem kleinen Lebensmittelladen in Bnei<br />
Brak, vor dem sie alle abends oft gerne zusammen<br />
gesessen hatten.<br />
Die Ukrainer hatten davon geträumt, sich mit ihrem<br />
Verdienst ein Haus in der Heimat zu bauen, die<br />
nun in den vergangenen Wochen zum Kriegsgebiet<br />
geworden ist. Nun sollten ihre Särge dorthin ausgeflogen<br />
werden, was mit neuen Herausforderungen<br />
verbunden ist. „Wir hatten hier keine Verwandten,<br />
waren alleine und wollten in die Ukraine zurück“,<br />
erzählt Sorokopots Witwe Kristina. Jetzt wolle sie<br />
bleiben, aber die Überreste ihre Ehemanns nicht<br />
unbegleitet zurücktransportieren lassen.<br />
Wäre das alles eine Fernsehserie, hätte der Drehbuchautor<br />
einen Preis für sein Faible für Diversität<br />
und sein Engagement im Kampf gegen Vorurteile<br />
bekommen. Und Kritiker hätten ja vielleicht gefunden,<br />
dass das alles ein bisschen überzeichnet wäre.<br />
10 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
11
Gemeinsamer Protest<br />
Wachsende Repressionen<br />
Die andere Fluchtbewegung<br />
Während die Welt immer<br />
noch geschockt auf die Ukraine<br />
schaut, wo Russlands<br />
Präsident Wladimir Putin<br />
Häuser und Städte in Schutt<br />
und Asche legen und auch<br />
Zivilisten, darunter Kinder,<br />
töten lässt, sodass Millionen<br />
Menschen auf der Flucht<br />
sind, formiert sich in Russland<br />
selbst ebenfalls eine<br />
Fluchtbewegung. Leiser und<br />
abseits von Fernsehkameras<br />
verlassen vor allem Jüngere,<br />
gut Gebildete das Land:<br />
Die Repressionen Putins haben<br />
inzwischen ein unerträgliches<br />
Maß erreicht, sagen sie.<br />
Einer von ihnen ist Grigory<br />
Sverdlin.<br />
Text: Alexia Weiss<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
Ein sonniger Mittag Ende März<br />
in Wien, die Temperaturen<br />
sind so, dass es die Menschen<br />
ins Freie zieht, die Gastgärten<br />
sind hoch frequentiert. Wir<br />
treffen einander im Servitenviertel, hier<br />
wohnt eine langjährige Freundin Sverd-<br />
lins, er hat sie vor vielen Jahren in seiner<br />
Heimatstadt St. Petersburg kennengelernt,<br />
als sie dort ein Auslandssemes-<br />
ter absolvierte, nun kann er ein paar Tage<br />
bei ihr wohnen.<br />
Er genieße die Sonne sehr, erzählt<br />
Sverdlin zu Beginn unseres langen Ge-<br />
sprächs. Berühmt sei St. Petersburg für<br />
seine weißen Nächte. Die Kehrseite seien<br />
die dunklen Tage im Winter. Dennoch<br />
liebe er St. Petersburg, wo er 1978 zu Welt<br />
kam, und wohin er 2010 nach eineinhalb<br />
Jahren in Israel – er hatte Alija gemacht –<br />
wieder zurückkehrte. Seine Zeit in Israel<br />
sollte ihm dennoch nun sehr nützlich sein<br />
beziehungsweise die israelische Staats-<br />
bürgerschaft, die er seither zusätzlich<br />
zur russischen besitzt. Doch dazu später.<br />
Sverdlin stammt aus einer jüdischen,<br />
nicht religiösen Familie. Der Vater war<br />
Geschäftsmann, die Mutter lehrte Eng-<br />
lisch an einer Universität. Sie seien keine<br />
Dissidenten gewesen, sagt der Sohn,<br />
seien solchen allerdings nahe gestan-<br />
den. In diesem Sinn hätten sie auch ihn<br />
und seine Schwester groß gezogen. Er stu-<br />
dierte Wirtschaft, arbeitete für Banken,<br />
später leitete er das Marketing eines großen<br />
Konzerns. Irgendwann kam er je-<br />
doch an einen Punkt, an dem er spürte,<br />
er könne nicht so weiterleben.<br />
Im Vergleich zu heute sei die politi-<br />
sche Situation entspannt gewesen, doch<br />
damals „war ich müde davon, wie sich die<br />
Dinge in Russland entwickelten. Von Jahr<br />
zu Jahr gab es weniger Freiheit, weniger<br />
unabhängige Berichterstattung, eingeschränktere<br />
Möglichkeiten zu wählen“. So<br />
fiel 2008 die Entscheidung, Alija zu machen.<br />
In Israel lernte er in einem Ulpan<br />
Hebräisch, arbeitete, lernte neue Freunde<br />
kennen. „Ich merkte aber auch, dass ich<br />
dort nicht so gut vernetzt bin, mein Hebräisch<br />
nicht perfekt ist und es auch in Israel,<br />
obwohl Einwanderer von allen herzlich<br />
empfangen werden, nicht so leicht ist,<br />
etwas aufzubauen.“<br />
In diesen eineinhalb Jahren ordnete er<br />
aber sein Leben neu. Schon während seiner<br />
Wirtschaftskarriere hatte er einmal<br />
in der Woche in St. Petersburg für eine<br />
NGO, die sich in der Obdachlosenhilfe<br />
engagiert, ehrenamtlich Essen ausgeliefert.<br />
Er beschloss, künftig hauptberuflich<br />
in diesem Bereich tätig sein zu wollen. Zufällig<br />
war die damalige Leiterin von Nochlezhka<br />
gerade dabei, nach Deutschland zu<br />
übersiedeln, und so setzte er in den vergangenen<br />
Jahren seine Managementfertigkeiten<br />
als ihr Nachfolger ein.<br />
Nochlezkha entwickelte sich in dieser<br />
Zeit zu einer wichtigen Stütze für<br />
Obdachlose in St. Petersburg. Das Team<br />
wuchs von etwas unter 20 auf nun 85 bezahlte<br />
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />
und hunderte Freiwillige an. Im Rahmen<br />
von Projekten in Moskau und St. Petersburg<br />
wurden 2021 8.165 Menschen betreut.<br />
Die einzelnen Projekte decken dabei<br />
verschiedenste Ebenen ab – von der<br />
„[…] war ich müde<br />
davon, wie sich<br />
die Dinge in Russland<br />
entwickelten.<br />
Von Jahr zu Jahr<br />
gab es weniger<br />
Freiheit, weniger<br />
unabhängige Berichterstattung,<br />
eingeschränktere<br />
Möglichkeiten zu<br />
wählen.“<br />
Grigory Sverdlin<br />
„Kein Krieg.“ „Ich wusste,<br />
dass ich damit jederzeit<br />
Gefahr lief, verhaftet zu<br />
werden.“<br />
Akutversorgung mit Notschlafstellen und<br />
warmen Mahlzeiten bis zu Rehabilitationsprogrammen,<br />
mit denen Betroffene unterstützt<br />
werden, wieder einen Job ausüben<br />
und sich ein Zuhause schaffen zu können.<br />
Wie wichtig diese Arbeit ist, zeigt ein Blick<br />
auf die Zahlen: Rund sechs Millionen Menschen<br />
leben in St. Petersburg, 50.000 von<br />
ihnen sind obdachlos.<br />
Der 24. Februar dieses Jahres, der Tag,<br />
an dem Putin der Ukraine den Krieg erklärte,<br />
war ein wichtiger für Nochlezkha.<br />
In Kürze sollte ein Restaurant eröffnet<br />
werden, dessen Belegschaft zur Hälfte aus<br />
Obdachlosen besteht. Hier sollen sie einen<br />
neuen Beruf erlernen und dann nach<br />
ein paar Monaten in ein anderes Restaurant<br />
oder Café wechseln können. Normalerweise<br />
mache er nach dem Aufstehen<br />
in der Früh einen Blick auf seine Social-<br />
Media-Seiten, erzählt Sverdlin. Doch an<br />
diesem Tag sollte es ein Treffen mit dem<br />
Team des künftigen Lokals geben, und die<br />
Bauarbeiten gingen ins Finale. So schaute<br />
er erst auf dem Weg zur Baustelle in seinem<br />
Auto beim Halt vor einer Kreuzung<br />
auf sein Smartphone. Und konnte kaum<br />
glauben, was er da auf Meduza las, einem<br />
Medienportal, das inzwischen von Putin<br />
als „feindlicher Agent“ eingestuft wurde,<br />
nun von Riga aus operiert, sich nicht mehr<br />
über Werbeeinnahmen finanzieren kann<br />
und daher auf Crowdfunding setzt. „Ich<br />
hoffte so, dass das nicht wirklich passiert.<br />
Aber im Grund wissen wir seit 2014, dass<br />
dieses Regime zu allem fähig ist.“<br />
2014 fiel Putin in die Krim ein. Die Situation<br />
heute sei eine völlig andere als damals, sagt<br />
Sverdlin. Es sei fast kein Blut geflossen, die<br />
Krim habe länger zu Russland gehört als<br />
zur Ukraine. Dennoch sei bereits dieser<br />
12 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
13
Wenn Demos nichts bewirken<br />
Zeit, sich zu verabschieden<br />
Protest. Seit Jänner 2021 hatte er<br />
auf der Rückscheibe seines Autos ein<br />
Schild mit der Aufschrift „Freiheit für<br />
politische Gefangene“ befestigt.<br />
Feldzug ein No-go gewesen. Im Rückblick<br />
hätte der Westen schon damals die Sanktionen<br />
über Russland verhängen müssen,<br />
wie es dies heute tut, sinniert Sverdlin.<br />
Vielleicht wäre Putin dann nicht<br />
dem Fehlglauben aufgesessen, er könne<br />
die Ukraine in einer Woche und ohne viel<br />
Widerstand einnehmen. Vielleicht hätte<br />
er den Westen dann nicht als so schwach<br />
eingeschätzt, wie er dies nun getan habe.<br />
Sehr tapfere Leute. Noch am selben Abend<br />
stellte sich Sverdlin auf den Newski Prospekt,<br />
in den Händen ein Schild mit der<br />
Aufschrift „Kein Krieg“. Das hatte er bereits<br />
2014 gemacht, als es um die Krim<br />
ging. Damals sei er ein „einsamer Protestierender“<br />
gewesen, erinnert er sich. Damals<br />
stand er alleine, teils sei ihm Unverständnis<br />
entgegengeschlagen, „ich konnte<br />
fühlen, wie die Leute dachten, die Krim<br />
ist ja immer russisch gewesen“. Aber nun,<br />
nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine<br />
sei es anders gewesen. „Viele Menschen<br />
haben mich unterstützt, sie machten das<br />
Daumen-hinauf-Zeichen.“ Eine Freundin<br />
malte ihm für seinen Protest zudem auf die<br />
Rückseite einer Jacke ebenfalls die Worte<br />
„Kein Krieg“.<br />
„Ich wusste, dass ich damit jederzeit<br />
Gefahr lief, verhaftet zu werden“, erzählt<br />
Sverdlin. Wie sich das anfühlt, das wusste<br />
er schon. Seit Jänner 2021 hatte er auf der<br />
Rückscheibe seines Autos ein Schild mit der<br />
Aufschrift „Freiheit für politische Gefangene“<br />
befestigt. Die Botschaft richtete sich<br />
gegen die Verurteilung des Oppositionspolitikers<br />
Alexei Nawalny. Im Mai wurde er<br />
von einem Polizisten angehalten und verhaftet.<br />
Er wurde auf eine Polizeistation und<br />
dort von einem Mitarbeiter verhört, der<br />
sich ihm gegenüber zwar nicht als solcher<br />
auswies, den er aber der „Abteilung E“ zuordnete.<br />
Diese widmet sich offiziell der Extremismusbekämpfung.<br />
Aber jeder wisse,<br />
dass diese Oppositionelle im Visier habe, so<br />
Sverdlin. Offiziell wurde ihm erklärt, dass<br />
man prüfen müsse, ob sein Auto nicht gestohlen<br />
sei. Da half auch nicht, dass er versicherte,<br />
dass er den Pkw von seinem Vater<br />
und dieser ihn davor bei einem Autohändler<br />
erworben habe. Das Schild, das diese<br />
Verhaftung ausgelöst hatte, kam dagegen<br />
nicht zur Sprache.<br />
„Russland ist<br />
kein demokratischer<br />
Staat.<br />
Es ist nicht<br />
einmal ein<br />
Rechtsstaat.<br />
Die Polizei<br />
kann alles mit<br />
dir machen,<br />
und du kannst<br />
dich nicht<br />
wehren.“<br />
Grigory Sverdlin<br />
„So arbeitet eine Diktatur“, sagt Sverdlin.<br />
„Es ist so, wie es Hannah Arendt beschrieben<br />
hat. Russland ist kein demokratischer<br />
Staat. Es ist nicht einmal ein Rechtsstaat.<br />
Die Polizei kann alles mit dir machen, und<br />
du kannst dich nicht wehren.“ Der Wagen<br />
sei konfisziert und erst nach fünf Wochen,<br />
in denen er einen Anwalt konsultiert und<br />
schließlich bei einem anderen Polizeirevier<br />
Anzeige erstattet habe, dass ihm sein Auto<br />
von der Polizei gestohlen worden sei, zurückgegeben<br />
worden.<br />
Er nahm nun mit seinem täglichen Protest<br />
gegen den Krieg in der Ukraine eine<br />
neuerliche Verhaftung in Kauf. Rational sei<br />
das vielleicht keine gute Entscheidung gewesen,<br />
emotional habe er aber nicht anders<br />
können, sagt er nun. Mehrmals sah<br />
er, wie andere Demonstranten verhaftet<br />
und von der Polizei abtransportiert wurden,<br />
von ihm seien mehrmals die Personalien<br />
aufgenommen worden. Doch er wollte<br />
sein Team nicht im Stich lassen und dachte<br />
daher noch nicht an eine Ausreise, obwohl<br />
„Wir hoffen, dass<br />
sich ein Teil des inneren<br />
Kreises rund<br />
um Putin gegen<br />
Putin stellt.“<br />
Grigory Sverdlin<br />
ter ist inzwischen mit ihrem Partner und<br />
ihrer Tochter nach Tbilisi (Tiflis, die Hauptstadt<br />
von Georgien) geflüchtet –, von der<br />
Polizei aufgesucht zu werden. „Vielleicht<br />
klingt das wie Paranoia. Aber in Russland<br />
funktioniert das so. Die Polizei tauchte in<br />
der Vergangenheit immer wieder bei Familienmitgliedern<br />
von Oppositionellen auf.“<br />
Mit dem Auto fuhr Sverdlin an die<br />
Grenze zu Estland. Um Russland überhaupt<br />
verlassen zu können, hatte er sich von der<br />
jüdischen Gemeinde in Estland eine Einladung,<br />
dort einen Workshop zu halten, besorgt.<br />
Es gebe zwar keine offizielle Regelung,<br />
dass man Russland nicht verlassen<br />
dürfe. In der Realität sei es aber schwierig.<br />
Noch seien die Pandemieregeln in Kraft.<br />
Auszureisen, um Urlaub zu machen, sei<br />
nicht erlaubt. Wenn man aber nachweisen<br />
könne, dass es um einen Arbeitseinsatz<br />
oder medizinische Versorgung gehe,<br />
könne man die Grenze passieren.<br />
Auf der anderen Seite der Grenze wartete<br />
allerdings ein neues Hindernis: Als<br />
Russe braucht man ein Visum, nicht nur<br />
in Estland, sondern in vielen Staaten. Die<br />
Botschaften in Russland würden diese aber<br />
zurzeit oft nicht mehr ausstellen oder seien<br />
gar nicht mehr im Arbeitsmodus. Sverdlins<br />
Trumpf in dieser schwierigen Situation:<br />
sein israelischer Pass. Mit diesem reiste er<br />
in Estland ein, mit diesem ist er nun in Europa<br />
unterwegs. Seine Eltern haben inzwischen<br />
ebenfalls darum angesucht, Alija zu<br />
machen. Doch Israel hat derzeit alle Hände<br />
voll zu tun: zu den tausenden und abertausenden<br />
Ausreisegesuchen von ukrainischen<br />
Juden kommen nun auch solche<br />
von russischen Juden. Sie müssten mit einer<br />
Bearbeitungszeit von rund einem Jahr<br />
rechnen, ließ man Sverdlins Eltern wissen.<br />
Viele seiner Freunde seien inzwischen<br />
wie seine Schwester mit ihrer Familie in<br />
Tiflis gelandet, erzählt er. Dort gebe es für<br />
Russen zunächst einmal ein einjähriges<br />
Aufenthaltsrecht. Andere seien nach Armenien<br />
geflogen, die Flüge dorthin seien<br />
inzwischen konstant ausgebucht und die<br />
Preise entsprechend hoch. Wieder an-<br />
dies allseits bereits Thema war: „Wann immer<br />
man Freunde traf, in ein Café kam, waren<br />
Menschen am Weinen, viele sprachen<br />
über ihre Ausreisepläne, erzählten von anderen,<br />
die das Land bereits verlassen haben.<br />
Wir waren sehr deprimiert. Wir haben<br />
alle gespürt, dass das die größte Katastrophe<br />
unseres Lebens ist. Wir sind nun Bürgerinnen<br />
und Bürger eines faschistischen<br />
Landes, das ein anderes Land angegriffen<br />
hat und dort Menschen umbringt.“ Alle<br />
habe über Probleme berichtet, in der Nacht<br />
zu schlafen.<br />
Was Sverdlin auch wichtig ist zu sagen:<br />
dass das Gros der russischen Bevölkerung<br />
diesen Krieg unterstütze, sei Propaganda.<br />
Ja, über viele Jahre habe man nun in den<br />
Staatsmedien getrommelt, es handle sich<br />
bei der Ukraine um einen failed state und es<br />
gebe ein Nazi-Problem. Doch alle, die jünger<br />
als Mitte 40 seien, würden sich wie er<br />
schon lange nicht mehr in diesen Medien<br />
informieren. Diese Propaganda funktioniere<br />
daher nur bei Älteren. Gleichzeitig<br />
könne man aber von innen nicht viel tun,<br />
die Repressionen seien zu stark. Jeder, der<br />
auf der Straße protestiere, laufe Gefahr,<br />
verhaftet zu werden, wisse aber gleichzeitig,<br />
dass diese Demos nichts bewirken. Seit<br />
Kriegsbeginn seien bis Ende März bereits<br />
an die 15.000 Menschen verhaftet worden.<br />
„Das sind alles sehr tapfere Leute“, streicht<br />
Sverdlin hervor.<br />
An dem Tag, als Putin das neue Gesetz<br />
verkündete, mit dem die Verwendung des<br />
Wortes Krieg unter Strafe gestellt wurde,<br />
wusste er, dass nun auch für ihn die Zeit<br />
gekommen war zu gehen. „Ich wollte nicht<br />
schweigen. Aber ich wollte auch nicht meiner<br />
Organisation schaden. Und nun wäre<br />
ich sicher ins Gefängnis gegangen.“ Innerhalb<br />
von 24 Stunden verließ Sverdlin Russland.<br />
Er packte 20 Bücher, sein zusammenklappbares<br />
Rad, Dokumente, Kleidung in<br />
sein Auto, informierte sein engstes Team,<br />
sperrte seine kleine Eigentumswohnung ab<br />
und fuhr zu den Eltern, die inzwischen in<br />
einem Vorort von St. Petersburg leben, um<br />
sich zu verabschieden.<br />
Als er dort ankam, waren diese gerade<br />
dabei, Dokumente und Bargeld zusammenzusuchen,<br />
um es Freunden anzuvertrauen.<br />
Sie erwarten wegen der Ausreise<br />
ihrer beiden Kinder – Sverdlins Schwesdere<br />
hätte es nach Istanbul verschlagen.<br />
Er selbst will nun ebenfalls nach Georgien<br />
reisen. Davor versucht er im Zug einer<br />
Reise durch Europa wieder einen klaren<br />
Kopf zu bekommen. In Riga, Warschau,<br />
Prag ist er bereits gewesen. Überall trifft er<br />
Freunde, Bekannte, Kollegen. Gemeinsam<br />
denken sie nach, wie es möglich ist, Putin<br />
von außen unter Druck zu bringen. Insgesamt<br />
seien bereits mehr als eine viertel Million<br />
Russinnen und Russen seit Beginn des<br />
Kriegs in der Ukraine geflohen.<br />
Wiederaufbauprojekt organisieren. Gerne<br />
würde Sverdlin eines Tages wieder in seine<br />
Heimat St. Petersburg zurückkehren. Möglich<br />
werde das erst sein, wenn es das Regime<br />
Putin nicht mehr gebe. Wie bald das<br />
sein werde? Das könne in ein paar Wochen<br />
so weit sein – oder aber erst in zehn Jahren.<br />
Wie Putin gestoppt werden könnte? „Wir<br />
hoffen, dass sich ein Teil des inneren Kreises<br />
rund um Putin gegen Putin stellt.“ Sicher<br />
ist sich Sverdlin nur über eines: Putin<br />
seinerseits wird nicht aufgeben. Entweder<br />
er sterbe oder er werde umgebracht. Und<br />
selbst dann bedeute das nicht, dass in Russland<br />
sich alles zum Besseren wende. Eine<br />
Möglichkeit sei, dass Russland dann zerfalle<br />
und/oder Bürgerkrieg ausbreche.<br />
Die Sanktionen, die verhängt wurden,<br />
um Putin zu schwächen, findet Sverdlin<br />
gut. Aber natürlich würden das auch die<br />
Menschen im Land spüren: Die Preise<br />
seien im Steigen, viele Menschen hätten<br />
bereits ihren Arbeitsplatz verloren, manche<br />
Produkte – etwa Tierfutter, das oft aus<br />
dem Ausland importiert werde – seien<br />
nicht mehr verfügbar. Dass er seine russischen<br />
Bankkarten nun nicht verwenden<br />
könne, sei „ein unangenehmer Kollateralschaden“,<br />
aber ok. Er habe seine<br />
Ersparnisse von ein paar tausend Euro<br />
in Cash bei sich. 2021 habe er bereits angefangen,<br />
für andere NGOs in Russland,<br />
aber auch im Ausland, Workshops über<br />
das Management von karitativen Organisationen<br />
zu halten. Das wolle er nun fortführen<br />
und sich so finanziell über Wasser<br />
halten. In einer ferneren Zukunft sieht er<br />
sich in der Ukraine. Sobald der Krieg beendet<br />
ist, würde er dort gerne ein Wiederaufbauprojekt<br />
organisieren. Nachsatz: „Wenn<br />
man mich als Russen dort haben will.“<br />
14 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
15
Prosperierende Hafenstadt<br />
Abfolge von Pogromen<br />
Flucht ins Ungewisse: ein Mann<br />
am Zugfenster beim Abschied von<br />
seiner Familie, die Anfang März aufgrund<br />
des Ukraine-Krieges Odessa<br />
verlässt, jene Hafenstadt am<br />
Schwarzen Meer, die von jeher stark<br />
von jüdischer Kultur geprägt ist.<br />
Odessa: Stadt der Dichter,<br />
der Arbeiterbewegung<br />
und des Zionismus<br />
Aus der ehemals kosmopolitischen<br />
Stadt floh bereits<br />
die Hälfte der jüdischen<br />
Bevölkerung. Die Älteren<br />
und Kranken werden ein<br />
trauriges, entbehrungsreiches<br />
Pessachfest feiern können<br />
– ohne Auszug aus der<br />
„neuen Sklaverei“.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
* Die Internationale Gemeinschaft von Christen und Juden ist<br />
eine philanthropische Organisation, die 1983 von Yechiel Eckstein<br />
in Illinois (USA) gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, das Verständnis<br />
und die Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen zu fördern<br />
und eine breite Unterstützung für den Staat Israel zu leisten.<br />
Das jüngste Kind aus Odessa war<br />
bei seiner Flucht 37 Tage alt. Es<br />
wurde von seiner Mutter im<br />
Chabad-Waisenhaus der Stadt<br />
abgegeben, um seine Überlebenschance<br />
zu erhöhen: Die Eltern des Neugeborenen<br />
blieben in Odessa zurück, um ihrerseits die<br />
Großeltern zu versorgen. Das Baby absolvierte<br />
seine erste Reise, die unter normalen<br />
Umständen drei Stunden gedauert hätte,<br />
von sieben Uhr abends bis fünf Uhr früh.<br />
Gemeinsam mit weiteren hundert Kindern<br />
schaffte es die abenteuerliche und gefährliche<br />
Reise von Odessa ins rettende Chișinău,<br />
die Hauptstadt Moldawiens. In einer spontan<br />
organisierten Hilfsaktion wurden diese<br />
jüdischen Kinder aus der Stadt geschmuggelt:<br />
Mehr als 40 von ihnen hatten keinerlei<br />
Dokumente, die meisten nicht einmal<br />
eine Geburtsurkunde. Die örtliche Chabad-Organisation<br />
wurde bei der Planung<br />
und Durchführung von der IFCJ-International<br />
Fellowship of Christians and Jews tatkräftig<br />
unterstützt.* „Wir sind schon seit<br />
dreißig Jahren in der Ukraine aktiv, um Bedürftigen<br />
zu helfen“, erzählt Yael Eckstein,<br />
Tochter des Gründers und Mutter von vier<br />
Kindern. „Daher konnten wir schnell und<br />
effektiv Hilfe leisten.“ Auch der 16-jährige<br />
Sascha ist mitgefahren, aber mit schlechtem<br />
Gewissen: „Meine Mutter ist in Odessa<br />
geblieben, weil mein fünfjähriger Bruder<br />
krank und nicht transportfähig ist.“<br />
© BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com; BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com<br />
Von Chișinău traten die Geflüchteten<br />
eine 25-stündige Busreise nach Berlin an.<br />
Dort hat sie Rabbiner Jehuda Teichtal in<br />
Empfangen genommen: Er ist Gemeinderabbiner<br />
der Jüdischen Gemeinde zu Berlin<br />
und Vorsitzender des jüdischen Bildungszentrums<br />
Chabad. „Auch Chabad Wien hat<br />
sich gemeldet, um Kinder aufzunehmen“,<br />
erzählt Rabbi Mendy Wolf, der das Waisenhaus<br />
in Odessa leitet.<br />
Weitere 120 Kinder und Jugendliche<br />
aus der umkämpften Stadt erweckten<br />
den Badeort Neptun an der rumänischen<br />
Schwarzmeerküste kurzfristig aus seiner<br />
Lethargie, als sie gerade zu Purim dort eintrafen:<br />
Ihre Betreuer organisierten kurzfristig<br />
eine Feier, bevor es mit dem Flugzeug<br />
nach Israel ging. „Sie wissen nicht, was mit<br />
ihren Liebsten in der Heimat geschieht, sie<br />
haben so viel Schlimmes erlebt, wenigstens<br />
genießen sie ein paar schöne Stunden“,<br />
freut sich Alina Feoktistova, die zur Hilfsorganisation<br />
Tikva (Hoffnung) zählt, einem<br />
orthodox-jüdischen Projekt in Odessa, das<br />
sich um vulnerable Jugendliche kümmert.<br />
Aber wieso gab es allein in Odessa 250<br />
Waisenkinder, woher kommen die? Alina<br />
glaubt, dass die Medien diesen Überbegriff<br />
gewählt haben. „Wir kümmern uns hauptsächlich<br />
um Kinder, die aus sozial bedürftigen<br />
und psychisch-belasteten Familien<br />
stammen, die ihre Kinder selbst nicht adäquat<br />
versorgen können.“<br />
Die Hilfskräfte müssen sich auch verstärkt<br />
jungen Müttern mit Kleinkindern<br />
und vor allem Älteren widmen, darunter<br />
nicht wenige, die den Horror der Schoah in<br />
der Ukraine er- und überlebt haben. Über<br />
diese Gruppe berichtete kürzlich die Jüdische<br />
Allgemeine (Berlin), die mit dem Oberrabbiner<br />
der Ukraine, Yaakov Dov Bleich,<br />
telefonieren konnte. Gemeinsam mit hunderten<br />
Jüdinnen und Juden harrt er zurzeit<br />
in einem Ferienlager in der Nähe der Stadt<br />
Mukatschewo (Munkács) in der westukrainischen<br />
Oblast Transkarpatien unweit der<br />
ungarischen Grenze aus.<br />
Kosmopolitisches Odessa. Als strategisch<br />
wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer<br />
wurde Odessa 1794 gegründet. Katharina<br />
II. erlaubte die Ansiedlung von Russen,<br />
Ukrainern, Griechen und Juden, die<br />
vor allem als Geschäftsleute erfolgreich waren.<br />
Bereits vier Jahre später wurde eine<br />
Synagoge für die erste jüdische Gemeinde<br />
erbaut. Erste antisemitische Ausschreitungen,<br />
bei denen vierzehn Juden getötet<br />
wurden, sind mit 1821 datiert. Die Akteure<br />
waren vor allem Griechen: Sie dominier-<br />
„Wir kümmern uns<br />
hauptsächlich um<br />
Kinder, die aus<br />
sozial bedürftigen<br />
und psychisch belasteten<br />
Familien<br />
stammen, die ihre<br />
Kinder selbst nicht<br />
adäquat versorgen<br />
können.“<br />
Alina Feoktistova,<br />
Hilfsorganisation Tikva<br />
ten in dieser Zeit den Handel und die Verwaltung<br />
der Hafenstadt. Die Hintergründe<br />
lagen in der ökonomischen Rivalität zwischen<br />
den beiden Gruppen. Außerdem<br />
beschuldigten die Griechen die jüdische<br />
Bevölkerung, in ihrem Unabhängigkeitskampf<br />
auf Seiten der osmanischen Herrschaft<br />
zu stehen. Trotz alldem galt Odessa<br />
innerhalb des russischen Imperiums immer<br />
schon als besonders kosmopolitisch.<br />
„Ich habe Moldawien hinter mir gelassen<br />
und bin in Europa angekommen“, schrieb<br />
Puschkin, als er 1823 an seinem neuen Verbannungsort<br />
eintraf.<br />
Ein jüdischer Gläubiger beim Gebet in der Chabad-Synagoge<br />
in der ukrainischen Hafenstadt Odessa 14 Tage nach Kriegsbeginn.<br />
Dessen ungeachtet wurde 1826 eine jüdische<br />
Schule eröffnet und 1840 ein jiddisches<br />
Theater. Die repräsentative Hauptsynagoge<br />
Or Sameach konnte schließlich<br />
1860 eingeweiht werden. Sie wurde ab 1923<br />
ein Museum, danach als Musiktheater und<br />
Sporthalle genutzt, erst 1996 erfolgte die<br />
Rückgabe an die jüdische Gemeinde. Von<br />
1863 bis 1868 entstand die Brodsky-Synagoge<br />
in Odessa, die von jüdischen Einwanderern<br />
aus dem galizischen Brody gebaut<br />
wurde. Sie gehörte zu den ersten Choral-<br />
Synagogen im russischen Kaiserreich und<br />
war damals das größte Bethaus in dessen<br />
Süden.<br />
1859 kam es erneut zu einem Pogrom<br />
gegen Juden, dennoch entwickelte sich<br />
Odessa zu einem der wichtigsten Zentren<br />
der jüdischen Publizistik, der Literatur und<br />
des Theaters. Von 1860 leitete Alexander<br />
Zederbaum die erste hebräischsprachige<br />
Zeitung in Russland, Ha-Melitz, die bis 1903<br />
existierte. 1862 erschien Kol Mewasser als<br />
Beilage als erste jiddische Zeitung in Russland.<br />
Abraham Goldfaden, Komponist,<br />
Volksdichter und Begründer des modernen<br />
jiddischen Theaters, arbeitete nach 1866 als<br />
Lehrer in der Stadt und veröffentlichte dort<br />
frühe Prosa. Zwölf Jahre später kamen verschiedene<br />
Akteure des jiddischen Theaters<br />
aus Rumänien nach Odessa, darunter Größen<br />
wie Nachum Schaikewitsch mit seinen<br />
Schauergeschichten oder Ossip Lerner, der<br />
ab 1881 mit einer eigenen Theatertruppe<br />
16 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
17
Nationale Identität<br />
Holocaust by bullet<br />
STEPAN BANDERA:<br />
ein zweifelhaftes Vorbild<br />
Stepan Bandera (1909– 1959) war ein führender<br />
Kopf der ukrainischen nationalistischen Bewegung,<br />
der Organisation Ukrainischer Nationalisten<br />
(OUN), in den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren<br />
des 20. Jahrhunderts, der radikale Aktionen<br />
für die Lösung der Frage der ukrainischen Unabhängigkeit<br />
befürwortete. Bereits als junger Mann<br />
organisierte Bandera mehrere Terroranschläge,<br />
der bekannteste davon war die Ermordung des<br />
polnischen Innenministers Bronisław Pieracki<br />
am 15. Juni 1934. Bandera wurde zu lebenslanger<br />
Haft verurteilt, kam jedoch mit Ausbruch des<br />
Zweiten Weltkrieges wieder frei. Im Februar 1940<br />
stellte er sich an die Spitze des „revolutionären<br />
Flügels“ der OUN, der später nach seinem Anführer<br />
als „Bandera-Flügel“ bezeichnet wurde. Bandera<br />
war ein radikaler Nationalist, der sich mit Hitler<br />
verbündete. Sein Kampf für eine unabhängige<br />
Ukraine war auch ein Kampf gegen Juden, Polen<br />
und Russen. Nach dem missglückten Versuch,<br />
in Lemberg einen ukrainischen Staat auszurufen,<br />
wurde er am 30. Juni 1941 verhaftet und bis Dezember<br />
1944 im KZ Sachsenhausen gefangen gehalten.<br />
Für seine Anhänger dient diese Zeit als Beweis,<br />
dass er vor allem Freiheitskämpfer und kein<br />
Nazi-Kollaborateur war. Doch Bandera kam nicht<br />
in eine normale KZ-Baracke, sondern in den Zellenbau<br />
für Sonderhäftlinge, denn die Nazis hielten<br />
ihn weiterhin für nützlich. Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg floh Bandera nach Deutschland und<br />
wurde in der Sowjetunion in Abwesenheit zum<br />
Tode verurteilt. 1959 wurde er in München von einem<br />
KGB-Agenten ermordet.<br />
Der Mythos Bandera ist in der heutigen Ukraine<br />
vor allem ein politisches Instrument: Der „Freiheitskämpfer“<br />
Bandera soll dem kulturell geteilten<br />
Land eine Identität geben. 2014 prangte sein<br />
Bild nahe der großen Bühne auf dem Maidan. Für<br />
den schwedischen Historiker Per Anders Rudling<br />
ist das Bandera-Bild in der Ukraine verklärt: „Nach<br />
meiner Bewertung und der von den meisten Forschern<br />
kann man Bandera und seine Bewegung<br />
durchaus als eine faschistische bezeichnen, die<br />
stark am Holocaust beteiligt war“, erläutert Rudling.<br />
Die erste wissenschaftliche Biografie, die sich<br />
mit dem Mythos und Kult des ukrainisch-faschistischen<br />
Politikers und der Geschichte seiner Bewegung<br />
auseinandersetzt, schrieb der junge polnische<br />
Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe. Er<br />
war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung<br />
Denkmal für die ermordeten Juden Europas und<br />
des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-<br />
Studien. An der Berliner Universität arbeitete er in<br />
einem Postdoc-Projekt über die Erinnerung der<br />
ukrainischen Diaspora an den Holocaust.<br />
jiddische Stücke im Mariinskij-Theater in<br />
Odessa aufführte. Auch Mendele Moicher<br />
Sforim, der Meister der neujiddischen Literatur<br />
und der geschliffenen Prosa, lebte<br />
und publizierte hier. Er gilt als „Großvater“<br />
dieser Literatur, weil er vor Scholem Alejchem,<br />
der sich stets als Mendeles „Enkel“<br />
bezeichnet hat, und Jitzchok Leib Perez der<br />
älteste der sogenannten drei Klassiker der<br />
jiddischen Literatur war.<br />
1894 wurde Isaak Babel als Sohn eines<br />
jüdischen Kaufmanns in der Moldawanka,<br />
Odessas Armen- und Judenviertel,<br />
geboren. Er zog nach Abschluss seines<br />
Studiums nach Petersburg, wo er die Bekanntschaft<br />
des russischen Schriftstellers<br />
Maxim Gorki machte. Dieser förderte ihn<br />
und rettete ihn mehrmals vor der Zensur.<br />
Zwischen 1921 und 1924 entstand Babels<br />
Erzählzyklus Geschichten aus Odessa, mit<br />
dem er der Stadt ein Denkmal setzte.<br />
Babel, der auch der „beste Erzähler<br />
nach Puschkin“ genannt wird, hat die jüdischen<br />
Mafiosi der Moldawanka spöttisch<br />
und mit weisem Humor beschrieben.<br />
Seine Geschichten drehen sich um<br />
jüdische Hochzeiten, um Diebesgut aus<br />
Übersee oder um jüdische Großmütter.<br />
Am 15. Mai 1939 wurde Isaak Babel in seiner<br />
Datscha im Dorf Peredelkino verhaftet<br />
und im politischen Gefängnis Lubjanka in<br />
Moskau inhaftiert. Der NKWD, das Volkskommissariat<br />
für innere Angelegenheiten,<br />
beschuldigt ihn für den Westen spioniert<br />
zu haben. Im Zuge der Stalin’schen Massenmorde<br />
wurde Babel am 16. Januar 1940<br />
verurteilt und bald darauf im Gefängnis<br />
Butyrka erschossen.<br />
Auswanderer und Zionisten. Nach den blutigen<br />
Massakern von 1881 wurden zwei<br />
Jahre später jiddische Theateraufführungen<br />
im Russischen Reich verboten. Damit<br />
begann eine Auswanderungswelle fast al-<br />
Als strategisch<br />
wichtige Hafenstadt<br />
am Schwarzen Meer<br />
wurde Odessa 1794<br />
gegründet. Katharina<br />
II. erlaubte die<br />
Ansiedlung von<br />
Russen, Ukrainern,<br />
Griechen und Juden …<br />
ler jiddischer Schauspieler und Autoren<br />
nach Westeuropa und in die USA.<br />
Der 1880 in Odessa geborene Zionist<br />
und Schriftsteller Zeev Jabotinsky reagierte<br />
bitter: „Von Pogromen bleiben<br />
Eimer voller Blut und Pfunde<br />
menschlichen Fleisches, aber eine<br />
Lehre für das jüdische Bewusstsein, die<br />
sie auf die Ebene einer Tragödie erheben<br />
würde, lässt sich nicht aus ihnen ziehen<br />
[…]. Es gibt keine Rettung.“ Diese negative<br />
Sicht begründet er auch mit dem Mangel<br />
an Bildung im damaligen Russland. Ein<br />
durchschnittlicher Russe lese die in einfacher<br />
Sprache gehaltenen antisemitischen<br />
Pamphlete, die damals überall im<br />
Umlauf waren, ebenso gerne wie simpel<br />
gestrickte Revolutionsliteratur. Für andere<br />
Schriften interessiere sich kaum einer. Jabotinsky<br />
blieb Odessa zeit seines Lebens<br />
verbunden und veröffentlichte 1936 mit<br />
den Roman Die Fünf sogar eine Art Buddenbrooks-Familiensaga.<br />
Infolge der wiederholten Pogrome entstand<br />
die zionistische Bewegung in Ostmitteleuropa,<br />
deren Ziel die Auswanderung<br />
Marsch der Ehre, Würde<br />
und Freiheit in Kiew<br />
am 1. Jänner 2020 zum 111.<br />
Jahrestag der Geburt des<br />
ukrainischen Politikers Stepan<br />
Bandera (1909–1959),<br />
einem der Führer der<br />
ukrainischen Nationalbewegung<br />
und Vorsitzenden<br />
der Organisation Ukrainischer<br />
Nationalisten (OUN).<br />
© Henning Langenheim / akg-images / picturedesk.com; Sergei Supinsky / AFP / picturedesk.com<br />
Schoah in der Ukraine<br />
Gedenkstein am Chworosti-Platz<br />
in Odessa, dem Sammelplatz für<br />
16.000 Juden, die im Oktober 1941 auf der<br />
Kolchose Dalnik ermordet wurden.<br />
Millionen Juden von insgesamt fast<br />
1,5 drei Millionen, die vor dem Zweiten<br />
Weltkrieg in der Ukraine lebten, wurden ermordet.<br />
Unmittelbar nachdem deutsche<br />
Truppen im Sommer 1941 große Teile der<br />
Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />
(USSR) besetzt hatten, begannen im rückwärtigen<br />
Heeresgebiet Einsatzgruppen sowie<br />
lokale Miliz- und Polizeieinheiten mit der<br />
Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Ungefähr<br />
900.000 Juden, die überwiegend in<br />
der Ostukraine gelebt hatten, konnten sich<br />
noch rechtzeitig dem überstürzten Rückzug<br />
der Roten Armee anschließen. Vincent Hoyer,<br />
Historiker an der Universität Augsburg,<br />
recherchierte, dass rund 100.000 Juden die<br />
Besatzung der Ukraine in Verstecken überlebten.<br />
Daher nimmt die Ukraine auf der<br />
Yad-Vashem-Liste der als Gerechte unter<br />
den Völkern als Judenretter Ausgezeichneten<br />
den vierten Platz ein. Auf der Jerusalemer<br />
Liste befinden sich ungefähr 30.000<br />
Namen von Geretteten.<br />
Ein großer Teil der ukrainischen Juden<br />
lebte zu Kriegsbeginn in der heutigen<br />
Westukraine. Das erste größere Pogrom<br />
fand bereits im Sommer 1941 mit geschätzten<br />
5.000 ermordeten Juden in Lemberg<br />
statt – wobei in vielen Städten in der Westukraine<br />
Juden ermordet wurden, ohne auf<br />
eine explizite Anordnung der deutschen Besatzer<br />
zu warten. Die Schoah überlebten<br />
nur diejenigen, die in den Osten der Sowjetunion,<br />
nach Zentralasien oder Sibirien geflüchtet<br />
waren oder die den Krieg als Soldaten<br />
der Roten Armee überlebten – und so<br />
auch einen wichtigen Beitrag dazu leisteten,<br />
die Ukrainer, Russen, Polen und Weißrussen<br />
gegen das Hitler-Regime zu verteidigen.<br />
Nach dem Einmarsch der SS und der Sicherheitspolizei<br />
erfolgte eine planmäßige<br />
Tötung mit ukrainischer Beteiligung, und<br />
zwar der berüchtigten Hilfspolizei. Diese<br />
wurde von Heinrich Himmler Mitte August<br />
1941 als Einheit der Militärpolizei auf dem<br />
Gebiet des polnischen Generalgouvernements<br />
gegründet: Die Streitkräfte bestanden<br />
größtenteils aus ehemaligen Mitgliedern<br />
der ukrainischen Volksmiliz, die im Juni<br />
aus der Organisation Ukrainischer Nationalisten<br />
(OUN) entstanden war (siehe auch den<br />
Kasten zu Stepan Bandera). Es gab zwei ukrainische<br />
bewaffnete Organisationen unter<br />
deutscher Kontrolle: Die erste umfasste<br />
mobile Polizeieinheiten, die am häufigsten<br />
als Schutzmannschaft bezeichnet wurden<br />
und die Aufgabe hatten, den Widerstand in<br />
den meisten Teilen der Ukraine zu bekämpfen<br />
und die Massenmorde an Juden zu unterstützen.<br />
Holocaust by bullet nennen die Nachkriegshistoriker<br />
jene Massenerschießungen,<br />
die von deutschen wie ukrainischen<br />
Polizeieinheiten meist etwas außerhalb<br />
von größeren Städten durchgeführt wurden.<br />
Diese „Aktionen“ wurden kaum vertuscht,<br />
Anwohner und Soldaten schauten<br />
dabei zu. Den Inbegriff dieses Holocaust by<br />
bullet stellt der Ort Babij Jar bei Kiew dar, wo<br />
etwa 40.000 Juden in Gruben geschossen<br />
wurden.<br />
Die sowjetische Herrschaft wurde von<br />
der ukrainischen Bevölkerung zunehmend<br />
als Belastung empfunden. Mehr als 30.000<br />
Ukrainer, die antisowjetisch eingestellt waren,<br />
flüchteten in die von den Deutschen<br />
besetzten Gebiete. In den übrigen Teilen<br />
des Landes hoffte die ukrainische Bevölkerung,<br />
auch aufgrund des Bürgerkriegs und<br />
darauf folgenden stalinistischen Terrors, auf<br />
eine Besserung der Situation und Befreiung<br />
von der sowjetischen Herrschaft bzw. der<br />
polnischen Bevormundung. Dies führte zu<br />
grundlegender Sympathie gegenüber dem<br />
Deutschen Reich. Schätzungen zufolge partizipierten<br />
30.000 bis 40.000 Ukrainer am<br />
Holocaust. Maßgeblich spielten hier politisch-ideologischer<br />
Opportunismus sowie<br />
das Feindbild des ‚jüdischen Bolschewismus‘<br />
eine Rolle.<br />
Meist standen die Kollaborateure unter<br />
deutschem Befehl: Im KZ Trawniki wurden<br />
angeworbene, oftmals ukrainische Kriegsgefangene<br />
zu KZ-Wachmannschaften ausgebildet.<br />
Diese kamen unter anderen in den<br />
Vernichtungslagern Treblinka, Belzec und<br />
Sobibor zum Einsatz.<br />
18 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
19
Zionistisch-sozialistische Bewegung<br />
der Juden nach Palästina war. 1884 wurde<br />
Odessa Sitz von Chibbat Zion (Zionsliebe)<br />
in Russland. Wichtige Mitglieder der Zionsfreunde<br />
(Chovevei Zion) waren Leo Pinsker<br />
und Mosche L. Lilienblum. Bereits 1890<br />
wurde die Gesellschaft zur Unterstützung<br />
jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien<br />
und Palästina (Odessa-Komitee) gegründet.<br />
1902 wurde in Odessa einer der<br />
ersten Ortsverbände der zionistisch-sozialistischen<br />
Bewegung Poale Zion gegründet,<br />
aus deren Mitgliedern entstand 1904<br />
die Zionistische Sozialistische Arbeiterpartei.<br />
Auch Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister<br />
von Tel Aviv (1921–1936), lebte einige<br />
Jahre in Odessa.<br />
Der russische Zensus 1897 ergab einen<br />
jüdischen Bevölkerungsanteil von 30,83<br />
Prozent in Odessa, was rund 125.000 Personen<br />
entsprach. Somit zählten die Juden<br />
zur zweitgrößten Bevölkerungsgruppe<br />
der Stadt, nach den Russen mit 49,09 Prozent<br />
und vor den Ukrainern mit 9,39 Prozent.<br />
1905 kam es erneut zu schweren Ausschreitungen<br />
gegen Juden. Nach 1919 schuf<br />
die sowjetische Macht neue Möglichkeiten<br />
für jüdisches Leben, so bevölkerten rund<br />
200.000 Juden die Stadt bis 1939.<br />
Ab 1941 wüteten die deutsche Wehrmacht<br />
sowie ihre ukrainischen Hilfskräfte<br />
(siehe Kasten dazu) in der Stadt und massak-<br />
„Vor dem Angriffskrieg<br />
der Russen am<br />
24. Februar 2022<br />
lebten unserem<br />
Wissen nach 45.000<br />
Juden in Odessa.“<br />
Rabbi Mendy Wolf<br />
rierten zehntausende jüdische Menschen.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg erholte sich<br />
die jüdische Gemeinde Odessas wieder.<br />
Ab den 1970er-Jahren begann eine starke<br />
jüdische Auswanderung aus der Sowjetunion<br />
in Richtung Israel, USA und Westeuropa.<br />
Trotz restriktiver Maßnahmen der<br />
Sowjetunion, um die Migrationswelle zu<br />
verhindern, sank der Anteil der jüdischen<br />
Bevölkerung über die Jahre konstant. 1989<br />
lebten in Odessa noch knapp 66.000 Juden,<br />
was 5,9 Prozent der Stadtbevölkerung<br />
ausmachte. Bei der Volkszählung von 2001<br />
gaben nur mehr 12.500 Menschen an, jüdisch<br />
zu sein – denn noch aus Sowjetzeiten<br />
stammt das Unbehagen, sich öffentlich<br />
zum Judentum zu deklarieren. Daraus resultiert<br />
auch meist die Diskrepanz zwischen<br />
der Zahl aus der Volkszählung und inoffiziellen<br />
Hochrechnungen.<br />
„Vor dem Angriffskrieg der Russen am<br />
24. Februar 2022 lebten unserem Wissen<br />
nach 45.000 Juden in Odessa“, erzählt Rabbi<br />
Mendy Wolf, der tapfer in der Stadt aushält.<br />
„Mehr als die Hälfte sind bereits in Sicherheit<br />
– und leben jetzt als Flüchtlinge. Aber<br />
wir bleiben hier und gehen nicht fort, bis<br />
der letzte Jude gerettet ist!“<br />
Die missionarische Bewegung von Chabad,<br />
die Menschen jüdischer Abstammung<br />
wieder zum Glauben und zur Ausübung<br />
der Religion motivieren will, ist an insgesamt<br />
35 Orten in der gesamten Ukraine<br />
mit rabbinischem Personal vertreten. Der<br />
sagenumworbene Gründer dieser chassidischen<br />
Gruppierung innerhalb des orthodoxen<br />
Judentums, war „der Rebbe“,<br />
Menachem Mendel Schneerson, der 1902<br />
in Mykolajiw geboren wurde, 100 Kilometer<br />
östlich von Odessa und 60 Kilometer<br />
westlich vom eingenommenen Cherson.<br />
Viele der Chabad-Zentren wurden in den<br />
letzten Wochen zur Zuflucht für Juden, die<br />
nicht nur medizinische, sondern auch alltägliche<br />
Hilfe benötigen: „Viele der Menschen<br />
leiden an Hunger und Kälte. Wir<br />
versorgen sie mit warmen Essen und ebensolchen<br />
Schlafplätzen“, berichtet Rabbi<br />
Wolf. „Aber bald fehlt es uns selbst am<br />
Nötigsten, nämlich an Wasser und Mehl.“<br />
Pessach 2022.<br />
MITARBEITERIN/MITARBEITER (W/M/D) IM BEREICH<br />
PROJEKT- UND EVENTMANAGEMENT KULTUR<br />
IHRE AUFGABEN:<br />
• Mitarbeit im Auf- und Ausbau von Events,<br />
kulturellen Veranstaltungsformaten sowie<br />
digitalen Projekten mit kulturellem Bezug<br />
(Podcast, Lifestylevideos etc.)<br />
• Redaktionelle und gestalterische Betreuung<br />
unserer Social-Media-Kanäle (Facebook,<br />
Instagram, YouTube)<br />
• Allgemeine administrative Tätigkeiten und<br />
Unterstützung im Backoffice<br />
IHR PROFIL:<br />
• Erfahrung in der Planung, Koordination<br />
und Durchführung von Projekten und<br />
Veranstaltungen<br />
• Ausbildung oder einschlägige Berufserfahrung<br />
im Bereich Werbung/Marketing/<br />
Kommunikation oder in der Eventbranche<br />
bzw. im Kultursektor<br />
• Interesse an jüdischer Kultur<br />
• Affinität zu Social Media<br />
• Strukturierte,<br />
20 wına |<br />
eigenverantwortliche<br />
April 2022<br />
und<br />
lösungsorientierte Arbeitsweise bei<br />
gleichzeitig ausgeprägter Teamfähigkeit<br />
• Hohes Maß an Engagement, Flexibilität und<br />
Stressresistenz mit Hands-on-Mentalität<br />
• Positive, kreative, kommunikative,<br />
zuverlässige und empathische Persönlichkeit<br />
• Sehr gute MS-Office-Kenntnisse sowie<br />
Deutsch- und Englisch-Kenntnisse<br />
in Wort und Schrift<br />
WIR BIETEN:<br />
Wir bieten eine abwechslungsreiche und anspruchsvolle<br />
Tätigkeit in einem Team, in dem<br />
gegenseitige Wertschätzung großgeschrieben<br />
und ein hohes Maß an Eigeninitiative gewünscht<br />
wird.<br />
Bewerbung:<br />
bewerbung@ikg-wien.at<br />
Information:<br />
www.ikg-wien.at/kultur<br />
WIR<br />
SUCHEN<br />
SIE!<br />
Die Israelitische Kultusgemeinde<br />
Wien sucht für die Abteilung<br />
„Jugend und Kultur“<br />
Unterstützung im Bereich<br />
Projekt- und Eventmanagement<br />
(w/m/d) mit Schwerpunkt auf<br />
jüdischer Kultur.<br />
Vollzeit (38,5 Wochenstunden).<br />
Monatliches Bruttogehalt<br />
ab 2300,- Euro.<br />
Beginn sobald wie möglich!
Wort-Rap mit Chuzpe<br />
HIGHLIGHTS | 02<br />
Podcasting ist das neue Radiohören – jederzeit und überall<br />
abrufbar und anhörbar. Avia Seeliger hat mit Chuzpe einen<br />
Hör-Ort gestaltet, an dem sie sich mit ihren Gästen aus Kunst und<br />
Kultur intensiv in ein Thema eintauchen kann. Diesmal sprach sie<br />
mit dem Fotografen Daniel Shaked, der mit seinen beeindruckenden<br />
Porträts, aber auch mit seiner unvergleichlichen Ruhe seit<br />
vielen Jahren eine ganz besondere WINA-Atmosphäre schafft.<br />
WWW.TIPP<br />
The Message<br />
Mittlerweile seit 25 Jahren beleuchtet die<br />
Hip Hop-Plattform „The Message“ die<br />
heimische und internationale Szene und<br />
blieb all die Jahre ein singuläres Phänomen.<br />
Zuerst als kleines Fanzine, später<br />
hochglanz und in Farbe, mittlerweile<br />
als stets aktueller Blog im weltweiten<br />
Netz. Und wenn man glaubt, Hip Hop<br />
liegt einem nicht, so wird man dennochsehr<br />
schnell von der ästhetischen Aufmachung<br />
und den weit über die Grenezen<br />
der Hip-Hop-Szene hinausgreifenden<br />
Themen überrascht und mitrgerissen.<br />
themessagemagazine.at<br />
Chuzpe ist für mich ... wenn man denkt,<br />
dass Fotos, weil sie im Internet zu sehen sind,<br />
auch zur freien Verwendung und Benützung<br />
stehen. Kunst ist für mich ... so zu sein<br />
wie man ist. Erfolg ist für mich ... die Frei-<br />
heit das machen zu können, was ich möchte.<br />
Judentum ist für mich ... ein Teil meiner<br />
Identität. Aber jemanden darauf zu reduzie-<br />
ren wäre fahrlässig. Wien ist für mich ...<br />
trotz all der Grantler und Nörgler die beste<br />
und gemütlichste Stadt der Welt. Nur der<br />
Strand fehlt uns noch. Aber das wäre dann<br />
wohl doch vielleicht zu gut. Die Corona-<br />
Pandemie ist für mich ... ein großer und<br />
schwerer Einschnitt – sowohl persönlich, beruf-<br />
lich als auch gesellschaftlich.<br />
Daniel Shaked 1978 in Teheran geboren<br />
– „reiner Zufall, meine Eltern haben damals<br />
dort gearbeitet“, Aufgewachsen in Wien,<br />
gründete 1997 der damals 17-jähriger The<br />
Message – das bis heute einzige Hip-Hop-Magazin<br />
Österreichs. Er begann mehrere Stu-<br />
dien, fand aber, dass man an der Uni doch<br />
„zu weit weg von der Realität“ sei. Seit 2007<br />
ist er hauptberuflich als freier Fotograf für<br />
nationale und internationale Kunden tätig.<br />
Bekannt ist er als Porträt- und Modefotograf<br />
mit einer großen Leidenschaft für schwarz-<br />
weiße Analog-Fotografie. Shaked arbeitet<br />
und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern<br />
in Wien.<br />
Chuzpe – jung und ir-<br />
gendwie jüdisch mit Avia<br />
Seeliger und ihren Gästen<br />
gibt es in voller Länge u. a.<br />
auf ikg-wien.at.<br />
© xxx<br />
wına-magazin.at<br />
21
Aus der Täterperspekive<br />
INTERVIEW MIT DEBORAH HARTMANN<br />
Über Erwartungshaltungen<br />
und Grenzen des Leistbaren<br />
Die Wienerin Deborah Hartmann leitet seit Ende<br />
2020 die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-<br />
Konferenz. WINA sprach mit ihr über Authentizität an solchen<br />
Orten, über das, was eine solche Stätte leisten kann<br />
und was nicht. In Richtung Politik formuliert Hartmann<br />
dabei ganz klar: Gegenwartsbezüge müssen sich auch aus<br />
der spezifischen Geschichte herleiten. Interview: Alexia Weiss<br />
DEBORAH HARTMANN,<br />
geb. 1984 in Wien, Matura an der<br />
Zwi-Perez-Chajes-Schule, anschließend<br />
Studium der Politikwissenschaft. Ab 2007<br />
Mitarbeiterin der International School for<br />
Holocaust Studies Yad Vashem in Jerusalem,<br />
ab 2015 Leitung der deutschsprachigen<br />
Bildungsabteilung in Yad Vashem.<br />
Seit 2017 Mitglied im wissenschaftlichen<br />
Beitrat der KZ-Gedenkstätte Mauthausen,<br />
seit Dezember 2020 leitet sie die<br />
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der<br />
Wannsee-Konferenz. In ihren verschiedenen<br />
Arbeitskontexten beschäftigt sie sich<br />
vor allem mit multiperspektivischen und<br />
transnationalen Ansätzen zur Vermittlung<br />
der Geschichte des Holocaust. Hartmann<br />
lebt mit ihrer Familie in Berlin.<br />
WINA: Der Film Die Wannseekonferenz von Regisseur Matti<br />
Geschonnek mit Philipp Hochmair als Reinhard Heydrich<br />
wurde diesen Jänner rund um den Internationalen Holocaust-<br />
Gedenktag von mehreren deutschsprachigen Fernsehsendern<br />
ausgestrahlt und hat für viel Diskussion, aber auch Bewusstsein<br />
für diese folgenreiche Besprechung am 20. Jänner 1942<br />
gesorgt. Wie authentisch ist das im Film Dargestellte?<br />
Deborah Hartmann: Das Protokoll, wie wir es kennen,<br />
ist kein Wortprotokoll. Wir wissen nicht einmal,<br />
ob die Besprechung überhaupt im so genannten<br />
Konferenzraum in der Ausstellung stattgefunden<br />
hat – wir vermuten es. Deshalb war es für die Kuratoren<br />
auch so wichtig, den Konferenztisch aus der Ausstellung<br />
zu entfernen, um diese Erwartungshaltung<br />
zu durchbrechen und nicht zu suggerieren, genauso<br />
ist es gewesen.<br />
Der Regisseur versucht anhand der Wannsee-Konferenz<br />
etwas über den Holocaust zu erzählen. Insofern<br />
muss man den Film als künstlerische Interpretation<br />
sehen und nicht als Versuch einer authentischen<br />
Nacherzählung. Als Gedenk- und Bildungsstätte wollen<br />
wir aber ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der<br />
Film versucht, etwas darzustellen, von dem man nicht<br />
zu 100 Prozent weiß, wie es sich ereignet hat. Ja, es gibt<br />
ein Protokoll, aber wir müssen uns fragen, was kann<br />
das Protokoll erzählen und wovon erzählt es nicht.<br />
„[…] ein Bewusstsein<br />
dafür<br />
schaffen,<br />
dass der Film<br />
versucht, etwas<br />
darzustellen,<br />
von dem<br />
man nicht zu<br />
100 Prozent<br />
weiß, wie es<br />
sich ereignet<br />
hat.“ Deborah<br />
Hartmann<br />
Sie leiten die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-<br />
Konferenz, als die die Villa am Wannsee heute fungiert. Was<br />
erfahren Besucherinnen und Besucher heute an dem Ort über<br />
diesen 20. Jänner 1942?<br />
I Sie erfahren etwas über den Ort selbst, über die Vorgeschichte.<br />
Sie erfahren etwas über den 20. Jänner,<br />
wer trifft sich, zu welchem Zweck, was sind die Ziele<br />
der Besprechung? Es ging darum, dass sich Heydrich<br />
seine Vormachtstellung sichern wollte; er war verantwortlich<br />
für die Lösung der so genannten „Judenfrage“.<br />
Es ging um die Frage der Koordination und<br />
Kooperation des Staatsapparats. Und worüber wurde<br />
gesprochen? Es ging um Massenmord, das wurde offen<br />
besprochen und war kein Geheimnis.<br />
Die Ausstellung setzt sich aber auch mit der Nachgeschichte,<br />
der Nachkriegsgesellschaft und den Kontinuitäten<br />
nach 1945 auseinander. Was ist beispielsweise<br />
mit den 15 Männern, die an der Besprechung<br />
teilnahmen, passiert oder nicht passiert? Und wie<br />
spiegelt sich die fehlende Konfrontation mit den eigenen<br />
Verbrechen im Umgang mit dem Haus wider?<br />
In den 1960er-Jahren hat sich Joseph Wulf bemüht,<br />
hier ein internationales Dokumentationszentrum<br />
zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner<br />
Folgeerscheinungen zu etablieren. Wulf war Auschwitz-Überlebender,<br />
er war Mitglied der jüdisch-historischen<br />
Kommission in Polen, und er gilt als einer<br />
der Pioniere der Holocaustforschung, wurde aber von<br />
deutschen Historikern mit dem Argument abgelehnt,<br />
seine Perspektive sei zu subjektiv. Wulf hatte auch<br />
viele Unterstützer, aber bis Ende der 1980er-Jahre war<br />
hier ein Landschulheim und erst in den 1990er-Jahren<br />
wurde die Gedenk- und Bildungsstätte gegründet.<br />
Es geht uns um diesen Kampf, aus der Zivilgesellschaft<br />
heraus an ein Verbrechen zu erinnern.<br />
Im Anne Frank Haus in Amsterdam kann man die Räume im<br />
Hinterhaus besichtigen, in denen sich das Mädchen mit seiner<br />
Familie und einer weiteren Familie in der NS-Zeit versteckt<br />
hielt. Dabei wird versucht, einen möglichst originalen Zustand<br />
zu zeigen. Ist es wichtig, an solchen Orten ein Setting herzustellen,<br />
das dem von damals möglichst gleicht oder sogar so<br />
ist wie damals? Und wie handhaben Sie das in dieser Villa?<br />
I Das Haus wurde nach dem Krieg vielfach genutzt,<br />
entspricht also nicht mehr dem Zustand von 1942. Bis<br />
1952 war darin das SPD-nahe August-Bebel-Institut<br />
untergebracht. Dann wurde es ein Landschulheim.<br />
© Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.<br />
Es gäbe viel zu wenige Artefakte, um das Haus in den<br />
Originalzustand zu versetzen. Wir arbeiten daher mit<br />
dem, was es noch gibt. Es gibt die Decke, den Stuck,<br />
aber keine Originalmöbel, und es gibt auch so gut wie<br />
keine Fotos, wie das Gästehaus der SS ausgesehen hat.<br />
Auch der Konferenztisch in der alten Ausstellung<br />
war kein Original. Die Präsentation der Protokollseiten<br />
war eine Inszenierung. Es kommen aber durchaus<br />
Besucher:innen, die vor allem den Tisch sehen wollen.<br />
Und es finden sich Gästebucheinträge mit der Frage,<br />
warum der Tisch entfernt wurde.<br />
Es ist eine spannende Frage, welche Erwartungshaltungen<br />
es gibt und welche Erwartungshaltungen<br />
man bedienen will oder auch nicht. Wahrscheinlich<br />
muss das von Erinnerungsort zu Erinnerungsort anders<br />
entschieden werden. Im Anne Frank Haus wird<br />
aus der Betroffenenperspektive erinnert. Das ist doch<br />
etwas anders, als wenn man sich mit der Täterperspektive<br />
auseinandersetzt. Warum muss ich den Tisch<br />
reinszenieren, um mir vorzustellen, wo Heydrich oder<br />
Eichmann gesessen haben? Es ist eine andere Problemstellung,<br />
als bewusst zu machen, unter welchen<br />
Verhältnissen Anne Frank im Versteck leben musste<br />
oder wie eine Häftlingsbaracke in einem Lager aussah.<br />
Es geht ja aber nicht nur darum, diesen einen Tag wiedererstehen<br />
zu lassen. Der Tag hatte Konsequenzen für Millionen<br />
europäischer Juden, das wiederum schrieb die Menschheitsgeschichte<br />
um. Was wird heute alles an der Gedenkstätte verhandelt?<br />
I Zum einen ist uns wichtig zu vermitteln, dass der Holocaust<br />
bereits in vollem Gang gewesen ist und mehr<br />
als 900.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder bereits<br />
vor dieser Besprechung am Wannsee ermordet<br />
worden sind. Die Euthanasieprogramme waren ebenfalls<br />
bereits schreckliche Realität. Wir versuchen daher<br />
darzustellen, was bis dahin stattgefunden hat und<br />
was tatsächlich die Konsequenzen und Auswirkungen<br />
nach dem 20. Jänner gewesen sind. Wir betonen,<br />
warum der Verwaltungsbereich so zentral gewesen<br />
ist. Dadurch findet auch ein Transfer in die Gegenwart<br />
statt. Was bedeutet das für Verwaltungshandeln<br />
heute? Wir arbeiten viel mit verschiedenen Berufsgruppen<br />
und dabei auch mit Verwaltungsangestellten<br />
und -beamten in Ministerien. Dieser Transfer ist<br />
uns wichtig. Wir wollen uns auch damit auseinandersetzen,<br />
was die Geschichte für uns heute bedeutet.<br />
Sie machen hier also die Einbindung der Menschen, die in der<br />
Verwaltung gearbeitet haben, zum Thema.<br />
I Dieses bürokratische Handeln hat ja die Effizienz der<br />
Vernichtung möglich gemacht. Und wenn wir uns das<br />
jetzt aus der Nachkriegsperspektive ansehen: Ernst<br />
von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt,<br />
wurde beispielsweise in den Nürnberger Prozessen<br />
unter anderem damit konfrontiert, dass er von Wannsee<br />
und der Besprechung wusste und damit auch vom<br />
systematischen Massenmord. Er hat sich dann versucht<br />
herauszureden. Man konnte ihm aus den Akten<br />
nie zu 100 Prozent etwas nachweisen, aber man<br />
konnte ihn auch nicht entlasten. Er wusste Bescheid<br />
und hat das System mitgetragen und in seiner bürokratischen<br />
Form unterstützt.<br />
Das bringt ein Bewusstsein dafür, dass es letztlich<br />
um Menschen und deren Handeln geht und nicht<br />
nur um die Form eines Protokolls. Auch wenn wir<br />
uns an bürokratischen Regeln festhalten, sollen wir<br />
das nicht quasi computergesteuert machen, sondern<br />
die Dinge hinterfragen. Wir wollen vermitteln, dass es<br />
wichtig ist, nicht alles grundsätzlich als gegeben anzunehmen.<br />
Es geht darum, Leute zu ermächtigen, Entscheidungen<br />
kritisch zu betrachten, hier sensibler zu<br />
werden. Auch viele Beschäftigte der Polizei oder der<br />
Bundeswehr nehmen bei uns an Fortbildungen teil.<br />
„Wir wollen<br />
uns auch damit<br />
auseinandersetzen,<br />
was<br />
die Geschichte<br />
für uns heute<br />
bedeutet.“<br />
22 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
23
Rolle von Gedenkstätten<br />
Antisemitismuskritische Bildungsarbeit<br />
Sie arbeiten in Strukturen, die sehr hierarchisch sind.<br />
Sie möchten wir empowern, diese Hierarchien an bestimmten<br />
Punkten zu durchbrechen.<br />
In den vergangenen Jahren hat sich eine intensive Erinnerungs-<br />
und Gedenkkultur einerseits, andererseits eine umfassende<br />
Aufklärungs- und Bewusstseinsarbeit etabliert. Was<br />
hat sich dadurch zum Positiven verändert?<br />
I Ich finde positiv, dass es eine thematische Vielfalt<br />
gibt, eine Breite an verschiedenen Aspekten. In der<br />
historischen Forschung, aber auch in der Bildungsarbeit<br />
wird interdisziplinär gedacht. Es gibt hier eine<br />
Perspektiven- und auch Themenvielfalt. Es arbeitet<br />
schon längst nicht mehr nur die Geschichtswissenschaft<br />
in diesem Bereich. Da hat sich etwas erweitert,<br />
und es gibt auch Platz für Aspekte, die zuvor weniger<br />
Berücksichtigung gefunden haben.<br />
Können Sie hier Beispiele nennen?<br />
I Zum Beispiel die zunehmend multiperspektivischen<br />
Zugänge in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.<br />
Wir nehmen viel selbstverständlicher verschiedene<br />
Gruppen von Betroffenen in den Blick. Wir<br />
fragen danach, wer die Geschichte aus welcher Perspektive<br />
und mit welcher Intention erzählt. In den<br />
letzten Jahren ging es auch verstärkt darum, was es<br />
für eine Einwanderungsgesellschaft für eine diverse<br />
Gesellschaft bedeutet, sich mit dem Holocaust zu beschäftigten.<br />
Aber auch aktuelle Erscheinungsformen<br />
von Antisemitismus spielen eine immer wichtigere<br />
Rolle. Das sind Punkte, die mittlerweile verstärkt Berücksichtigung<br />
finden.<br />
Wo stößt institutionelle Gedenkarbeit andererseits an Grenzen<br />
und welche sind das?<br />
I Heute stellt sich uns die Frage, wie wir, also Gedenkstätten,<br />
uns in diesem Gefüge von gesellschaftlichen<br />
Diskursen und Debatten positionieren. Was wollen<br />
und was können wir vermitteln? Da gibt es derzeit<br />
viel Bewegung, weil Gedenkstätten mit Erwartungshaltungen<br />
und Wünschen von Politik und Gesellschaft<br />
konfrontiert sind, die sie teilweise nicht erfüllen<br />
können. Da gibt es Grenzen. Da muss man auch<br />
Vorgaben der Politik kritisch hinterfragen. Kann man<br />
beispielsweise erwarten, dass ein Besuch an einer Gedenkstätte<br />
vor Antisemitismus schützt?<br />
Ein einzelner Besuch an einer Gedenkstätte kann<br />
nicht einholen, was zur Ausbildung einer antisemitismuskritischen<br />
Haltung notwendig wäre. Aber natürlich<br />
müssen sich auch Gedenkstätten überlegen, welche<br />
eigenen und spezifischen Ansätze zum Umgang<br />
mit Antisemitismus hier entwickelt werden können.<br />
Diese Ansätze müssen Teil unserer Kernaufgaben,<br />
also der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus,<br />
seiner Vor- und Nachgeschichte sowie gesellschaftlichen<br />
Kontinuitäten sein. Nicht alle Probleme<br />
in unseren demokratischen Gesellschaften sind mit<br />
einem Besuch einer Gedenkstätte zu lösen.<br />
24 wına | April 2022<br />
Inszenierung. „Wir<br />
wissen nicht einmal, ob<br />
die Besprechung überhaupt<br />
im so genannten<br />
Konferenzraum in der<br />
Ausstellung stattgefunden<br />
hat – wir vermuten<br />
es“, erläutert Deborah<br />
Hartmann. (Die Bilder<br />
stammen aus dem 2022<br />
herausgekommenen<br />
Fernsehfilm Die Wannsee-<br />
Konferenz von Matti<br />
Geschonneck.)<br />
„Heute stellt<br />
sich uns die<br />
Frage, wie wir,<br />
also Gedenkstätten,<br />
uns in<br />
diesem Gefüge<br />
von gesellschaftlichen<br />
Diskursen und<br />
Debatten positionieren.“<br />
Deborah<br />
Hartmann<br />
Aktuell erleben wir ein interessantes Phänomen: Die Schoah<br />
wird als Referenz herangezogen, wenn es um Aufmerksamkeit<br />
für völlig andere Dinge, etwa den Tierschutz oder vermeintliche<br />
Menschenrechtsverstöße durch Covid-Präventionsmaßnahmen<br />
oder die Impfpflicht geht. Was ist da schiefgelaufen?<br />
I Der Holocaust bildet einerseits einen Referenzrahmen<br />
für alles Mögliche. Andererseits ist es ein unglaublich<br />
beliebtes Motiv, sich selbst zum Opfer zu<br />
machen. Ich werte mich und meine Geschichte auf,<br />
indem ich mich an diesem Referenzrahmen messe.<br />
Wenn eine Weigerung, sich impfen zu lassen, dieselben<br />
Folgen haben soll, wie sie Anne Frank oder Sophie<br />
Scholl erfahren mussten, dann ist das eine Aufwertung<br />
dessen, was ich erlebe. Das zeigt aber, dass<br />
es kein Bewusstsein für Unterschiede gibt. Das ist eine<br />
Gleichsetzung, die gar nicht reflektiert, wo es Differenzen<br />
zwischen meinem Leben heute und der damaligen<br />
Situation gibt.<br />
Was ist das schief gelaufen? Schwierig. Die Erinnerungskultur?<br />
Gesellschaftliche Debatten? Curricula<br />
an Schulen? Das müsste man sich immer im Einzelnen<br />
anschauen. Aber man merkt, dass es in unseren<br />
Gesellschaften immer noch das Bedürfnis gibt, die Geschichte<br />
zu relativieren, da steckt ja auch der Wunsch<br />
nach Entlastung dahinter. Ich entlaste mich, meine<br />
Gesellschaft, meine Familiengeschichte, indem ich<br />
mich selbst zum Opfer mache. Damit relativiere ich<br />
auch die eigene Schuld und Verantwortung. Da stecken<br />
ganz viele Mechanismen dahinter: Schuldabwehr<br />
in Familiennarrativen, Schlussstrich, Gleichsetzung.<br />
Wie kann hier von Institutionen wie der Gedenkstätte am<br />
Wannsee nachgeschärft werden?<br />
I Einerseits versuchen wir, die Geschichte dieser Zeit<br />
zu erzählen. Ich glaube aber, dass wir hier vielleicht<br />
© zdf.de<br />
noch andere Zugänge brauchen, die auch die persönlichen<br />
Emotionen stärker mit einbeziehen. Es geht<br />
darum, dass wir, die wir hier arbeiten, bei uns, aber<br />
auch bei den Besucher:innen hinterfragen und reflektieren<br />
müssen, woher diese oder jene Emotion<br />
kommt. Da sollten wir versuchen, die Ansätze unserer<br />
Vermittlungsarbeit weiterzuentwickeln, die verstärkt<br />
auf unsere Besucher eingehen. Was bringen<br />
sie an Lebensgeschichte und Haltungen mit? Das ist<br />
auch die einzige Möglichkeit zu verstehen, welche<br />
Einstellungen Besucherinnen und Besucher haben.<br />
Aber Pädagogik und Didaktik haben auch ihre Grenzen.<br />
Wenn jemand mit einem geschlossenen Weltbild<br />
herkommt, ist es schwierig, das zu durchbrechen.<br />
Wir befinden uns in der Erinnerungsarbeit an den Holocaust<br />
derzeit an einer Zeitenwende. Es leben nur mehr sehr wenige<br />
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Wie verändert das den Zugang?<br />
Spüren Sie das im Haus der Wannsee-Konferenz auch?<br />
I Das spielt in Wannsee weniger eine Rolle, weil wir<br />
inhaltlich anders ausgerichtet sind. Aber natürlich<br />
gibt es einen generationellen Wandel und Umbruch.<br />
Das verändert den Zugang zu Geschichte und damit<br />
auch unsere Erinnerungskultur – in welcher Form<br />
kann man noch nicht sagen. Es eröffnet aber wiederum<br />
vielleicht auch die eine oder andere neue Perspektive.<br />
In Israel haben wir in Yad Vashem sehr oft mit<br />
der zweiten oder dritten Generation gearbeitet. Nachkommen<br />
von Schoah-Überlebenden können uns etwas<br />
darüber erzählen, wie sie mit dieser Geschichte<br />
aufgewachsen sind, was sie mitbekommen haben von<br />
Julia &<br />
Marianne<br />
„Nachkommen<br />
von Schoah-<br />
Überlebenden<br />
können uns<br />
etwas darüber<br />
erzählen, wie<br />
sie mit dieser<br />
Geschichte<br />
aufgewachsen<br />
sind […], auch<br />
das ermöglicht<br />
einen<br />
persönlichen<br />
Zugang.“<br />
Eltern und Großeltern und was nicht. Und auch das<br />
ermöglicht einen persönlichen Zugang. Dieser persönliche<br />
Zugang ist im Haus der Wannsee-Konferenz<br />
auch wichtig, aber durch den Aspekt Täterschaft nochmals<br />
anders gelagert.<br />
Stichwort Täterschaft: Gibt es auch Menschen, die aus<br />
Bewunderung für die Nationalsozialisten in die Gedenkstätte<br />
kommen?<br />
I Es kann sein, dass das bei einzelnen Besucher:innen<br />
so ist; aber wir hatten hier noch keine Pilgeratmosphäre.<br />
Allerdings gibt es durchaus Nachkommen von<br />
Tätern, die das Haus besuchen. Im Sommer hat die<br />
Enkelin von Martin Luther, einem Teilnehmer der<br />
Wannsee-Konferenz, in unser Gästebuch geschrieben,<br />
sie schäme sich für ihren Großvater und seine<br />
Taten. Wir haben sie dann ausfindig gemacht und<br />
sind mit ihr nach wie vor in Kontakt.<br />
Worin liegen für Sie künftig die Aufgaben der Gedenk- und<br />
Erinnerungsarbeit?<br />
I Ich glaube, was uns noch länger begleiten wird, ist<br />
die Frage der Gegenwartsbezüge, der Verbindungslinien<br />
von Vergangenheit und Gegenwart. Da ist man<br />
noch am Suchen und Überlegen: Wo befinden wir uns<br />
da, was für Ansätze und Methoden brauchen wir und<br />
was wird aus der Gegenwart thematisiert. Ich glaube,<br />
das muss immer auch auf den konkreten Ort bezogen<br />
sein, was kann der Ort in Bezug auf konkrete Themen<br />
leisten. Ich denke zudem, dass rassismus- und antisemitismuskritische<br />
Bildungsarbeit weit relevanter<br />
wird für unsere Orte als bisher.<br />
Sowie das Manna vom Himmel fiel,<br />
überfiel Julia und Marianne die Leidenschaft zum<br />
Kochen, Kreieren und Produzieren.<br />
Die Liebe und Leidenschaft zum Besonderen und die Auswahl feinster<br />
Zutaten sind die Schlüssel zu unseren eizigartigen Köstlichkeiten.<br />
Selbstverständlich verwenden wir keine<br />
Konservierungsmittel oder Geschmacksverstärker.<br />
Unsere Produkte sind mit Sorgfalt und Liebe ausgesucht;<br />
Sie sind bio, regional und teilweise koscher.<br />
Je nach Saison gibt es neue Delikatessen.<br />
Unsere Waren werden Sie in keinem Supermarkt finden,<br />
alles schmeckt wie bei Oma.<br />
Marmeladen, Chutneys, Süßigkeiten ...<br />
Email: office@die-greisslerin.at<br />
wına-magazin.at<br />
Sie finden unsere einzigartigen Produkte unter www.die-greisslerin.at<br />
25
Opfer und Helden<br />
Reue und Versöhnung<br />
Meine Großeltern, die Nazis<br />
Der Zweite Weltkrieg ist lange vorbei. Und doch wirkt er immer noch<br />
nach. Nun ist es vermehrt die Enkelgeneration, die nachfragt – auch in<br />
den sogenannten Täterfamilien. Ein schwieriges und schmerzliches Unterfangen,<br />
dem ich in meiner neuen Fernsehdokumentation nachspüre.<br />
Von Uli Jürgens<br />
Feldpost des Großvaters<br />
von Bettina Henkel.<br />
Friedemann<br />
Derschmidt.<br />
„Meine Vorfahren<br />
[…] haben<br />
nichts weggeschmissen,<br />
keine Ahnenpässe,<br />
keine<br />
Mutterkreuze,<br />
keine Parteiabzeichen.<br />
Man könnte<br />
es ja noch mal<br />
brauchen.“<br />
Günter<br />
Kaindstorfer.<br />
Sein Großvater<br />
Anton<br />
Kaindlstorfer<br />
war Direktor der<br />
Sparkasse und<br />
NSDAP-Ortsgruppenleiter<br />
in Bad Ischl.<br />
Wie werden Familiengeschichten<br />
mit nationalsozialistischem<br />
Hintergrund weitererzählt?<br />
Was wird betont und was wird<br />
ausgelassen? Und inwiefern verändert<br />
eine Aufarbeitung die Enkelkinder? Für<br />
meine aktuelle Dokumentation habe ich<br />
vier Protagonist:innen gesucht und gefunden,<br />
die mir erzählen, was sie über<br />
ihre Großväter und Großmütter herausgefunden<br />
haben. Bettina Henkel lehrt an<br />
der Akademie der bildenden Künste, sie<br />
hat die Suche nach ihren Wurzeln zu einer<br />
Art Road-Movie verarbeitet. Den Software-Entwickler<br />
Jürgen Schmidt hat die<br />
Aufarbeitung seiner Familiengeschichte<br />
radikal politisiert und, sagt er, zu einem<br />
besseren Menschen gemacht. Spannend<br />
ist auch die Geschichte des Journalisten<br />
und Schriftstellers Günter Kaindlstorfer,<br />
die in Bad Ischl spielt. Und der Medienkünstler<br />
Friedemann Derschmidt hat unfassbar<br />
viel Material geerbt und ist zum<br />
Chronisten seiner Familiengeschichte geworden.<br />
In den Vorgesprächen und Interviews<br />
werden mir vier – man könnte sagen „typisch<br />
österreichische“ – Geschichten erzählt.<br />
Geschichten vom Schweigen und<br />
vom Verdrängen, Geschichten von Opfern<br />
und Helden, aber auch Geschichten von<br />
Reue und Versöhnung. Ich bin selbst die<br />
Enkelin eines SS-Offiziers, der den Krieg<br />
nicht überlebt hat, und erforsche meine<br />
Familiengeschichte. In vielen Antworten<br />
meiner Gesprächspartner:innen finde ich<br />
mich wieder. Sie sind, wie ich, meist angewiesen<br />
auf Archive – denn die beforschten<br />
Familienmitglieder sind bereits tot<br />
und können nicht mehr persönlich befragt<br />
werden. Eltern, Onkel oder Tanten<br />
© Nik Suchentrun, Uli Jürgens<br />
haben sich ihre Erinnerung zurechtgelegt,<br />
geradegebogen, umgeschrieben. Es<br />
sind Erzählungen aus zweiter Hand. Auf<br />
Dachböden oder in Kellern gibt es manchmal<br />
Zufallsfunde: Dokumente, Fotos und<br />
diverse Objekte, die das Familiennarrativ<br />
auf den Kopf stellen und die Enkelkinder<br />
herausfordern.<br />
Beim Besuch bei Friedemann Derschmidt<br />
überrascht mein Team und mich<br />
vor allem die Menge an „NS-Zeug“, das<br />
sich im Lauf der Jahre in der Wohnung<br />
des Künstlers angesammelt hat. „Meine<br />
Vorfahren waren so von der historischen<br />
Mission überzeugt, die haben nichts weggeschmissen,<br />
keine Ahnenpässe, keine<br />
Mutterkreuze, keine Parteiabzeichen. Man<br />
könnte es ja noch mal brauchen“, sagt er<br />
und öffnet einen Koffer, prall gefüllt mit<br />
verschiedensten Ansteckern und kleinen<br />
Spielzeugen. Diese Objekte bekam man,<br />
wenn man für das Winterhilfswerk spendete.<br />
Jeden Tag eine neue Überraschung:<br />
Minimärchenbücher, kleine Keramikvögel,<br />
Verkehrszeichen und vieles mehr.<br />
Dazwischen Führer-Huldigungen und<br />
NS-Slogans. Friedemann Derschmidts<br />
jüngster Onkel habe ihm erzählt, dass es<br />
in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren<br />
etwas ganz Besonderes gewesen sei, wenn<br />
die Großmutter den Koffer hervorholte<br />
und die Kinder mit den Objekten spielen<br />
durften. Friedemann Derschmidt verwendet<br />
immer wieder Teile seiner familiengeschichtlichen<br />
Forschung in seinen Kunstprojekten.<br />
Dreh- und Angelpunkt ist meist<br />
der Urgroßvater, ein Anhänger der Eugenik,<br />
der seine eigene Familie für die Ahnentafel<br />
biometrisch abfotografierte: einmal<br />
von vorn, einmal im Halbprofil, einmal im<br />
Profil. Mit seiner Forschung führe er das<br />
Projekt des Urgroßvaters<br />
auf absurde Art weiter,<br />
sagt Friedemann Derschmidt:<br />
„Dadurch, dass<br />
ich angefangen habe,<br />
mich damit auseinanderzusetzen,<br />
war ich ganz<br />
pragmatisch gezwungen,<br />
einen Stammbaum zu<br />
zeichnen, um zu wissen,<br />
wer ist wer. Das bedeutet,<br />
dass ich dieses Projekt<br />
quasi dekonstruiere, aber natürlich<br />
in einer paradoxen Weise auch fortführe.“<br />
Außendreh in Bad Ischl. Hier wurde Günter<br />
Kaindlstorfer geboren, aufgewachsen ist<br />
er in Wels. Seit einigen Jahren pendelt er<br />
mit dem Zug zwischen Wien und dem Salzkammergut,<br />
besitzt eine kleine Wohnung<br />
in Ischl, wo Radiosendungen und Fernsehbeiträge<br />
entstehen und er unter dem<br />
Pseudonym Günter Wels Bücher schreibt.<br />
Bad Ischl sei seine Herzensgegend, sagt er<br />
später im Interview: „Hier sieht man wie<br />
in einem Brennspiegel all das, was Österreich<br />
ausmacht, im Guten wie im Schlechten.<br />
Es ist eine landschaftlich unglaublich<br />
schöne Region, es sind freundliche, lebenslustige,<br />
hart arbeitende Menschen. Es gibt<br />
aber auch eine widerständige Tradition,<br />
die aus der Selbstorganisation der Salinenarbeiter<br />
und Bergwerksleute kommt.<br />
Das gefällt mir.“ Bad Ischl, die „Kaiserstadt“,<br />
mit ihrer vor allem in den 1920er-<br />
Jahren stark jüdisch geprägten Sommerfrische,<br />
ist immer noch ein Touristenmagnet.<br />
An unserem Drehtag ist es zwar kalt, aber<br />
die Sonne scheint und die Berge sind angezuckert.<br />
Von der Kamera verfolgt, spaziere<br />
ich mit Günter Kaindlstorfer an der<br />
„[…] dann müssen<br />
wir nicht<br />
eine Schuldfrage<br />
stellen, sondern<br />
eine Verantwortungsfrage.“<br />
Jürgen Schmidt<br />
Kirche vorbei in die Pfarrgasse.<br />
Sein Großvater Anton<br />
Kaindlstorfer war<br />
rund um das Jahr 1938 Direktor<br />
der Sparkasse und<br />
NSDAP-Ortsgruppenleiter<br />
in Bad Ischl. Arisierungen<br />
jüdischer Villen und Geschäfte<br />
gingen über seinen<br />
Schreibtisch – nicht<br />
alles, aber doch einiges davon<br />
ist belegt, sagt Günter<br />
Kaindlstorfer. Unser Gespräch vor den ehemals<br />
jüdischen Geschäften – wo Galanteriewaren<br />
und Wanderartikel verkauft wurden<br />
– wird vom Kameramann aus verschiedenen<br />
Perspektiven aufgenommen, immer<br />
wieder erzählt mir Günter Kaindlstorfer<br />
die gleiche Geschichte. Eine eigenartige<br />
Situation, denn eigentlich müssen wir fast<br />
lachen bei den vielen Wiederholungen. In<br />
Wirklichkeit sind diese Geschichten zum<br />
Weinen.<br />
Zum Weinen war auch Bettina Henkels<br />
Vater Helge auf ihrer gemeinsamen Reise<br />
in die Vergangenheit. Die Vorfahren waren<br />
Deutschbalten, die von Riga ins besetzte Polen<br />
umgesiedelt wurden. Bei ihren Nachforschungen<br />
setzten sich Vater und Tochter<br />
emotional fordernden Situationen aus.<br />
Sie suchten nach Spuren der Großmutter,<br />
die auf Fotos eigenartig traurig aussieht,<br />
und des Großvaters, der wohl an Kriegsverbrechen<br />
im Partisanenkampf beteiligt<br />
war. Entstanden ist dabei der überaus berührende<br />
Film Kinder unter Deck. Mich interessiert<br />
im Interview für meine Dokumentation<br />
vor allem, welche Gefühle die Reise<br />
bei den beiden ausgelöst hat. Eine Szene<br />
zeigt Vater und Tochter in einem Wald, sie<br />
stehen vor moosbewachsenen Gräbern, le-<br />
26 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
27
Radikaler Gesinnungswandel<br />
Thema<br />
Jürgen Schmidt. „Wir haben<br />
die Verantwortung, dass diese<br />
Dinge ans Tageslicht kommen.<br />
Wir haben kein Recht darauf,<br />
sie zu verheimlichen.“<br />
gen Blumen ab, zünden Kerzen an. Helge<br />
Henkel wird von seinen Emotionen überwältigt,<br />
er weint. Seine Tochter steht neben<br />
ihm. Ihr Vater sei sehr ehrlich mit seinen<br />
Gefühlen umgegangen, habe sich ihr<br />
und dem Kinopublikum auf sehr sensible<br />
Weise geöffnet, sagt Bettina Henkel. Und<br />
ihr selbst sei im Zusammenhang mit der<br />
Szene bei den Gräbern erst bei der Sichtung<br />
des Materials aufgefallen, dass sie sich<br />
dort überaus erleichtert fühlte: „Ich habe<br />
mich noch einmal hineinfühlen müssen<br />
und verstanden, dass in dem Moment, wo<br />
der Vater trauert, ich nicht mehr trauern<br />
muss. Ich muss das nicht. Endlich ist diese<br />
Trauer an dem Ort, wo sie sein soll.“<br />
Als wir an unserem letzten Drehtag Jürgen<br />
Schmidt besuchen, ist es draußen stürmisch.<br />
Der Wind heult in den noch blätterlosen<br />
Bäumen, ab und zu zieht ein leichter<br />
Nieselregen vorüber. Doch drinnen, in Jürgen<br />
Schmidts Wohnzimmer, geht es um etwas<br />
ganz anderes, das kräftig durcheinandergewirbelt<br />
wurde, nämlich seine Familie.<br />
Seine Kindheit und Jugend verbrachte Jür-<br />
Bettina Henkel. „[…]<br />
verstanden, dass in dem Moment,<br />
wo der Vater trauert, ich<br />
nicht mehr trauern muss.“<br />
DIE DOKUMENTATION<br />
Meine Großeltern, die Nazis<br />
(45 Minuten, Ko-Produktion Trilight<br />
Entertainment und ORF III) ist am 7.<br />
Mai im Hauptabendprogramm<br />
von ORF III zu sehen. Am 27. April<br />
findet eine Vorpremiere im Haus<br />
der Geschichte Österreichs statt.<br />
Eine Anmeldung unter hdgö.at ist<br />
notwendig.<br />
gen Schmidt in Herrnbaumgarten, nahe<br />
der tschechischen Grenze. Die Eltern wählten<br />
Volkspartei, er selbst war Mitglied der<br />
Jungen ÖVP. Als ans Licht kam, dass der<br />
Großvater an Menschentransporten aus<br />
Griechenland beteiligt war, dass die Großmutter<br />
jahrelang gelogen hatte, dass die<br />
kleine jüdische Gemeinde Herrnbaumgartens<br />
bereits vor dem Einmarsch der deutschen<br />
Truppen in vorauseilendem Gehorsam<br />
von der Dorfbevölkerung vertrieben<br />
wurde und Jürgens Schmidts Vater von all<br />
diesen Dingen nichts wissen wollte, hielt<br />
den jungen Jürgen Schmidt nichts mehr im<br />
nördlichen Weinviertel. Es folgte ein radikaler<br />
Gesinnungswandel, Mitarbeit bei antifaschistischen<br />
und antirassistischen Initiativen.<br />
Heute ist Jürgen Schmidt mit sich<br />
im Reinen, auch mit dem Vater kam es zur<br />
Versöhnung. Im Interview sagt er: „Wenn<br />
wir das aufarbeiten und überwinden wollen,<br />
dann müssen wir nicht eine Schuldfrage<br />
stellen, sondern eine Verantwortungsfrage.<br />
Wir haben die Verantwortung,<br />
dass diese Dinge ans Tageslicht kommen.<br />
Wir haben kein Recht darauf, sie zu verheimlichen.“<br />
Schön wäre, wenn in Herrnbaumgarten<br />
irgendetwas an die vertriebenen<br />
jüdischen Familien erinnern würde,<br />
meint Jürgen Schmidt. Die neuerliche Auseinandersetzung<br />
mit seiner Familiengeschichte<br />
im Zuge meiner Dokumentation<br />
habe in ihm den Wunsch reifen lassen,<br />
endlich die Initiative zu ergreifen.<br />
Enkelkinder beschäftigen sich aus verschiedenen<br />
Gründen mit der Vergangenheit.<br />
Viele wollen ihre – geliebten<br />
– Großeltern entlasten, suchen nach Widerständigkeit.<br />
Oft finden sie aber Verstörendes,<br />
Trauriges, Schmerzhaftes. Hören<br />
von „anständigen“ Nazis oder vom Großvater,<br />
der „nur seine Pflicht“ getan habe.<br />
Und in vielen Fällen bestätigen sich Ahnungen,<br />
Andeutungen und Irritationen.<br />
Bei der Sichtung des ORF-Archivmaterials<br />
stoße ich auf eine Sendung zur Ausstellung<br />
Verbrechen der Wehrmacht Ende der 1990er-<br />
Jahre. Und dann geht plötzlich jemand<br />
durch das Bild – eine junge Frau, blonde<br />
Haare, eine Art Wanderrucksack, der<br />
Gang kommt mir bekannt vor. Ich stutze:<br />
Bin das wirklich ich? Also mein damaliges<br />
Ich beim Besuch der Wehrmachtsausstellung?<br />
Gut möglich. Da bin ich nun<br />
also, mittendrin in meiner eigenen Dokumentation.<br />
Meine eigene Familiengeschichte<br />
muss trotzdem noch warten, zu<br />
viele andere Projekte sind zuerst zu erledigen.<br />
Auch wenn wir Enkelkinder im Hier<br />
und Jetzt unsere Leben leben – wir sind<br />
mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges<br />
noch lange nicht fertig.<br />
Uli Jürgens lebt und arbeitet in Wien.<br />
Seit 2015 gestaltet sie zeitgeschichtliche<br />
Fernsehdokumentationen, bisher<br />
beschäftigte sie sich mit der Opferseite,<br />
nun erstmals mit den Täter:innen.<br />
© Nik Suchentrun, Uli Jürgens<br />
28 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
29
Geschickt & skrupellos<br />
Voller Geheimnisse<br />
Patronen für Faschisten<br />
und Demokraten<br />
Der österreichische Industrielle Fritz Mandl exportierte in<br />
den 1930er-Jahren illegal in zahlreiche Länder, floh ins argentinische<br />
Exil und versorgte dann das österreichische Bundesheer.<br />
Eine neue Biografie beschreibt seine dunklen Talente.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Ursula Prutsch :<br />
Wer war Fritz Mandl.<br />
Nazis, Waffen und<br />
Geheimdienste.<br />
Molden Verlag,<br />
304 S., € 30<br />
„Die Augen in dem scharf gezeichneten,<br />
massiv aussehenden Kopf<br />
auf einen fragenden Ausdruck eingestellt.<br />
[…] Er sieht gefährlich aus.“<br />
Orson Wells<br />
© Votava / Imagno / picturedesk.com<br />
Er war so wichtig für die Nazis,<br />
dass sie nach dem „Anschluss“<br />
Österreichs den jüdischen Unternehmer<br />
nicht einfach enteigneten<br />
wie Tausende andere,<br />
sondern um seine Patronenfabrik<br />
verhandelten. Fritz Mandl hatte dafür<br />
schon klug vorgebaut: Der überwiegende<br />
Teil der Aktien der Hirtenberger AG lag in<br />
einem Zürcher Banktresor. Für die Übergabe<br />
an den deutschen Rüstungskonzern<br />
Gustloff Werke erzielte er einerseits einen<br />
beachtlichen Preis – noch dazu teilweise in<br />
Devisen –, anderseits konnte er unbehindert<br />
nach Argentinien emigrieren.<br />
Mandl, Jahrgang 1900, war in eine assimilierte<br />
jüdische Familie hineingeboren<br />
worden. „Er war mit Arthur Schnitzler<br />
verwandt und galt in den Zwanzigern<br />
als der reichste Industrielle im Land“,<br />
schreibt die Münchner Historikerin Ursula<br />
Prutsch in ihrer aktuellen Biografie<br />
Wer war Fritz Mandl. Nazis, Waffen und Geheimdienste.<br />
Die Familie stammte aus Mähren,<br />
Mandls Urgroßvater Leopold war Arzt und<br />
zog über einen Zwischenstopp in Ungarn<br />
nach Wien. Sein Großonkel Ludwig, einer<br />
von fünf Söhnen Leopolds, ursprünglich<br />
Getreidehändler, kaufte sich zuerst in<br />
eine Munitionsfabrik in Wien ein, später<br />
in Niederösterreich, in Hirtenberg. 1894,<br />
nach dem Tod Ludwigs, trat Fritz Mandls<br />
Vater Alexander, ein Neffe des Firmenchefs,<br />
in das Unternehmen ein. Er war<br />
studierter Chemiker und Physiker, mit<br />
Hilfe der Wiener Großbank Creditanstalt<br />
baute er den Patronenerzeuger kräftig aus.<br />
Schon um die Jahrhundertwende arbeiteten<br />
dort 1.600 Frauen und Männer, neben<br />
Munition für Jagdwaffen wurde militärische<br />
erzeugt, und gerade in diesem<br />
Bereich wuchsen die Exporte – auch in Kooperation<br />
mit der Rüstungsfabrik Steyr –<br />
recht kräftig. Dann sorgte der Erste Weltkrieg<br />
für einen ungeahnten Boom: 4.200<br />
Beschäftigte zählte das Stammwerk in Hirtenberg,<br />
eine weitere Fabrik in Ungarn<br />
führte noch einmal 3.500 Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter auf ihren Lohnlisten.<br />
Doch der Krieg endete mit einer Niederlage,<br />
das Reich zerfiel, die ungarische<br />
Tochterfirma ging verloren, die Friedensverträge<br />
schnürten ein sehr enges Korsett<br />
für Rüstungsproduktion und einschlägige<br />
Exporte. Doch nun kam der junge Chemiestudent<br />
Fritz Mandl auf die Bühne –<br />
und in die Geschäftsführung von Hirtenberger.<br />
Und er sollte sich als äußerst<br />
geschäftstüchtig erweisen, ebenso als geschickt<br />
und skrupellos, was die Umgehung<br />
der internationalen Bestimmungen<br />
betraf. Eine kleine Auswahl: Da man<br />
in Österreich keine Waffen produzieren<br />
durfte, beteiligte sich Mandl – gemeinsam<br />
mit der deutschen Rheinmetall – an<br />
einem Schweizer Rüstungsunternehmen.<br />
Unter anderem über eine Tochterfirma in<br />
den Niederlanden exportierte er Munition<br />
in die Türkei und nach Argentinien, später<br />
verdiente er Millionen an Lieferungen<br />
für Italien, das in Abessinien Krieg führte.<br />
Lieferungen an das Militär sind immer<br />
nahe an der Politik gebaut. Mandl,<br />
zwar getauft, aber aus einer jüdischen Familie<br />
stammend, schloss sich der politischen<br />
Rechten an. In Italien pflegte er<br />
enge Kontakte zu den Faschisten Mussolinis,<br />
in Österreich wurde der Heimwehr-<br />
Führer Ernst Rüdiger Starhemberg ein enger<br />
Freund, auch in das ebenfalls stramm<br />
rechts regierte Ungarn lieferte Hirtenberger.<br />
Exporte gingen unter anderem nach<br />
Spanien, nach China und Mexiko, große<br />
Mengen aber – illegal – an die Heimwehren<br />
und an das österreichische Bundesheer.<br />
Einer dieser Deals flog auf, darüber wurde<br />
als „Hirtenberger Affäre“ groß in den Zeitungen<br />
Europas berichtet.<br />
Nach der Enteignung durch die Nazis<br />
emigrierte Mandl nach Argentinien. Dorthin<br />
hatte er wiederholt geliefert, dort verfügte<br />
er über lokale und europäische Geschäftspartner,<br />
auch durchaus solche mit<br />
Nazi-Hintergrund. Und Mandl war auch in<br />
Übersee – bei allen Schwierigkeiten – äußerst<br />
geschäftstüchtig. Sein beträchtliches<br />
Vermögen, das er hatte transferieren können,<br />
verbrauchte er nicht – auch wenn sein<br />
Lebensstil eher aufwändig blieb. Er investierte<br />
in eine Fahrradfabrik, in ein Unternehmen<br />
der Metallproduktion, in eine<br />
Kohlengrube in Peru. Zur Patronenproduktion<br />
kam er in Lateinamerika nicht,<br />
dafür waren die politischen Widerstände<br />
trotz Nähe zum damaligen Minister und<br />
späteren Präsidenten Juan Perón zu groß.<br />
Überdies stand Mandl in Fokus der US-Geheimdienste,<br />
die in ihm einen verdeckten<br />
Nazi vermuteten.<br />
Nach Kriegsende kehrte er wieder nach Österreich<br />
zurück, erhielt auch nach langen<br />
Verhandlungen die Hirtenberger Fabrik<br />
wieder. Sie hatte wegen ihrer günstigen<br />
Lage keine Zerstörungen durch alliierte<br />
Bomben erlitten, die Nachfrage nach Munition<br />
war freilich nicht gerade groß. Das<br />
sollte sich ab 1956 ändern, dem Jahr des<br />
von den Russen blutig niedergeschlagenen<br />
Aufstands in Ungarn. Österreich baute ein<br />
neues Bundesheer auf, und dieses benötigte<br />
Patronen. Mandl lieferte. Auch Exporte<br />
konnte er wieder in die Wege leiten:<br />
nach Nigeria und Biafra, nach Bolivien,<br />
Chile und Südafrika.<br />
Mandl war fünf Mal verheiratet, er eroberte<br />
als reicher, charmanter, aber auch<br />
autoritärer Mann stets schöne und intelligente<br />
Frauen. Die bekannteste unter<br />
seinen Ehefrauen war die Wiener Jüdin<br />
Hedwig Kiesler, später als Hedy Lamarr<br />
in Hollywood als Schauspielerin bekannt.<br />
Doch diese Beziehung ging schief, wie auch<br />
die anderen.<br />
Die geschäftliche Karriere und die politischen<br />
Verstrickungen Mandls sind im<br />
neuen Buch der an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München lehrenden Professorin<br />
für Geschichte Ursula Prutsch<br />
ausführlich beschrieben, der historische<br />
Hintergrund wird klar und verständlich<br />
ausgeleuchtet. Die Hauptfigur bleibt dennoch<br />
etwas blass. „Die Aura, die ihn umgab,<br />
wurde vom Rauch seiner Havanna-<br />
Zigarren, seinem Markenzeichen, seinen<br />
maßgeschneiderten Anzügen und den<br />
Hemden mit abnehmbaren Krägen geprägt,<br />
deren Reinigung dem Butler auferlegt<br />
wurde.“ Das könnte wohl viele wohlhabende<br />
Unternehmer beschreiben, ohne<br />
ihnen wirklich näher zu kommen. Und<br />
auch die Zuflucht zu einem Text des englischen<br />
Regisseurs Orson Welles, der Mandl<br />
einmal am Comer See kennen lernte, erschließt<br />
den Leserinnen und Lesern kaum<br />
die Gedanken- oder Gefühlswelt des Patronenfabrikanten:<br />
„Die Augen in dem<br />
scharf gezeichneten, massiv aussehenden<br />
Kopf auf einen fragenden Ausdruck eingestellt.<br />
Es sind die Augen eines gerissenen<br />
Jägers, aber in ihnen überrascht doch<br />
eine seltsam fahle Leere – ein toter Fleck.<br />
So, als ob das Zentrum einer Zielscheibe<br />
weiß ausgemalt wäre, oder wie der stille,<br />
luftleere Raum im Herzen eines Wirbelsturms.<br />
Er sieht gefährlich aus.“<br />
Fritz Mandl starb 1977 im Wiener AKH<br />
an Krebs. Ein Gutteil seiner Geschäfte –<br />
legal und illegal – ist dokumentiert. Der<br />
Mensch hat viele Geheimnisse bewahrt.<br />
Wer war Fritz Mandl? Letztlich wissen wir<br />
es nicht.<br />
30 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
31
Erhebliche Größenordnung<br />
Bis in den Generalstab<br />
Die jüdischen Soldaten<br />
des Kaisers<br />
Ein neues Buch erzählt die Geschichte der Juden in<br />
Österreich-Ungarns Armee von 1788 bis 1918. Im Ersten<br />
Weltkrieg waren dies zwischen 250.000 und 300.000,<br />
darunter etwa 25.000 Offiziere.<br />
Der Krieg kommt schnell auch<br />
zuhause an. „Viele jüdische Familien<br />
im Habsburger Reich<br />
hatten zwei bis acht Söhne,<br />
die gleichzeitig eingerückt waren – und<br />
es gab entsprechend Gefallene. Die beiden<br />
Söhne von Dr. Otto Strasser wurden<br />
in einer einzigen Woche getötet, und im<br />
April 1916 hatte Salomon Pollak alle drei<br />
Enkel verloren.“ Das schreibt Peter C. Appelbaum<br />
in seinem neuen Buch Habsburg<br />
Sons. Jews in the Austro-Hungarian Army 1788–<br />
1918. Appelbaum ist emeritierter Pathologe<br />
Von Reinhard Engel<br />
in Florida und hat bereits eine Reihe militärhistorischer<br />
Bücher verfasst.<br />
Der Ausschluss von Juden aus der deutschen<br />
Armee im Zweiten Weltkrieg nach<br />
„rassischen“ Kriterien hat die Inklusion<br />
der Juden im großen Krieg davor weitgehend<br />
aus dem Bewusstsein verdrängt.<br />
Doch es handelte sich um Zahlen von erheblicher<br />
Größenordnung. Laut Appelbaum<br />
dienten zwischen 1914 und 1918<br />
250.000 bis 300.000 Juden in den kaiserlichen<br />
Armeen zwischen der Infanterie<br />
in Galizien, den Gebirgsjägern an der<br />
italienischen Front, Artilleristen in Serbien,<br />
und selbst auf hoher See und in der<br />
Luft gab es jüdische Mannschaften und<br />
Offiziere. Letztere zählten übrigens etwa<br />
25.000, zu einer Zeit, als das preußische<br />
Armeekorps für Juden noch fest verschlossen<br />
war.<br />
Die große Zahl von aktiven und aktivierten<br />
Reserveoffizieren hatte einen Grund.<br />
Während der verpflichtende Wehrdienst<br />
vor 1914 für einfache Soldaten drei Jahre<br />
betrug, konnten Männer aus gebildeten<br />
Ständen mit dem Einjährigen-Freiwilligen-Jahr<br />
Leutnant der Reserve werden.<br />
Das galt für Studenten oder zumindest Maturanten<br />
und bot sich den emanzipierten<br />
Juden als Eintrittsmöglichkeit in die Mehrheitsgesellschaft<br />
an. Unter den Reserveoffizieren<br />
waren 18 Prozent jüdisch, deutlich<br />
mehr als der Anteil der Juden in der Gesamtbevölkerung.<br />
Konversion war dafür<br />
nicht notwendig, und eine Reihe von jüdischen<br />
Offizieren kletterten bis in höchste<br />
Funktionen im Generalstab. Besonders<br />
viele Juden fanden sich im Ärztekorps – in<br />
Friedenszeiten und dann später auch auf<br />
den Schlachtfeldern.<br />
Einige Beispiele für außergewöhnliche<br />
Militärkarrieren von Juden: Leopold<br />
Austerlitz aus Prag diente im Generalstab<br />
der Artillerie als Oberst; Maximilan<br />
Mendel führte als Oberst an der italienischen<br />
Front eine Brigade von Gebirgsjägern,<br />
er wurde geadelt (Maximilan Mendel<br />
von Burghart) und 1917 zum Generalmajor<br />
befördert; Carl Schwarz aus Prag ging kurz<br />
vor dem Ersten Weltkrieg als Generalmajor<br />
in Pension; Tobias Österreicher, Sohn<br />
eines mährischen Kaufmanns, kommandierte<br />
in Lissa das Schlachtschiff „Elisabeth“<br />
und rüstete als Konteradmiral ab.<br />
Appelbaum schreibt, dass im Ersten<br />
Weltkrieg Juden an allen Fronten dienten,<br />
ihre Stellung innerhalb der Armeen<br />
war allerdings sehr unterschiedlich. Am<br />
selbstverständlichsten behandelten die<br />
Italiener ihre jüdischen Kameraden, am<br />
meisten diskriminiert wurde in der zaristischen<br />
russischen Armee. Bei den Deutschen<br />
gab es vor dem Krieg bloß in Bayern<br />
einzelne jüdische Offiziere, die Preußen<br />
erlaubten Beförderungen erst während<br />
des Kriegs. Österreich lag auf dieser Skala<br />
näher bei den Italienern, und auch wenn<br />
es immer wieder antisemitische Ausfälle<br />
gab: Im Großen und Ganzen waren Juden<br />
in den kaiserlichen Armeen gut integriert,<br />
hatten auch ihre Feldrabbiner und bekamen<br />
koscheres Essen. Gekämpft wurde<br />
auch an Hohen Feiertagen, etwa am Jom<br />
© Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
Kippur im italienisch-slowenischen Karst:<br />
„Rosenfeld, statt zu beten und zu fasten,<br />
musste am heiligen Tag als Artilleriebeobachter<br />
dienen. […] Rosenfeld hängte seinen<br />
Tallit um, betete und reparierte zerschossene<br />
Telefonkabel. Er stand an der<br />
Gefechtslinie und betete, beobachtete den<br />
Feind und betete, erfüllte seine Pflicht und<br />
betete, Granaten explodierten in seiner<br />
Nähe, und er betete.“<br />
Verbindungseinheiten. Juden kam in einer<br />
multinationalen Armee eine besondere<br />
Rolle zu. Sie hingen an keiner der zahlreichen<br />
unterschiedlichen Nationalitäten,<br />
von Ruthenen bis Italienern, von Tschechen<br />
bis Ungarn oder Kroaten, ihre Loyalität<br />
galt Österreich beziehungsweise dem<br />
Kaiser direkt. Wegen ihrer Mehrsprachigkeit<br />
wurden sie oft als Verbindungsglieder<br />
zu anders sprechenden Einheiten eingesetzt.<br />
Denn von 1.000 Soldaten sprachen<br />
267 deutsch, 233 ungarisch, 135 tschechisch,<br />
85 polnisch,<br />
81 ukrainisch, 67 kroatisch,<br />
64 rumänisch,<br />
38 slowakisch, 26 slowenisch<br />
und 14 italienisch.<br />
Aber auch die jüdischen<br />
Soldaten waren<br />
alles andere als einheitlich:<br />
In den galizischen<br />
Regimentern<br />
dominierten streng orthodoxe<br />
Mannschaften<br />
aus den Stetln, die jiddisch<br />
sprachen. Bei den<br />
jungen Offizieren aus<br />
Wien oder Prag handelte<br />
es sich zum Gutteil um assimilierte,<br />
urbane deutschsprachige Bildungsbürger.<br />
Vor dem großen Schnitter wurden sie<br />
dann freilich alle gleich. Zwar hatten die<br />
österreichischen Juden bei Kriegsausbruch<br />
zum Großteil die nationale Euphorie<br />
der anderen geteilt, es gab freilich Ausnahmen,<br />
etwa den tief skeptischen Franz<br />
Kafka. Der Präsident der Wiener Israelitischen<br />
Kultusgemeinde ließ wiederum<br />
nach einer Plenarversammlung verlauten,<br />
„dass unsere Söhne mit großem Enthusiasmus<br />
in den Krieg ziehen“. Sie fielen<br />
wie ihre Kameraden anderer Konfessionen<br />
in einer desorganisierten, schlecht geführten<br />
Armee, unter teils schrecklichen Bedingungen.<br />
Sie starben an Kugeln, Schrapnellen,<br />
Frost und Krankheiten. Insgesamt<br />
fielen im Ersten Weltkrieg zwischen 30.000<br />
und 40.000 jüdische Soldaten.<br />
Im Großen und<br />
Ganzen waren<br />
Juden in den<br />
kaiserlichen<br />
Armeen gut integriert,<br />
hatten<br />
auch ihre Feldrabbiner<br />
und<br />
bekamen koscheres<br />
Essen.<br />
Peter C. Appelbaum:<br />
Habsburg Sons. Jews<br />
in the Austro-Hungarian<br />
Army 1788–1918.<br />
Academic Studies Press<br />
2021, 366 S., € 29,99<br />
VORGESCHICHTE UND NACHSPIEL<br />
Die militärische Emanzipation der<br />
österreichischen Juden begann<br />
mit Josef II. Ein hoher preußischer Beamter<br />
und Freimaurer, Christian Konrad<br />
Wilhelm von Dohm, verfasste 1781<br />
eine von den Gedanken der Aufklärung<br />
getragene Schrift, Über die bürgerliche<br />
Verbesserung der Juden. Darin<br />
argumentierte er für die Öffnung<br />
der Armee für Juden, auch wenn das<br />
– wegen der unterschiedlichen Feiertage<br />
und Speisegesetze – praktische<br />
Probleme mit sich brächte. Ab<br />
1788 wurde in Österreich eine Wehrpflicht<br />
auch für Juden eingeführt –<br />
noch einige Jahre vor dem revolutionären<br />
Frankreich. Es begann freilich<br />
mit eher einfachen Diensten, etwa als<br />
Artillerie-Helfer. Doch schon ein Jahr<br />
später wurden erste jüdische Soldaten<br />
auf die Thora angelobt und<br />
in die Infanterie aufgenommen. Die<br />
folgenden Jahrzehnte sahen ein Auf<br />
und Ab jüdischer Integration in die<br />
Armee, aber bereits in napoleonischen<br />
Kriegen und dann wieder in<br />
den Schlachten, die Österreich im 19.<br />
Jahrhundert verlor, etwa 1859 in Solferino<br />
oder 1866 in Königgrätz, starben<br />
Juden für den Kaiser.<br />
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs,<br />
dem Zerfall des Reichs und<br />
der vorläufigen Abrüstung gab es<br />
für Karrieresoldaten kaum Möglichkeiten.<br />
Einer der wenigen war Julius<br />
Deutsch, der zuerst in der Regierung<br />
Renner als Staatssekretär für<br />
das neue österreichische Bundesheer<br />
verantwortlich war, dann als<br />
Obmann den sozialdemokratischen<br />
Schutzbund leitete und im Spanischen<br />
Bürgerkrieg als General auf<br />
Seiten der linken Republik kämpfte.<br />
Er überlebte den Nazi-Terror im Exil<br />
in den USA.<br />
Der ungarische Offizier Béla Kun<br />
(Kohn) hatte in der russischen Gefangenschaft<br />
marxistische Theorien<br />
kennengelernt und wollte diese<br />
nach Kriegsende in Ungarn umsetzen.<br />
133 Tage hielt die Räterepublik,<br />
die er maßgeblich leitete und die sich<br />
kurzzeitig sogar auf die östliche Slowakei<br />
ausdehnte. Dann floh er in die<br />
Sowjetunion und wurde auf der Krim<br />
mit verantwortlich für Massenexekutionen<br />
von mehreren zehntausend<br />
Gegnern der Kommunisten, die sich<br />
schon ergeben hatten. Kun fiel später<br />
selbst den Säuberungen Stalins<br />
zum Opfer.<br />
Nach dem „Anschluss“ Österreichs<br />
1938 nutzte den ehemaligen<br />
jüdischen Soldaten ihre Tapferkeit<br />
nichts; sie wurden ebenso Opfer des<br />
brutalen Terrors wie jüdische Zivilisten.<br />
Sie mussten die ganze Leidensgeschichte<br />
mitmachen, von entwürdigenden<br />
Reibpartien bis zu Flucht<br />
und Exil, Konzentrationslager und Ermordung.<br />
Einige Kriegsveteranen schafften<br />
es nach Palästina. Unter ihnen war<br />
etwa der Artillerieoffizier Sigmund<br />
Edler von Friedmann, der nach dem<br />
Krieg in Wien den Bund jüdischer<br />
Frontsoldaten mit gegründet und<br />
später geleitet hatte. Nach seiner Verhaftung<br />
1938 und der Flucht nach Palästina<br />
änderte er seinen Namen auf<br />
Eitan Avisar. Er wurde stellvertretender<br />
Stabschef der Untergrundarmee<br />
Haganah, avancierte zum Generalmajor<br />
und war im neu gegründeten<br />
Staat Israel Vorsitzender des obersten<br />
Militärgerichts.<br />
32 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
33
Einflussreiches Wien<br />
Neue Modernität<br />
Caroline Wohlgemuth:<br />
Mid-Century<br />
Modern. Visionäres<br />
Möbeldesign aus Wien.<br />
Birkhäuser 2022,<br />
296 S., € 49,95<br />
Wohnraum Werkbundsiedlung,<br />
Haus Nr. 12, nach einem Entwurf von<br />
Josef Frank, Wien um 1932.<br />
Multifunktionaler Stahlrohrsessel<br />
nach einem Entwuf<br />
von Friedl Dicker und Franz<br />
Singer, Wien um 1930.<br />
DIE LEICHTEN,<br />
SCHWEREN WIENER MÖBEL<br />
Ein neuer Bildband würdigt die kreativen Leistungen von Designern<br />
und Designerinnen im Wien der 1920er- und 1930er-Jahre. Die Mehrzahl<br />
von ihnen war jüdisch und musste vor den Nazis fliehen.<br />
Das Wien der Jahrhundertwende<br />
ist mit seinen künstlerischen<br />
Leistungen international<br />
bekannt. „Wien war eine<br />
der kreativsten Metropolen der Welt und<br />
die Stadt des modernen Designs“, schreibt<br />
Caroline Wohlgemuth in ihrem aktuellen<br />
Bildband Mid-Century Modern. Visionäres Möbeldesign<br />
aus Wien. Das betreffe Architekten<br />
wie Josef Hoffmann oder Adolf Loos oder<br />
auch den innovativen Möbelindustriellen<br />
Michael Thonet. „Doch kaum einer kennt<br />
Franz Singer, Ernst Schwadron, Bruno<br />
Von Reinhard Engel<br />
Pollak, Friedl Dicker oder Liane Zimbler<br />
– allesamt MöbeldesignerInnen aus dem<br />
Wien der 1920er- und 1930er-Jahre.“<br />
Wohlgemuth, studierte Juristin und<br />
Kunstmanagerin, schließt diese Lücke<br />
mit einem sorgfältig recherchierten – und<br />
reichlich illustrierten – Buch. Es gibt einen<br />
profunden Überblick über die Vorläufer<br />
und Lehrer der kreativen Möbelentwerfer,<br />
beschreibt die einzelnen Strömungen,<br />
die politisch-ökonomischen Verwerfungen<br />
der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg – und<br />
dann die Folgen des Nazi-„Anschlusses“<br />
© Birkhäuser Verlag; Martin Gerlach jun./© Wien Museum; Sammlung GS,/© FS<br />
1938. „Die Geschichte des Wiener Möbeldesigns<br />
ist jedoch auch eine Geschichte<br />
der Flucht, der Emigration und der Vertreibung<br />
der intellektuellen und kreativen<br />
Elite Österreichs“, erläutert Wohlgemuth.<br />
Der überwiegende Anteil dieser Elite<br />
war jüdisch, darunter besonders viele<br />
Frauen als erste Absolventinnen der Technischen<br />
Hochschule (heute TU) oder der<br />
Kunstgewerbeschule. Friedl Dicker wurde<br />
in Auschwitz ermordet, viele andere wurden<br />
deportiert, mussten fliehen, und nicht<br />
allen gelang es, im Ausland neu anzufangen<br />
oder gar erfolgreich zu werden. Auch<br />
diese Beispiele finden sich gut dokumentiert<br />
im Buch. Kaum überraschend gab es<br />
nur eine ganz kleine Zahl von Emigranten,<br />
die nach 1945 zurückkehrten und den Neustart<br />
schafften.<br />
Die Vorgeschichte. Wien hatte schon im Biedermeier<br />
ein protoindustrielles designorientiertes<br />
Unternehmen: Die Möbelfabrik<br />
Danhauser beschäftigte Anfang des<br />
19. Jahrhunderts 130 Mitarbeiter, darunter<br />
viele gut ausgebildete Kunsttischler, und<br />
exportierte einen Teil der Produktion. Der<br />
große Durchbruch für die Symbiose aus Design<br />
und Massenfertigung folgte dann in<br />
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.<br />
Der aus dem Rheinland zugewanderte<br />
Michael Thonet wurde mit seinen Bugholzmöbeln<br />
schnell erfolgreich und avancierte<br />
zum internationalen Markenartikler<br />
mit mehreren Fabriken, Flagship-Stores in<br />
den Hauptstädten Europas und in den USA<br />
mit sowie einem umfangreichen Bestellkatalog.<br />
Und auch dem Unternehmen Jacob &<br />
Josef Kohn – „schärfster Konkurrent“ von<br />
Thonet – gelang die Internationalisierung<br />
– ebenfalls mit industriell gefertigten Möbeln<br />
und modernem Design.<br />
Als weitere Vorbedingung für die spätere<br />
Blüte sieht Wohlgemuth das Interesse<br />
renommierter Architekten für Möbelentwürfe,<br />
es gab damals noch keine spezialisierte<br />
einschlägige Ausbildung. Und dann<br />
öffneten sich – zögerlich – die Türen der<br />
höheren Schulen und Universitäten für<br />
Frauen. Diese nahmen die Angebote an,<br />
vor allem aus jüdischen bürgerlichen Familien.<br />
Doch die politische Entwicklung sorgte<br />
für eine mächtige Zäsur. „Der Ausbruch<br />
des Ersten Weltkriegs 1914 bedeutete eine<br />
abrupte Unterbrechung der Wiener Moderne.<br />
[…] Damit ging in Wien eine Ära zu<br />
Ende. Der Einfluss Wiens auf die Entwicklung<br />
des europäischen Möbeldesigns war<br />
jedoch enorm.“<br />
Die Blütezeit. Der verlorene Krieg und die<br />
Zerschlagung des Habsburgerreichs hatten<br />
die ökosozialen Bedingungen für die Designbranche<br />
grundlegend verändert. Während<br />
Wiener Werkstätte und Stararchitekten<br />
vorwiegend für den Adel und das<br />
Großbürgertum gearbeitet hatten, sich in<br />
Gesamtkunstwerken von Villen oder Repräsentativbauten<br />
verwirklichten, waren<br />
nun andere Probleme drängender: Wohnungsnot,<br />
strikte Ökonomisierung der<br />
Wohnungsgrößen, sparsames Umgehen<br />
mit Materialien.<br />
Mit diesen Voraussetzungen arbeiteten<br />
die jungen Männer und Frauen, großen<br />
Einfluss hatte auf sie vor allem Adolf Loos,<br />
der zwar nicht an der Universität unterrichtete,<br />
aber in informellen Kreisen seine<br />
Ansichten von Modernität – ohne „verbrecherische<br />
Ornamente“ – weitergab. Internationale<br />
Einflüsse kamen von der angloamerikanischen<br />
Arts-and-Craft-Bewegung<br />
und dann natürlich vom deutschen Bauhaus,<br />
wo einige österreichisch-ungarische<br />
Als weitere<br />
Vorbedingung<br />
für die spätere<br />
Blüte sieht<br />
Wohlgemuth<br />
das Interesse<br />
renommierter<br />
Architekten<br />
für Möbelentwürfe.<br />
34 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
35
Neues Wiener Wohnen<br />
Gemischtes Ensemble. Lampen von<br />
Louis Kalff und Serge Mouille, der Couchtisch<br />
von Nanna Ditzel, die Tischlampe von Gabriella<br />
Crespi und der Fauteuil von Marco Zanuso.<br />
die Ateliergemeinschaft Singer & Dicker<br />
sowie die Werkbundsiedlung in Wien-<br />
Hietzing als „Höhepunkt modernen Möbeldesigns“<br />
und sozialen Wohnbaus. Beim<br />
Werkbund ließ sich dräuendes Unheil bereits<br />
erahnen: Nach der Machtübernahme<br />
der Nazis in Deutschland spaltete sich dieser<br />
in Österreich, einer der Nachfolger, der<br />
Neue Werkbund Österreich, schloss Juden<br />
als Mitglieder aus.<br />
Entwurf des Kistenkastens<br />
von Friedl<br />
Dicker und Franz<br />
Singer, Wien um 1927.<br />
„In Wien entwickelte<br />
sich<br />
in diesen Jahren<br />
eine ganz<br />
spezifische<br />
Ausprägung<br />
des modernen<br />
Möbeldesigns.“<br />
Caroline<br />
Wohlgemuth<br />
Talente studierten oder arbeiteten, etwa<br />
Friedl Dicker und Marcel Breuer.<br />
„In Wien entwickelte sich in diesen Jahren<br />
eine ganz spezifische Ausprägung des<br />
modernen Möbeldesigns“, weiß Wohlgemuth.<br />
„Es kam zu einer Blüte der Innenarchitektur<br />
und des Möbeldesigns.“ Die Kreativität<br />
schien unerschöpflich. „Die neue<br />
Zeit verlangte nach neuen Möbeln, die sich<br />
durch eine Vielfalt an Formen, Leichtigkeit,<br />
raffinierten Details sowie eine hervorragende<br />
handwerkliche Qualität und<br />
Verarbeitung auszeichneten.“<br />
Die Bewegung wurde auch unter dem<br />
Namen „Neues Wiener Wohnen“ bekannt,<br />
Oskar Strnad, Josef Frank und Oskar<br />
Wlach galten als hervorragende Vertreter,<br />
darüber hinaus Walter Sobotka oder<br />
Ernst Lichtblau. Doch anders als zur Zeit<br />
der Wiener Moderne blieben die männlichen<br />
Kreativen nun nicht mehr unter<br />
sich. „Unter den ersten Architektinnen<br />
und Möbeldesignerinnen befanden sich<br />
großteils junge, moderne Frauen aus jüdischen<br />
Familien. Sie waren akademisch<br />
gebildet, weltoffen, überzeugte Feministinnen,<br />
setzten sich für Frauenrechte und<br />
soziales Wohnen ein und bewiesen neben<br />
ihrer unerschöpflichen Kreativität ein<br />
enormes persönliches Durchsetzungsvermögen.“<br />
Die Liste dieser Designerinnen<br />
ist lang. Auf ihr finden sich neben Dicker<br />
etwa Ella Baumfeld, Margarete Schütte-Lihotzky,<br />
Rosa Weiser, Felice Rix oder Jacqueline<br />
Groag.<br />
Drei besondere Bespiele der kreativen<br />
Zusammenballung dieser Zeit beschreibt<br />
Mid-Century Modern noch etwas genauer:<br />
Haus & Garten, das Einrichtungsunternehmen<br />
von Josef Frank und Oskar Wlach,<br />
Vertreibung und Flucht. Eine Reihe kreativer<br />
Designerinnen und Architekten hatten<br />
schon im Laufe der 1930er-Jahre aufgrund<br />
des Antisemitismus Deutschland und Österreich<br />
verlassen. Ab dem „Anschluss“<br />
1938 musste dann die überwiegende Zahl<br />
der in Österreich in der Branche Tätigen<br />
fliehen. So „verlor Wien innerhalb weniger<br />
Jahre fast sein gesamtes intellektuelles,<br />
modernes und visionäres Potential an ArchitektInnen<br />
und MöbeldesignerInnen.“<br />
Die – oft sehr weiten – Wege lesen sich<br />
lakonisch im umfangreichen biografischen<br />
Teil des Buches. Nach dem Namen<br />
als Überschrift folgen Geburts- und Todesorte.<br />
Eine kleine Auswahl: Friedl Dicker<br />
Wien–Auschwitz; Paul Engelmann<br />
Olmütz–Tel Aviv; Friedrich Kiesler Czernowitz–New<br />
York; Ernst Freud Wien–London;<br />
Felice Rix-Ueno Wien–Kyoto; Ernst Schwadron<br />
Wien–New York; Dora Gad Langenau–<br />
Caesarea; Martin Eisler Wien–Brasilia.<br />
Manchen gelang es, auch an ihren<br />
neuen Wohn- und Arbeitsorten an frühere<br />
Erfolge anzuschließen, auch örtlich<br />
Einfluss auf die Möbelbranche auszuüben.<br />
Dafür steht etwa Josef Frank in seiner Zeit<br />
in Schweden – neben Möbelentwürfen<br />
haben seine Stoffdesigns bis heute überlebt.<br />
Nur bei ganz wenigen steht am Beginn<br />
und am Ende ihres Lebens die Adresse<br />
Wien, so bei Ernst Lichtblau. Ähnlich<br />
wie in anderen Bereichen der Gesellschaft<br />
wurden auch die Designerinnen und Designer<br />
nicht gerade laut in ihre frühere Heimat<br />
zurückgerufen.<br />
Mid-Century Modern präsentiert einen<br />
auch heute noch oft unterschätzten Höhepunkt<br />
Wiener Kreativität. Das Buch lässt<br />
einen staunen über die Leistungen und<br />
schaudern über die ungerührte Brutalität,<br />
mit der eine kleine, feine Branche zerstört<br />
wurde und diese tragenden Frauen<br />
und Männer unfreiwillig in alle Himmelsrichtungen<br />
zerstreute.<br />
© Stephanie Weinhappel; FS<br />
36 wına | April 2022
LEBENS ART<br />
Das große Putzen<br />
Pessach steht vor der Tür – und somit wedeln die Feudel, Besen und Staubsauger<br />
wieder durch die Haushalte. Damit auch das letzte Krümelchen<br />
Chametz keine Chance hat, hat WINA hier ein paar saubere Produkte<br />
zusammengestellt.<br />
Fremde Federn<br />
Das altmodische Gerät sieht auf<br />
den ersten Blick aus, als sei seine<br />
Existenzberechtigung mit der Erfindung<br />
des Mikrovliestuchs untergegangen.<br />
Aber keineswegs: Straußenfedern<br />
binden Staub elektrostatisch. Empfindliche<br />
Gegenstände und Möbeloberflächen können so<br />
sanft, aber gründlich gereinigt werden.<br />
manufactum.at<br />
Zum Fressen gern<br />
Was wird seit über 100 Jahren nicht alles mit<br />
Schmitzols „Wiener Kalk“ auf Hochglanz poliert:<br />
Edelstahl, Silber, Chrom, Messing, Glas, Keramik,<br />
Kunststoffe! Und das völlig umweltfreundlich,<br />
denn das Wundermittel ist ein reines Naturprodukt.<br />
Der Kalk ist sogar bei versehentlichem<br />
Verzehr unschädlich (schmeckt jedoch auch<br />
nicht besonders gut).<br />
Z. B. über nowwow.shop<br />
Echter Feger<br />
Die Blinden- und Sehbehinderten<br />
Förderungswerk<br />
GmbH (bsfw.at) ist eine Arbeitsund<br />
Ausbildungsstätte, in der<br />
Menschen vorwiegend mit Sehbehinderungen<br />
zum Besen- und Pinselmacher ausgebildet<br />
werden. Was diese Werkstatt verlässt, ist also nichts<br />
als mit viel Präzision und Fingerfertigkeit hergestelltes<br />
Handwerk – etwa dieser tolle Handbesen aus<br />
Buchenholz mit handgezogenen Kokosfasern.<br />
Z. B. über goodgoods.at<br />
Tolle Tonne<br />
Der ikonische „Kickmaster CL Mülleimer“ lässt sich durch<br />
einen einfachen Fußtritt leicht öffnen und schließt dank<br />
des eingebauten Dämpfers wieder geräuschlos. Die beiden<br />
Klappen auf der Oberseite garantieren nicht nur einen<br />
einfachen Einwurf des Abfalls, sondern verschließen<br />
den Müll samt Geruch sicher. In vielen Farben erhältlich!<br />
wesco.de<br />
Feudeln mit Freude<br />
Superkluger Sauger<br />
Wenn der Staubsauger intelligenter ist als<br />
man selbst, wird’s brenzlig. Oder sehr sauber!<br />
Der „Dyson V15 Detect“ kommt tatsächlich<br />
mit einem präzise ausgerichteten<br />
Laser, der unsichtbaren Staub auf<br />
Hartböden sichtbar macht. Dabei errechnet<br />
ein Sensor kontinuierlich die<br />
Anzahl und Größe der aufgesaugten<br />
Staubpartikel – und erhöht die<br />
Saugkraft bei Bedarf automatisch.<br />
dyson.at<br />
Flash-Mopp<br />
Dieser amerikanische Wollmopp sieht nicht nur<br />
aus, als würde er sich auf jeder Bühne gut<br />
machen. Er könnte sie auch mit links blitzeblank<br />
reinigen (solang sie aus Parkett, Laminat oder<br />
Fliesen besteht). Sein Geheimnis: Die Wollfasern<br />
binden mit dem in ihnen enthaltenen Lanolin<br />
die Staubpartikel außerordentlich gut.<br />
Z. B. über manufactum.at<br />
Eine staubtrockene Anleitung für Menschen,<br />
„die eigentlich keine Lust auf Putzen haben“ –<br />
ergo: für alle! Die in Hamburg lebende Wiener<br />
Autorin Sigrid Neudecker gibt in Sauber! leicht<br />
umsetzbare Tipps, wie man sein Heim ohne<br />
übermäßigen Mittel- und Körpereinsatz sauber<br />
bekommt und diesen Zustand auch beibehalten<br />
kann. Inklusive Checklisten, Psychotest und<br />
Soforthilfe für jeden Raum.<br />
piper.de<br />
Heil’ges Blechle<br />
Ein Two-in-one-Produkt für Saubermänner<br />
und -frauen: Mit den Silikonborsten<br />
des Handfegers „Sweep“ lassen<br />
sich feuchte wie trockene Dinge<br />
auf das passende Kehrblech schieben.<br />
Wenn der Handfeger nicht in<br />
Gebrauch ist, wird er einfach in das<br />
Kehrblech gesteckt, und das Set<br />
kann platzsparend verstaut werden.<br />
evasolo.com<br />
Fotos: Hersteller<br />
wına-magazin.at<br />
37
Liebe wina-Redaktion,<br />
in der Pessach-Haggada heißt es, dass sich der Mensch<br />
in jeder Generation so betrachten soll, als sei er selbst<br />
aus Ägypten ausgezogen sei. Die Elemente und Rituale<br />
des Seders bringen das zum Ausdruck. Was für mich<br />
aber immer rätselhaft geblieben ist, ist die Geschichte<br />
des Afikomans. Könnt ihr mich erhellen, was es mit<br />
diesem Stück der am Seder gegessenen Mazze auf sich<br />
hat und warum es während des Mahls versteckt wird?<br />
<br />
D<br />
Laura C.<br />
ann holen wir die Erklärung mal aus ihrem<br />
Versteck. Drei Mazzot liegen auf der<br />
festlichen Seder-Tafel – als Sinnbild für die drei<br />
Arten von Juden, Kohanim, Levi’im und Jisraelim.<br />
Zu Beginn der Feier wird bei den Segenssprüchen<br />
die mittlere Mazza in zwei ungleiche<br />
Teile (Jachaz) gebrochen und der größere<br />
Teil, den wir Afikoman nennen, während des<br />
Mahls verborgen. Dafür bieten heute manche<br />
Onlineshops als stilvolles Pessach-Accessoire<br />
aufwendig gestaltete „Afikoman-Bags“ an. Der<br />
Höhepunkt des Abends ist erreicht, wenn das<br />
verborgene Mazzastück wieder auf der Tafel erscheint<br />
und vor dem dritten Becher Wein verspeist<br />
wird.<br />
Aus dem Verbergen des Afikomans hat sich<br />
in vielen Familien ein Spiel entwickelt: Der<br />
Seder kann erst beendet werden, wenn eines<br />
der Kinder den Afikoman wiedergefunden hat<br />
und eine Belohnung für dessen Rückgabe verhandelt<br />
wurde. Nach einer anderen Tradition<br />
versteckt eines der Kinder den Afikoman und<br />
wird mit einem kleinen Geschenk oder einer<br />
Art „Lösegeld“ (wie wäre es mit Schokoladentalern,<br />
Rezept anbei?) belohnt, gegen welches<br />
es den Afikoman eintauscht. Weil das Verspeisen<br />
des Afikomans das Sedermahl abschließt, haben die Kinder<br />
damit maßgeblichen Einfluss auf die Länge des Festabends – und<br />
natürlich ihren Spaß.<br />
So oder so: Der Brauch ist „erst“ seit dem Mittelalter fester Bestandteil<br />
des Rituals. In der Thora lässt sich kein Hinweis auf diese<br />
Tradition finden. Und im Talmud ist nur von einer<br />
Mazza, die gebrochen wird, die Rede<br />
(Pessachim 115).<br />
Die Wurzeln des Brauchs reichen jedoch<br />
weit in die Antike zurück. Manche<br />
Quellen leiten die Bezeichnung<br />
aus dem Aramäischen von Afiko und<br />
Kamen ab für „vor uns herausziehen“,<br />
38 wına | April 2022<br />
WINA KOCHT<br />
Was hat Anlehnen mit Freiheit zu tun,<br />
… und wieso wird ein Stück Mazze versteckt? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher Rätsel,<br />
die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte:<br />
Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
SÜSSES AFIKOMAN-<br />
LÖSEGELD:<br />
SCHOKOLADENTALER<br />
ZUTATEN (für ca. 30 Stück):<br />
200 g vegane Zartbitterschokolade<br />
1 EL Ahornsirup<br />
1 EL Kokosöl<br />
¼ Tasse gehackte Pistazien<br />
¼ Tasse gefriergetrocknete<br />
Himbeeren in Stücken<br />
1 Prise Salz<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Kokosöl, Ahornsirup und Salz in einem<br />
Topf erhitzen. 2 bis 3 Minuten leicht<br />
köcheln lassen, bis die Mischung etwas<br />
eindickt. Gehackte Pistazien einrühren.<br />
Masse auf ein mit Backpapier<br />
ausgelegtes Blech gießen und verteilen,<br />
sodass die Pistazien nicht aneinander<br />
kleben. Abkühlen lassen.<br />
Schokolade über einem Wasserbad<br />
erhitzen, bis sie durchgeschmolzen ist<br />
und ca. 45 °C bis 50 °C heiß ist.<br />
Vom Herd nehmen und fünf Minuten<br />
abkühlen lassen.<br />
Backpapier auf der Arbeitsfläche ausbreiten.<br />
Esslöffelweise runde Taler<br />
aus der Schokolade auf das Papier<br />
gießen. Die Taler mit den Karamellpistazien<br />
und Himbeeren bestreuen, solange<br />
sie noch flüssig sind. Himbeer-<br />
Pistazien-Schokotaler im Kühlschrank<br />
für mindestens 30 Minuten auskühlen<br />
lassen und dann vorsichtig vom<br />
Backpapier abziehen.<br />
Kühl und luftdicht lagern.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />
schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
was in Hinblick auf das Verstecken und Wiederauftauchen<br />
des Mazzestücks durchaus logisch<br />
erscheint.<br />
Andere sagen wiederum, der Name „Afikoman“<br />
komme aus dem Griechischen, bedeute<br />
so viel wie „Dessert“ und nehme Bezug<br />
darauf, dass man nach dem Pessachmahl<br />
nicht mehr an anderen profanen Feierlichkeiten<br />
teilnehmen sollte (Pessachim 119b).<br />
Später deuteten die Rabbiner das als Verbot,<br />
nach dem Pessachlamm noch eine andere<br />
Speise zu essen. Da seit der Zerstörung<br />
des Zweiten Tempels keine Opferungen mehr<br />
stattfinden, wurde das Pessachlamm symbolisch<br />
durch die Mazza ersetzt, die seit dem<br />
Mittelalter selbst als Afikoman bezeichnet<br />
wird.<br />
Die Bezeichnung lässt aber auch andere<br />
Deutungsmöglichkeiten zu. Sie könnte auch<br />
auf den griechischen Begriff „Aphikomenos“<br />
zurückgehen für „der da kommen soll“. Die<br />
Mazza gilt dann nicht nur als Reminiszenz<br />
an das Lamm, sondern kann auch als Verheißung<br />
der Erlösung Israels und als Hinweis auf<br />
den Messias gedeutet werden. So wie ohne<br />
Messias keine Erlösung zuteilwerden kann,<br />
kann auch der Seder ohne Afikoman kein<br />
Ende finden.<br />
Servus und Shalom,<br />
könnt Ihr mir erklären, warum wir uns auf die linke<br />
Seite neigen und anlehnen, wenn wir beim Seder zum<br />
Beispiel den Wein trinken und Mazze essen? Und warum<br />
gilt diese Haltung als Zeichen der Freiheit?<br />
D<br />
Gregor M.<br />
er Brauch stammt aus der Antike. Damals<br />
lagen freie Menschen bei den<br />
Mahlzeiten auf gepolsterten Liegen. Sie ruhten dabei auf dem<br />
linken Arm und Ellbogen und nahmen das Essen mit der rechten<br />
(reinen) Hand auf – so wollte es die Etikette, auch für Linkshänder.<br />
Freie aßen und tranken also in einer sehr bequemen, entspannten<br />
Haltung. Sklaven hingegen mussten stets abrufbereit<br />
sein und durften nur sitzen. Am Seder glichen die Juden der<br />
Mischnazeit (d. h. Römerzeit) ihr Verhalten dem ihrer nichtjüdischen<br />
aristokratischen Nachbarn an, um zu zeigen, dass sie in<br />
der Sedernacht so frei und ungezwungen waren wie alle anderen<br />
auch. Gleichzeitig erinnert das Ritual daran, dass G-tt die Israeliten<br />
aus Ägypten herausgeführt und sie „mit starker Hand und<br />
ausgestrecktem Arm“ zu freien Menschen gemacht hat.<br />
© 123RF<br />
Mato Johannik<br />
IKG.KULTUR PRÄSENTIERT<br />
DIE HIGLIGHTS IM<br />
FRÜHLING/SOMMER 2022<br />
Dvori Barzilais Ausstellung<br />
„Shirat Dvora“<br />
09. bis15. Juni 2022<br />
Kunstraum Nestroyhof<br />
IKG/Morgensztern<br />
Mehr Infos unter:<br />
www.ikg-wien.at/kultur<br />
Lea Kalisch & Bela Koreny<br />
„Heute Abend: So wie<br />
musikalisch, aber leakalisch!“<br />
14. Juni 2022<br />
20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />
Mehr Infos und Tickets unter:<br />
www.porgy.at/events/10894/<br />
Ethel Merhaut & Wladigeroff<br />
Brothers ‚Tif vi di Nakht‘<br />
23. Mai 2022<br />
20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />
Mehr Infos und Tickets unter:<br />
www.porgy.at/events/10842/<br />
Das Jüdische Straßenfest<br />
12. Juni 2022<br />
14:30 bis 20:00 Uhr, Judenplatz<br />
Mehr Infos unter:<br />
www.ikg-wien.at/kultur<br />
privat<br />
Liz Doz<br />
wına-magazin.at<br />
39
Rabbi vom Rhein<br />
Sederabende<br />
mit Heinrich Heine<br />
Als der „Der Rabbi von Bacherach“ bei<br />
uns daheim zu Gast war.<br />
Von Anita Pollak<br />
„Jeder, der<br />
hungrig ist,<br />
komme<br />
und esse!“<br />
Pessach-Hag ga da<br />
Heinrich Heine war so etwas<br />
wie der literarische Hausg-tt<br />
in vielen bildungsbürgerlichen<br />
jüdischen Familien.<br />
© akg-images / picturedesk.com; 123RF<br />
Gäste, bekannte, aber auch kaum<br />
bekannte, am Sedertisch willkommen<br />
zu heißen, Menschen,<br />
die keine Familie haben, Reisende<br />
und natürlich auch Flüchtlinge<br />
einzuladen, ist seit jeher Brauch und eine<br />
Mitzwa, sprich eine gute Tat. Heißt es doch: „Jeder,<br />
der hungrig ist, komme und esse! Jeder, der<br />
in Not, komme und feiere mit uns das Pessachfest!“<br />
Waren wir an dieser Stelle der Hag ga da angelangt,<br />
trat in meinem Elternhaus immer ein<br />
ganz besonderer Gast unsichtbar auf: der Rabbi<br />
von Bacherach. Denn alljährlich erzählte mein<br />
Vater, der den Seder nicht nur routiniert leitete,<br />
sondern über die Texte der Hag ga da hinaus<br />
mit zahlreichen Episoden zu würzen pflegte,<br />
Heinrich Heines Geschichte aus dunkler Vorzeit<br />
nach.<br />
Und wir Kinder warteten darauf mit derselben<br />
Angstlust, mit der wir später die Wohnungstür<br />
öffneten, um als letzten Gast den Propheten<br />
Elijahu einzulassen, für den ein Becher Wein in<br />
der Mitte des Tisches bereitstand.<br />
In unserer Kindheit waren die Haustore in<br />
der Stadt noch nicht verschlossen, sodass theoretisch<br />
auch Fremde Zutritt gehabt hätten.<br />
Solange also laut gesungen wurde, „Gieße aus<br />
deinen Grimm über die Völker […]“, bis es erlösend<br />
hieß, „Ihr könnt die Türe wieder schließen!“,<br />
solange fürchtete ich mich. Und das eben<br />
auch wegen des Rabbis von Bacherach. Heinrich<br />
Heine war ja so etwas wie der literarische<br />
Hausg-tt in vielen bildungsbürgerlichen jüdischen<br />
Familien, und einige seiner Gedichte waren<br />
uns schon früh vertraut. „Keine Messe wird<br />
man singen, keinen Kadosch wird man sagen“,<br />
zitierte mein Vater immer warnend Heines Dilemma<br />
als getaufter Jude.<br />
Ritualmord-Legende. In seinem unvollendeten<br />
Prosafragment über Rabbi Abraham aus dem<br />
idyllischen Städtchen am Rhein spiegeln sich die<br />
beiden Seelen des deutschen Juden wie in wenigen<br />
anderen seiner Werke. Als Heinrich Heine<br />
(1797–1856) vermutlich um 1840 seine Erzählung<br />
schrieb, war die Legende vom Ritualmord, dass<br />
also Juden das Blut christlicher Kinder für religiöse<br />
Zwecke gebrauchen, bereits ebenso uralt<br />
wie unausrottbar und offenbar in Europa wieder<br />
einmal aufgeflammt.<br />
Heine blendet zurück in das späte 15. Jahrhundert,<br />
die Lebenszeit des Rabbi, dem wiederum<br />
die im Volk fest verankerte Historie vom angeblichen<br />
Ritualmord an dem Knaben Werner<br />
von Bacherach aus dem Jahr 1287 mitsamt dem<br />
anschließend blutigen Pogrom wohl bewusst ist,<br />
als sich zwei Männer in weiten, dunklen Gewändern<br />
auf die Einladung: „Jeder, der hungrig ist<br />
[...]“ an die von ihm angeführte Sedertafel setzen.<br />
Mit Entsetzen erspürt er mit seinem Fuß<br />
plötzlich, dass ihm ein Kinderleichnam untergeschoben<br />
wurde, und weiß auf der Stelle, was<br />
das für ihn und seine Gemeinde bedeutet. Er erbleicht,<br />
fasst sich aber bald, und als das festliche<br />
Mahl bevorsteht, ergreift er die Hand seiner<br />
schönen Frau Sara und flieht mit ihr in einem<br />
Kahn über den nächtlichen Rhein, der die Melodien<br />
der „Agade“ zu murmeln scheint, ein schönes<br />
Wunschbild der Vereinigung des urdeutschen<br />
„Vater Rhein“ mit dem jüdischen Erbe.<br />
Anderntags landet das Paar in Frankfurt und<br />
sucht im Ghetto die Synagoge auf, wo der Rabbi<br />
beim Feiertagsg-ttesdienst „Gomel benscht“,<br />
das heißt das Dankgebet nach Errettung aus Lebensgefahr<br />
und anschließend das Kaddisch sagt,<br />
das Totengebet für seine in Bacherach verbliebenen<br />
Verwandten. Mit einer satirischen Schilderung<br />
der reichen Frankfurter Gemeindemitglieder,<br />
Juwelen behängten tratschenden Frauen<br />
und dem Auftritt eines spanischen Ritters, der<br />
sich zwar vom Judentum losgesagt hat, aber nach<br />
wie vor die jüdische Küche liebt, bricht das tragische<br />
Fragment fast humorvoll jäh ab.<br />
So ist es, so war es offenbar immer schon, und<br />
wie wunderbar ist all das getroffen! Heines intime<br />
Kenntnis der jüdischen Welt, die er wie sein<br />
spanischer Ritter verlassen wollte, was ihm aber<br />
nie gelang, schlägt sich im Großen und Kleinen<br />
nieder, in Atmosphäre und Gesellschaftsbild<br />
und nicht zuletzt in den liebevoll geschilderten<br />
Details der Seder-Gebräuche, von den rituellen<br />
Speisen, den Gebeten und Gesängen. Das Lied<br />
Chad gadja, vom „Böcklein“, dessen Tod gerächt<br />
wird, eine Metapher für das jüdische Volk, legt<br />
er einem Possen reißenden Narren in den Mund,<br />
der ernst endet. „Einst kommt der Tag, wo der<br />
Engel des Todes den Schlächter schlachten wird,<br />
und all unser Blut kommt über Edom.“<br />
Längst ist der Rabbi vom Rhein nicht mehr<br />
Gast an unserem Sedertisch. Kinder darf man<br />
heutzutage mit derart grausigen Geschichten ja<br />
nicht ängstigen, sie beschäftigt weit mehr, welche<br />
Geschenke sie für das Auffinden des Afikoman<br />
bekommen könnten. Unsere Haustore sind<br />
fest verschlossen, kein Fremder begehrt Einlass,<br />
nur das Glas für Elijahu bleibt nach wie vor unberührt.<br />
Mir geht es aber alljährlich an besagter<br />
Stelle der Hag ga da wie Heinrich Heine mit seiner<br />
Loreley vom Rhein: „Ein Märchen aus alten<br />
Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn“, und<br />
ich sehne mich nach den Sederabenden in meinem<br />
Elternhaus.<br />
„Einst kommt<br />
der Tag, wo der<br />
Engel des Todes<br />
den Schlächter<br />
schlachten<br />
wird.“<br />
40 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
41
HIGHLIGHTS | 03<br />
Am Anfang:<br />
ein Bild<br />
„Die Fotografinnen Nini und Carry Hess“:<br />
eine Schau im Frankfurter Museum Giersch<br />
erkstätte für die Lichtbildkunst“, Börsenstraße<br />
2, Ecke Rathenauplatz, Frankfurt<br />
„W<br />
am Main. Innenstadtlage also, nicht weit von der<br />
Hauptwache und dem Goethehaus entfernt. Mit<br />
diesem Firmennamen plus soignierter Adresse<br />
warben 1920 Nini und Carry Hess in der viel gelesenen<br />
Zeitschrift Die Dame für sich. Da betrieben<br />
die beiden Schwestern gemeinsam bereits seit sieben<br />
Jahren ihr Fotoatelier. Nini, geboren 1884, und<br />
die um fünf Jahre jüngere Carry waren innovativ,<br />
imaginativ begabt und gefragt, beim Theater (Carl<br />
Zuckmayer) und fürs Porträt (Albert Schweitzer),<br />
aber auch für Tanz-, Architektur- und Modeaufnahmen.<br />
Nun ist fast 80 Jahre nach Ninis Tod in einem<br />
Konzentrationslager und 65 Jahre nach Carrys<br />
Tod erstmals eine Retrospektive mit rund 120<br />
Vintage-Prints zu sehen.<br />
Die Fotografinnen Nini und Carry<br />
Hess im Frankfurter Museum Giersch<br />
am Mainufer, nur einen Steinwurf vom<br />
großen Städel Museum und dem pittoresken<br />
Liebieghaus, dem Museum<br />
für Skulpturales wie für Watteau, entfernt,<br />
ist eine Entdeckung. Dass hier so<br />
manches Hochinteressante zu sehen<br />
ist, verdankt sich jahrelanger mühselig<br />
detektivischer Recherchearbeit, war<br />
doch im November 1938 ihr Archiv zerschlagen<br />
worden. A.K.<br />
Wall Drawing<br />
#528G aus dem<br />
Jahr 1987 von Sol<br />
LeWitt (re.).<br />
Nini & Carry Hess:<br />
Mary Wigman in<br />
Die sieben Tänze<br />
des Lebens, 1921.<br />
Am Anfang:<br />
die Idee<br />
Umfassende Sol-LeWitt-Ausstellung<br />
im Jüdischen Museum in Brüssel<br />
Das Ausprobieren und in die Welt bringen<br />
war wohl family business bei Solomon Le-<br />
Witt. 1928 kam er in Hartford im US-Ostküstenbundesstaat<br />
Connecticut zur Welt, seine Mutter<br />
war Hebamme, sein Vater ein Arzt, der in<br />
seiner Ordination unablässig chirurgische Gerätschaften<br />
ersann, beide waren aus Russland<br />
nach Amerika emigriert.<br />
40 Jahre später gehörte Sol, wie er seinen<br />
Vornamen abzukürzen pflegte, zu jener Kunstbewegung<br />
Jüngerer, die mit dem inzwischen<br />
arg müde gewordenen abstrakten Expressionismus<br />
brachen und Konträres produzierten:<br />
Geometrisches, Reduziertes, Konzeptionen<br />
statt Pinselstriche.<br />
Er war einer der Pioniere der Konzeptkunst<br />
ab den 1960er-Jahren, in dem, wie er selbst 1967<br />
schrieb, die „Idee oder das Konzept der wichtigste<br />
Aspekt“ des Kunstschaffens sei. Die Ausführung?<br />
Sei nachrangig. So fielen denn auch<br />
Le Witts Projektexekutivvorschreibungen in den<br />
nächsten fünf Jahrzehnten, bis zu seinem Tod<br />
2007, ausführlich und höchst penibel aus.<br />
Das Musée Juif de Belgique in Brüssel hat nun<br />
in einer Ausstellung seine Wall Drawings, Works<br />
on Papers, Structures (1968–2002) zusammengeführt.<br />
Dabei kann man luzide verfolgen, wie luzide<br />
LeWitts künstlerischer Weg in eine fast mystische<br />
Ruhe voranschritt. A.K.<br />
DIE FOTOGRAFINNEN NINI & CARRY HESS<br />
Museum Giersch der Goethe-Universität,<br />
Frankfurt am Main<br />
bis 22. Mai 2022<br />
mggu.de<br />
MUSIKTIPPS<br />
SOL LEWITT. WALL DRAWINGS, WORKS<br />
ON PAPER, STRUCTURES (1968–2002)<br />
Jüdisches Museum von Belgien, Brüssel<br />
bis 1. Mai 2022<br />
mjb-jmb.org<br />
COHEN<br />
Ja, eh, das Münchner Jazz-Label<br />
ECM, Heimat von Keith Jarrett<br />
e tutti quanti. Erst fünf Sekunden Pause,<br />
dann meditativer Kammerjazz. Naked Truth<br />
von Avishai Cohen erfüllt all diese ECM-Klischees.<br />
Und überschreitet sie. Es ist das improvisierteste<br />
Album des Trompeters, vielleicht<br />
das suggestivste. Mit Yonathan Avishai<br />
(Piano), Barak Mori am Kontrabass und Ziv Ravitz<br />
(Drums) musiziert er auf hohem Niveau.<br />
GLASS<br />
Es gibt sie noch, die Überraschun-<br />
gen. Etwa die Symphonie Nr. 14,<br />
„The Liechtenstein Suite“ (Orange Mountain),<br />
von Philip Glass, inzwischen 84. Für eine klei-<br />
nere Besetzung, das sehr junge Ensemble LGT<br />
Young Soloists aus Liechtenstein, geschrie-<br />
ben und eine Rückkehr zu seinen suggestiven<br />
Minimal-Music-Wurzeln. Dazu gibt es auf der<br />
CD neben der Weltersteinspielung als älpleri-<br />
sches Encore das Tirol Concerto.<br />
AMERICA<br />
Fast möchte man à la West Side<br />
Story „I wanna be in America“ singen<br />
, sobald man in America (Deutsche Grammophon),<br />
das jüngste Themenalbum des Geigers<br />
Daniel Hope, hineingehört hat. George<br />
Gershwin und Aaron Copland, Kurt Weill, Duke<br />
Ellington, Samuel Ward, aber auch Sam Cooke<br />
und Florence Price kombiniert Hope plus fein<br />
ausgesuchte Mitmusizierende klug, charmant<br />
und ausdrucksstark miteinander. A.K.<br />
© Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln; © Estate of Sol LeWitt, 2021; Private Collection, Belgium/Image: Hugard & Vanoverschelde; Verlage<br />
42 wına | April 2022
Familienausflug ins Todeslager<br />
Marta Poppers letzte Worte waren<br />
NTV. Diesen Fernsehkanal wollte<br />
sie eingestellt haben, bevor sie im<br />
neuen Pflegebett verstarb. Mit diesem Anfangsakkord<br />
schlägt Reza den Ton an, auf den<br />
das weitere Familiendrama gestimmt ist:<br />
makabrer Humor im Angesicht des Todes.<br />
„Omi“ Marta hinterlässt eine „Kuddelmuddelkiste“<br />
von drei schon angejahrten<br />
Kindern, den Popper-Geschwistern, samt<br />
teilweise wechselndem Anhang, und will<br />
keinesfalls bei ihrem Ehemann beerdigt,<br />
sondern verbrannt werden.<br />
„Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin<br />
einäschern lässt“, empört sich Enkelin Joséphine,<br />
die offenbar als einzige der Hinterbliebenen<br />
eine gewisse Sensibilität für<br />
das jüdische Erbe, von dem sich Großmutter<br />
zeitlebens distanzierte, entwickelt. Sie ist<br />
es auch, die schließlich auf eine Reise nach<br />
„Osvits“ und eine Spurensuche zu ihren dort<br />
zu Tode gekommenen ungarischen Vorfahren<br />
drängt. Ihr Vater Serge leistet anfänglich<br />
Widerstand, bis sich auch seine Schwester<br />
Nana und Bruder Jean, der Erzähler der<br />
Geschichte, zum Familienausflug ins KZ bereitfinden.<br />
KZ-Folklore. Es kommt, wie es kommen<br />
muss und wie man es bereits von zahlreichen<br />
Berichten und Büchern von derlei<br />
Exkursionen kennt. Konfrontiert mit<br />
der touristischen Folklore am Gelände des<br />
ehemaligen Todeslagers fällt es schwer, eigene<br />
Emotionen zu entwickeln oder einzuordnen,<br />
angesichts dauerfotografierender,<br />
schwitzender Besuchergruppen in Shorts,<br />
die sich ständig ihrer Betroffenheit versichernd<br />
in den einstigen Krematorien,<br />
vor Vitrinen mit angehäuften Haaren und<br />
Schuhen drängen.<br />
Serge weigert sich rauchend und ätzend,<br />
die „Judenrampe“ und andere Besichtigungshighlights<br />
abzugehen, behält<br />
dabei aber beharrlich seinen<br />
dunklen Anzug an. Ob ihm nicht<br />
heiß sei, fragt besorgt die Tochter.<br />
„Doch, doch. Aber in Auschwitz<br />
werd ich mich nicht beklagen.“<br />
Im Kopf laufende Bilder aus<br />
Filmen wie Claude Lanzmanns<br />
Shoah überlagern die Eindrücke<br />
vor Ort, echte Gefühle wollen<br />
nicht gelingen. „Ich schwankte<br />
Bitte nicht schon wieder ein<br />
Buch über den Auschwitz-Tourismus<br />
und seine bizarren Auswüchse,<br />
mag man denken,<br />
wenn man Yasmina<br />
Rezas neuen Roman Serge<br />
zur Hand nimmt. Doch der<br />
Markenname der französischen<br />
Autorin, international<br />
bekannt vor allem durch ihre<br />
Bühnenstücke wie Kunst oder<br />
Der Gott des Gemetzels, hält letztlich,<br />
was er verspricht. Tabulose,<br />
kluge, zeitgeistige Unterhaltung<br />
mit Tiefgang, der sich<br />
elegant unter der changierenden<br />
Oberfläche versteckt.<br />
Von Anita Pollak<br />
zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu<br />
empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten<br />
unter Beweis stellen will“, resigniert<br />
Jean, und während sich die beiden Frauen<br />
verärgert abwenden, bilanziert Serge: „War<br />
dieses Auschwitz wirklich nötig?“<br />
Die Bruchlinien, bereits davor in der<br />
Geschwisterbeziehung sichtbar, klaffen im<br />
emotionalen Stress der gemeinsamen Reise<br />
endgültig auf. Dabei spielen Erinnerungen<br />
an die Kindheit, an das Elternhaus immer<br />
wieder in die Gegenwart hinein. Serge, der<br />
titelgebende Älteste, in den der Vater die<br />
größten Hoffnungen setzte, ist eine kläglich<br />
gescheiterte Existenz, ein alternder<br />
Womanizer mit Herzproblemen, den seine<br />
letzte Freundin auf die Straße setzte, nachdem<br />
er sie betrogen hatte. Jean, der Mittlere,<br />
ein Single, hängt emotional am verhaltensauffälligen<br />
Sohn seiner Exfreundin. Nana,<br />
als Kind das verwöhnte Nesthäkchen,<br />
hat nach dem Tod des Vaters<br />
einen Spanier geheiratet,<br />
der das französische Sozialsystem<br />
Yasmina Reza:<br />
Serge.<br />
Aus dem Französischen von<br />
Frank Heibert und Hinrich<br />
Schmidt-Henkel. Hanser 2022,<br />
208 S., € 22,70<br />
strapaziert. Doch wie eine Löwin verteidigt<br />
sie ihn und ihre Kinder vor der herablassenden<br />
Verachtung ihrer beiden Brüder.<br />
Geschwisterdrama. Viel mehr als beim eigentlichen<br />
Auschwitz-Thema, vor dem<br />
auch Yasmina Reza als Tochter einer ungarischen<br />
Jüdin und eines aus sephardischer<br />
Herkunft stammenden Vaters letztlich die<br />
Sprache versagt, läuft sie im Geschwisterdrama<br />
in bühnenreifen Dialogen zur Hochform<br />
auf. Vieles mag einem da vielleicht<br />
vertraut erscheinen in den Rückblenden<br />
auf das Popper’sche Familienleben in den<br />
1960er- und 1970er-Jahren, in dem das Judentum<br />
so gut wie keine, der Staat Israel, zu<br />
dem der Vater eine absolute Loyalität empfand,<br />
dafür aber vor allem als Streitobjekt<br />
eine besondere Rolle spielte. „Dank Israel<br />
hatten die Poppers Stoff für ihren Irrsinn.“<br />
Beharrlich geschwiegen wurde hingegen<br />
über das Schicksal der umgekommenen<br />
Verwandtschaft, was das „geschichtsvergessene“<br />
Geschwistertrio auch gern weiterhin<br />
so gehalten hätte, gäbe es da nicht die<br />
dritte Generation in der unförmigen Gestalt<br />
von Serges Tochter aus erster Ehe, Joséphine,<br />
Auslöser der tragikomischen Pilgerfahrt<br />
an den Ort des Grauens.<br />
Beispielhaft zeichnet Reza nicht nur<br />
die Problematik einer vom Massentou-<br />
„Ist doch<br />
verrückt,<br />
dass sich<br />
eine Jüdin<br />
einäschern<br />
lässt.“<br />
rismus pervertierten<br />
Gedenkkultur<br />
auf,<br />
sondern auch<br />
das Lebensgefühl<br />
dreier jüdischer<br />
Generationen<br />
und ihren<br />
Umgang mit der<br />
Vergangenheit<br />
nach, tabu- und<br />
respektlos, wie man es von ihr nicht anders<br />
erwartet, aber doch mit spürbarer Empathie<br />
für die ihr offenbar wohlbekannte bedrohte<br />
Spezies der Nachgeborenen. Gewidmet<br />
hat sie diese Erkundungsreise übrigens<br />
ihren „lieben Freunde(n)“ Magda und Imre<br />
Kertész, dem verstorbenen ungarischen Nobelpreisträger<br />
also, der 15 Jahre darum rang,<br />
eine Sprache für seinen Roman über Auschwitz<br />
zu finden, das er als jüdischer Junge<br />
überlebt hatte.<br />
wına-magazin.at<br />
43
Jüdisches Filmfestival<br />
Familie, Freundschaft, Freiheit<br />
Mischpoche und andere<br />
Schwierigkeiten<br />
Einblicke in das Programm des Jüdischen Filmfestivals 2022<br />
Von Angela Heide<br />
Unter dem Motto „We<br />
are family!“ – „Wir<br />
sind Familie!“ – präsentiert<br />
das Jüdische Filmfestival<br />
Wien in seiner Ausgabe<br />
2022 ein Programm, das sich<br />
überzeugend zwischen fein<br />
kuratierten und ineinandergreifenden<br />
Reihen, Hommagen<br />
und aktuellen internationalen<br />
filmischen Stimmen<br />
bewegt. Dabei lässt das Festival<br />
kaum einen Wunsch offen,<br />
wenn es darum geht, das<br />
Motto in gelebte gemeinsame<br />
Filmerlebnisse zu gießen: 35<br />
Langfilme, zehn Kurzfilme,<br />
Gespräche und<br />
ein Symposion mit Vorträgen<br />
und einem weiteren<br />
Filmprogramm<br />
umfasst das reiche Angebot,<br />
das von 24. April bis<br />
8. Mai an unterschiedlichen<br />
Orten in Wien zu<br />
erleben ist.<br />
„Truus Children“ (5.5.)<br />
Kinder auf der Flucht<br />
Der Themenschwerpunkt<br />
ist, machen die<br />
Veranstalter:innen des Festivals<br />
in ihrer Vorankündigung<br />
deutlich, in mehrfachem<br />
Sinne absolut gegenwärtig:<br />
Nicht nur hat uns die Pandemie<br />
in den letzten Jahren<br />
gezeigt, wie wichtig Zusammenhalt<br />
und das Gefühl von<br />
Nähe, auch in Zeiten der Distanz,<br />
sind. Auch die letzten<br />
Monate und ein Krieg,<br />
der Europas Gemeinschaft<br />
schmerzhaft in die Pflicht<br />
nimmt und zugleich aufzeigt,<br />
wie Nähe, aber auch Distanz<br />
erzeugt werden (können),<br />
verweisen auf Fragegestellungen,<br />
denen wir alle aktuell<br />
nicht ausweisen können.<br />
Mit der Reihe „Kinder auf der<br />
Flucht“ leistet auf das Jüdische<br />
Filmfestival einen Beitrag<br />
dazu und präsentiert mit<br />
Der Pfad (25.4.), Das As der Asse<br />
(30.4.), Truus Children (5.5.)<br />
und Le vieil homme et l’enfant<br />
(7.5.) Filme, die sich auf sehr<br />
unterschiedliche Weise mit<br />
Fluchterfahrungen<br />
von Kindern auseinandersetzen.<br />
Mischpoche!<br />
So richtig nah am Motto ist<br />
die Reihe an Filmen des<br />
Festivals, die sich mit der „jüdischen<br />
Mischpoche“ auseinandersetzen<br />
– und all ihren<br />
herrlichen wie schwierigen<br />
Begleiterscheinungen.<br />
Die Komödien Laavor et hakir/Eine,<br />
die sich traut von Rama<br />
Burshtein und Paam haiti/The<br />
Matchmaker über religiöse<br />
„Sublet“ (28.4.)<br />
Partnersuche, Talya Lavies<br />
Honeymood über Ehe, Liebe<br />
und Verständnis und ein<br />
Wiedersehen mit Burshteins<br />
eminentem Langfilmdebüt<br />
Fill The Void aus dem<br />
Jahr 2012 stehen ebenso<br />
auf dem Programm wie Get<br />
der Geschwister Ronit und<br />
Shlomi Elkabetz über den<br />
langen, verzweifelten Kampf<br />
der Israelin Viviane Amsalem<br />
um ihre Ehescheidung. Die<br />
Dokumentation Hatuna Hafucha/Marry<br />
Me However über<br />
die schwierige Situation Homosexueller<br />
in strenggläubigen<br />
Gemeinden sowie Sublet,<br />
der neueste Film von Eytan<br />
Fox, der sich mit generationsbedingten<br />
Unterschieden<br />
in der Lebensart homosexueller<br />
Männer in Tel Aviv befasst,<br />
bereichern zudem das<br />
dichte Programm.<br />
Starke Frauen<br />
„Working Woman“ (1.5.)<br />
Ein besonderer Fokus der<br />
diesjährigen Festivalausgabe<br />
liegt, nicht nur im Kontext<br />
Familie, auf den vielen<br />
„Rollen“ von Frauen innerhalb<br />
gesellschaftlicher Regeln<br />
und Normen von einst<br />
bis heute. Wie vielfältig und<br />
oft schmerzhaft das Ringen<br />
um Eigenständigkeit, Wahrnehmung<br />
und Selbstbestimmung<br />
war und ist, beweisen<br />
zahlreiche Filme des Festivals,<br />
darunter Isha Ovedet/<br />
Working Woman von Michal<br />
Aviat (1.5.), in dem eine junge<br />
Frau versucht, ihren eigenen<br />
beruflichen Weg zu gehen,<br />
und sich dabei sowohl ihrem<br />
Mann wie dem übergriffigen<br />
neuen Chef stellen muss,<br />
der mehrfach ausgezeichnete<br />
Streifen Shalosh Ima’ot/<br />
Three Mothers von Dina Zvi-Riklis<br />
(27.4./7.5.) über das Leben<br />
dreier sehr unterschiedlicher<br />
Schwestern und More<br />
than I deserve von Pini Tavger<br />
(27.4.) über eine aus der Ukraine<br />
kommende junge, alleinerziehende<br />
Mutter und<br />
ihre langsame Annäherung<br />
an die orthodoxe Welt ihrer<br />
neuen Umgebung. Matti Harari<br />
und Arik Lubetzky liefern<br />
mit ihrem 2020 entstandenen<br />
Film The Dinner eine emotionale<br />
psychologische Studie<br />
über das Verhältnis von<br />
Emigration und Abhängigkeit.<br />
Drei weitere Filme über<br />
das Ringen um Selbstbestimmung<br />
und Unabhängigkeit<br />
von Frauen unterschiedlicher<br />
Herkunft und Generationen<br />
(Get, 93 Queen von Paula<br />
Eiselt und Yentl) runden den<br />
Schwerpunkt ab.<br />
Barbra!<br />
„A star is born“ (6.5.)<br />
Dass sie für so viele – und aus<br />
so vielen Gründen – zu einer<br />
der größten Ikonen des 20.<br />
Jahrhunderts werden sollte, war<br />
ihr nicht in die Wiege gelegt: Barbara<br />
Joan Streisand wurde 1942<br />
geboren – am selben Tag, an dem<br />
heuer das Jüdische Filmfestival<br />
beginnt. Mitten im Brooklyner<br />
Williamsburg und mitten hinein<br />
in die große New Yorker Jewish<br />
Community, väterlicherseits<br />
als Enkelin von aus Galizien,<br />
der heutigen Westukraine, emigrierten<br />
Großeltern. Ihr Vater, ein<br />
Volksschullehrer, starb, ohne dass<br />
sie ihn je kennenlernen konnte,<br />
ihre Mutter heiratete erneut, als<br />
Barbara sieben Jahr alt war. Mit<br />
18 Jahren änderte sie ihren Namen<br />
auf „Barbra“. „Ich wollte einzigartig<br />
sein“, erzählte sie später<br />
über diesen Schritt – und zugleich<br />
authentisch. So war klar,<br />
dass sie ihren Namen nicht ganz<br />
ändern würde, sie selbst bleiben<br />
würde, ihm aber eben diesen<br />
kleinen „Twist“ geben würde, der<br />
rasch zum Mythos werden sollte.<br />
Es sollte noch eine Dekade harter<br />
Arbeit folgen, ehe Barbra 1969<br />
mit Funny Girl und 1969 mit Hello<br />
Dolly Musical-Geschichte schrieb<br />
– und mit Yentl 1983 ihre ganz persönliche<br />
filmische Hommage an<br />
ihren Vater. Das Jüdische Filmfestival<br />
zeigt aus Anlass des 80. Geburtstag<br />
dieser ganz Großen des<br />
amerikanisch-jüdisch-emanzipatorischen<br />
„Showbiz“ gleich<br />
fünf Filme, darunter Hello Dolly als<br />
„ganz großes Kino“ in einer Nachmittagsvorstellung<br />
im Gartenbaukino<br />
(1.5.) und Yentl zum Abschluss<br />
am 8. Mai; daneben ihren<br />
ersten selbst produzierten Film A<br />
star is born (6.5.), die Tragikomödie<br />
The Mirror Has Two Faces und Meet<br />
the Fockers (beide am 30.4.).<br />
Jüdische Juwelen<br />
Mit dem Slogan „Jewish<br />
Gems“ verbinden<br />
die Kurator:innen des<br />
Festivals dieses Jahr eine<br />
Sammlung von Filmen aus<br />
dem reichhaltigen Filmschaffen<br />
Israels der letzten<br />
Monate.<br />
So findet sich hier beispielsweise<br />
eine Biografie<br />
des großen Pazifisten und<br />
„Vaters der Statistik“ Emil<br />
Julius Gumbel (EJ Gumbel –<br />
Statistik des Verbrechens, 3.5.)<br />
und die Verfilmung von<br />
Noah Gordons Weltbestseller<br />
The Physician (1.5.).<br />
Hier sind auch das Inquisitionsdrama<br />
1618 (30.4.),<br />
die Komödie Greener Pastures<br />
(30.4./6.5.) und die<br />
Doku Fiddler’s Journey to the<br />
Big Screen (27.4.) angesiedelt<br />
– und mit einem großen<br />
gemeinsamen „Sing<br />
„Alegria“ von Viola Salama (30.4./3.5.)<br />
along“ zu Fiddler on the Roof<br />
(5.5., 20.15 Uhr) ist sicher<br />
eines der vielen wunderbaren<br />
Highlights des Festivals<br />
erreicht, in denen Familie,<br />
Freiheit und Freude<br />
in Zeiten, in denen das nur<br />
schwer möglich scheint,<br />
gemeinsam gefeiert – und<br />
besungen – werden.<br />
„Eine, die sich traut“ (1.5.)<br />
„We are family“<br />
Jüdisches Filmfestival Wien<br />
24. April bis 8. Mai 2022<br />
Village Cinemas Wien Mitte,<br />
Metro Kinokulturhaus, Gartenbaukino<br />
jfw.at<br />
Vernichtung<br />
und Erinnerung<br />
Gemeinsam mit dem<br />
Filmarchiv Austria<br />
und Kurator Florian Widegger<br />
widmet sich das<br />
Festival auch dieses Jahr<br />
der Erinnerung an die<br />
Verfolgung und Vernichtung<br />
jüdischen Lebens<br />
während der Schoah. Gezeigt<br />
werden im Rahmen<br />
des zweitägigen begleitenden<br />
Symposions Dokumente<br />
der Vernichtung am 6.<br />
und 7. Mai im Metro Kinokulturhaus<br />
filmische<br />
„Die Rothschild-Saga“ (4.5.)<br />
Dokumente, darunter Befreite<br />
Lager, Westerborkfilm<br />
und Ute Adamczewskis beklemmender<br />
Dokumentarfilm<br />
Zustand und Gelände<br />
über frühe so genannte<br />
„wilde Konzentrationslager“<br />
des NS-Regimes, begleitet<br />
von mehreren Vorträgen.<br />
Bereits am 4. Mai<br />
ist zudem Klaus T. Steindls<br />
im Auftrag des ORF entstandenes<br />
TV-Dokudrama<br />
Die Rothschild-Sage über<br />
„Aufstieg, Glanz, Verfolgung“<br />
und Untergang einer<br />
der mächtigsten jüdischen<br />
Familien des 19. und<br />
frühen 20. Jahrhunderts<br />
zu sehen, deren Name bis<br />
heute auf erschreckend<br />
ungebrochene Weise „antisemitische<br />
Verschwörungstheorien<br />
und Hetzkampagnen“<br />
auslöst.<br />
Freundschaft<br />
und Familie<br />
Die Eröffnung und der<br />
Abschluss des Festivals<br />
werden mit Ein nasser<br />
Hund des kroatisch-deutschen<br />
Filmemachers Damir<br />
Lukačević gefeiert, der, so<br />
es Covid-19 erlaubt, auch<br />
persönlich anwesend sein<br />
wird. Lukačević erzählt in<br />
seinem im letzten Jahr entstandenen<br />
vielbeachteten<br />
Streifen, der lose auf dem<br />
autobiografischen Roman<br />
des deutsch-persisch-israelischen<br />
Autors Arye Sharuz<br />
Shalicar basiert, über<br />
den 16-jährigen Iraner Soheil,<br />
der mit seinen Eltern<br />
nach Berlin-Wedding zieht<br />
und dort in eine multiethnische<br />
Jugendgruppe aufgenommen<br />
wird. Soheil<br />
„Ein nasser Hund“ (25.4./8.5.)<br />
verheimlicht, um Teil der<br />
Gruppe sein zu können,<br />
seine jüdische Herkunft,<br />
befreundet sich mit dem<br />
muslimischen Husseyn<br />
und verliebt sich in die<br />
türkische Schulkameradin<br />
Selma. Als die Gruppe<br />
durch einen Zufall erfährt,<br />
dass Soheil Jude ist, findet<br />
der bis dahin brüderliche<br />
Zusammenhalt ein jähes<br />
Ende, und Konflikte brechen<br />
auf, die alle Beteiligten<br />
zu radikalen Entscheidungen<br />
zwingen.<br />
44 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
45
Grenzenlose Mythologien<br />
INTERVIEW MIT ADENA JACOBS<br />
<br />
„Der weibliche Körper<br />
als Archiv gibt Auskunft<br />
über gestern und heute“<br />
Die australische Regisseurin Adena Jacobs präsentiert ihre<br />
erste Arbeit am Wiener Burgtheater mit Euripides’ Troerinnen in<br />
neuer Fassung. Interview: Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />
Adena<br />
Jacobs im<br />
Burgtheater<br />
mit WINA-<br />
Autorin Marta<br />
S. Halpert.<br />
ADENA JACOBS wurde 1982 in New York geboren, lebt in Melbourne,<br />
Australien, und ist künstlerische Leiterin des freien Theaterkollektivs<br />
Fraught Outfit. Ihr Werk umfasst queere und feministische Interpretationen<br />
alter Texte. Ihre Produktionen wurden am Sydney Opera House,<br />
auf dem Melbourne Festival, am Malthouse Theatre und am Belvoir St<br />
Theatre aufgeführt, wo sie in der Spielzeit 2014/2015 als Hausregisseurin<br />
tätig war. Ihre Regiearbeiten waren unter anderen an der English National<br />
Opera und beim Tokyo Festival zu sehen.<br />
WINA: In diesen Tagen hat Ihre erste Regiearbeit<br />
am Wiener Burgtheater Premiere: Die Troerinnen<br />
von Euripides. Bereits im Jänner 2020 sind Sie<br />
von Melbourne nach Wien geflogen, um Direktor Martin<br />
Kušej zu treffen. Wie kam es zu diesem Projekt?<br />
Adena Jacobs: Eigentlich überraschend und unverhofft.<br />
Regisseur Daniel Kramer*, der von 2016 bis<br />
2019 als künstlerischer Direktor die English National<br />
Opera London leitete, kannte meine Salome-Opernregie<br />
an seinem Haus und hat mich Direktor Kušej<br />
empfohlen.<br />
Wer hat Die Troerinnen letztlich ausgewählt?<br />
I Die Troerinnen habe ich vorgeschlagen, nachdem wir<br />
in sehr guten, offenen Gesprächen vieles überlegt<br />
hatten. Auf dem langen Flug hatte ich einige Ideen,<br />
aber nachdem ich hier am Burgtheater Aufführungen<br />
besucht hatte, war ich mir sicher.<br />
Griechische Tragödien scheinen Sie stark anzuziehen: Bereits<br />
mit 16 Jahren haben Sie Medea für Ihr Gymnasium<br />
eingerichtet. Ihre erste selbstständige Produktion in Melbourne<br />
war die Elektra von Sophokles 2010, es folgten<br />
Oedipus Rex und Antigone. Zuletzt inszenierten Sie Die<br />
Bakchen von Euripides. Woher kommt dieses spezifische<br />
Interesse?<br />
I Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Diese Erfahrung<br />
mit Medea hat etwas mit mir gemacht. Die Welt der<br />
griechischen Mythologie ist so ein grenzenloses Gebiet,<br />
und die Tragödien gehen immer auch an eine<br />
Grenze des Unvorstellbaren, überschreiten Extreme.<br />
Es gefällt mir, das Unsagbare zu sagen, Tabus<br />
zu brechen, und das passiert in den griechischen<br />
Stücken.<br />
Sie interpretieren Die Troerinnen neu, weil Sie Neues in<br />
dem Stück entdeckt haben. Wie viel haben Sie am Original<br />
verändert?**<br />
I Es ist vor allem wichtig, das Original zu lieben,<br />
sonst wird das ein sehr zynisches Unterfangen.<br />
Diese Tragödie ist hauptsächlich eine Darstellung<br />
des Unglücks Besiegter und im konkreten Fall einer<br />
Gruppe von Frauen, die im wahrsten Sinne des<br />
Wortes am Rande einer zerbrochenen Welt und einer<br />
neuen Realität stehen. Alles, was sie kannten –<br />
Kultur, Sprache, Bräuche und Recht –, hat sich in<br />
Luft aufgelöst. Warum also nicht etwas Neues wagen,<br />
jenseits dieses Rahmens? Warum befreien wir<br />
uns nicht von diesen belastenden patriarchalischen<br />
Bildern und Geschichten und wählen eine feministische<br />
Sichtweise – auch wenn diese Texte dadurch<br />
noch bedrückender und beunruhigender werden.<br />
Ganz geglückt ist die Befreiung vom Patriarchat noch nicht.<br />
I Ich beschäftige mich mit diesen Legenden nicht, um<br />
ihre tiefsitzenden Probleme zu lösen. Ich will auch<br />
nicht zeigen, wie sie korrigiert oder uns zugänglicher<br />
gemacht werden können. Aber vielleicht können<br />
wir den Wurzeln dieser Legenden auf den Grund<br />
gehen und sie entwirren; dann könnten wir uns von<br />
ihren Botschaften befreien, denn womöglich stimmen<br />
diese nicht.<br />
Sie stellen den gespenstischen Zwischenraum – eigentlich<br />
ein Niemandsland –, den die Troerinnen bewohnen, in das<br />
Zentrum Ihrer bildhaften Auseinandersetzung und fragen<br />
ausdrücklich nach dem Schicksal weiblicher Körper im Krieg,<br />
nach dem weiblichen Körper als Kampfplatz. Geht es nur um<br />
die äußere Hülle?<br />
I Nein, es geht trotz und vor allem um die Psyche,<br />
die Seele, um die Neshama – im WINA-Magazin wird<br />
man das verstehen. Darum, was diese Kriege mit den<br />
Frauen machen. Der Körper als Archiv, das uns erzählt,<br />
was in ihm eingeschrieben wurde: als Ort der<br />
Macht, jedoch mit seiner Fähigkeit zur Transformation<br />
und schließlich Identität.<br />
Bei Euripides ist man am Ende einer Kultur angelangt,<br />
am Ende der bekannten Welt – und die letzten Überlebenden<br />
sind Frauen. Königin Hekabe wiederholt<br />
ständig den Satz: Das ist nicht Troja, das ist nicht Troja. Sie<br />
sieht die Verwüstung, die Zerstörung; das gewohnte<br />
Leben ist verschwunden, alles ist verwaist.<br />
Also wieder Opfer! Und wir sind mitten in unserer Realität:<br />
Als Sie im Winter 2021 – während des längsten Lockdowns<br />
von 262 Tagen in Melbourne – über die Troerinnen sinnierten,<br />
dachten wir alle noch, dass die weltweite Pandemie das<br />
Schlimmste ist, was derzeit passieren kann. Jetzt wird das<br />
Stück aufgeführt, und seit über einem Monat beschäftigen<br />
und bedrängen uns ganz andere Bilder im Kopf: der brutale<br />
„Aber vielleicht<br />
können<br />
wir den Wurzeln<br />
dieser<br />
Legenden auf<br />
den Grund<br />
gehen und<br />
sie entwirren,<br />
dann könnten<br />
wir uns von ihren<br />
Botschaften<br />
befreien,<br />
denn womöglich<br />
stimmen<br />
diese nicht.“<br />
Adena Jacobs<br />
* Die Produktion des amerikanischen<br />
Regisseurs Pelleas und Melisande war 2021<br />
am Wiener Akademietheater zu sehen.<br />
** Die Wiener Dramatikerin Gerhild<br />
Steinbuch hat die Texte von Ovid, Seneca,<br />
Euripides und Jane M. Griffiths für diese<br />
Inszenierung neu ins Deutsche übertragen.<br />
46 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
47
In das Schicksal eingreifen<br />
„Die Troerinnen“:<br />
Aktueller geht kaum noch …<br />
Die Schlacht ist geschlagen,<br />
aber der Krieg ist nicht vorbei.<br />
Troja ist gefallen, Rauchsäulen<br />
stehen über den Trümmern,<br />
und die siegreichen Griechen bereiten<br />
sich auf ihre Abfahrt vor. Die<br />
überlebenden trojanischen Frauen<br />
befinden sich vor der Stadt, auf der<br />
Schwelle zwischen ihrem alten Leben<br />
als Staatselite und dem kommenden<br />
in der Sklaverei. Der denkbar<br />
schlimmste Verlust und tiefste<br />
Fall vereinen sich mit der größtmöglichen<br />
Ungewissheit. Hekabe, Königin<br />
Trojas, beklagt den Mord an ihrem<br />
Ehemann Priamos und den Tod<br />
der meisten ihrer zahlreichen Kinder;<br />
wohin das Schicksal sie noch führen<br />
wird, weiß sie nicht. Mit ihr wartend<br />
ist Hekabes überlebende Tochter<br />
Kassandra, die Seherin, der nicht<br />
geglaubt wurde, und ihre Schwiegertochter<br />
Andromache mit ihrem<br />
kleinen Sohn Astyanax, letzter<br />
männlicher Erbe der Trojaner, sowie<br />
die Griechin Helena, die als Auslöserin<br />
des Kriegs gebrandmarkt wird<br />
und nun auf ihr Urteil wartet.<br />
Die trojanischen Frauen sind auf<br />
nichts als ihre Körper zurückgeworfen,<br />
angefüllt mit Erinnerung, mit<br />
wütendem Schmerz, versehrt, gezeichnet,<br />
klagend, mit einem Bein<br />
bei ihren Toten in der Unterwelt, mit<br />
dem anderen im Diesseits Halt suchend.<br />
schrieben hat. Zuerst in Jiddisch und dann auch in<br />
Englisch. Er wurde 1922 im polnischen Łódź geboren<br />
und kam nach der deutschen Besetzung zuerst<br />
mit seiner Familie in das Ghetto der Stadt und später<br />
nach Auschwitz, wo er als Einziger seiner ganzen Familie<br />
überlebte. Nach der Befreiung lernte er meine<br />
Warschauer Großmutter, Esther Laufer, in einem DP-<br />
Lager (Displaced Persons) in Italien kennen. Dort haben<br />
sie auch geheiratet und sind dann 1948 nach Australien<br />
eingewandert.<br />
Welchen Themen hat er sich literarisch gewidmet?<br />
I Die Schrecken der Schoah haben ihn nie verlassen: In<br />
East of Time (2005) und Sunrise West (2007) hat er ebenso<br />
Autobiografisches aufgearbeitet wie in seinen Gedichten<br />
und Kurzgeschichten. Er ist 2008 gestorben, seine<br />
Werke wurden auch ins Russische, Hebräische und<br />
Polnische übersetzt.<br />
Sie und Ihre Eltern wurden in Melbourne geboren?<br />
I Meine Mutter ist Australierin, hat aber in den USA<br />
Vernichtungskrieg in der Ukraine. Wir sehen die verzweifelten,<br />
flüchtenden Frauen und Kinder. Welches Ende der Welt<br />
zeigen Sie jetzt?<br />
I Oh G-tt, was für eine Frage. Ja, bei Euripides existieren<br />
die Frauen in einer konturlosen Welt, sie agieren<br />
nicht, sie werden herumgeschoben und erleiden<br />
ihr Schicksal, über das sie nicht mehr Herr sind.<br />
Nichts ergibt mehr einen Sinn, und sie warten, gefangen<br />
zwischen dem doppelten Grauen von Krieg<br />
und Sklaverei. Doch sie protestieren auch, erzählen<br />
und erinnern sich an ihr eigenes Leben. Sie sind<br />
zwar verzweifelt und voll Gram, aber bei klarem Verstand.<br />
Sie erschaffen sich durch Sprache neu. Die<br />
bloße Tatsache, dass sie sprechen, ist ein radikaler<br />
Akt des Überlebens.<br />
Dennoch sind sie bei Euripides machtlos …<br />
I Selbst wenn die griechische Tragödie sagt, dass unser<br />
Schicksal bereits im Mutterleib feststeht und dass<br />
Gewalt nur noch mehr Gewalt erzeugt, müssen wir<br />
das nicht machtlos hinnehmen. Was, wenn die trojanischen<br />
Frauen nie mit ihren griechischen Herren an<br />
Bord der Schiffe gehen? Wenn sie an der Küste blieben,<br />
weil sie sich eine echte Zukunft für sich vorstellen<br />
könnten? Das wäre zwar kein Paradies, aber zumindest<br />
eine Zukunft, eine Alternative. Das weckt doch<br />
die Hoffnung, dass sie in ihr Schicksal auch selbst eingreifen<br />
und dieses verändern können.<br />
Gibt es künstlerische Vorbelastungen in Ihrer Familie?<br />
I Ja, durch meinen Großvater Jacob G. Rosenberg, der<br />
Gedichte, Kurzgeschichten und zwei Biografien ge-<br />
„Die bloße<br />
Tatsache,<br />
dass sie<br />
sprechen, ist<br />
ein radikaler<br />
Akt des<br />
Überlebens.“<br />
Adena Jacobs<br />
Regisseurin<br />
Adena Jacobs:<br />
das Unsagbare<br />
sagen, Tabus<br />
brechen.<br />
studiert und dort meinen amerikanischen Vater geheiratet.<br />
Ich bin 1982 in New York geboren, aber als<br />
ich elf Jahre alt war, kehrten wir zu den Großeltern<br />
nach Melbourne zurück. Meine Mutter schreibt Essays,<br />
meine jüngste Schwester Ariela ist Sängerin und<br />
Komponistin.<br />
Kommen Sie aus einem religiösen Haus?<br />
I In New York bin ich in eine jüdisch-progressive (conservative)<br />
Volksschule gegangen. Später in Melbourne<br />
absolvierte ich das jüdische Gymnasium, das war aber<br />
viel weniger progressiv. Wir haben alle Feiertage eingehalten<br />
und Freitagabend den Schabbat gefeiert.<br />
Sie haben eine dreijährige Tochter, die jetzt während der<br />
zweimonatigen Probezeit in Wien von Ihrer Partnerin betreut<br />
wurde. Wie sehen Ihre nächsten Projekte aus?<br />
I Ich arbeite gerade an einem Stück, das im nächsten<br />
Jahr in Melbourne Premiere haben wird.<br />
48 wına | April 2022
Zwischen Bibel<br />
und Mossad<br />
Eine Wasserleiche am Strand und ein abgelegtes Frühchen vor<br />
einem Spital in Tel Aviv: zwei Fälle für Inspektor Avi Avraham in<br />
Dror Mishanis Kriminalroman Vertrauen.<br />
Von Anita Pollak<br />
Wenn ein Kommissar findet, dass<br />
die Aufklärung so mancher tragischer<br />
Gewaltverbrechen niemandem<br />
nützt, sondern nur weiteres<br />
Leid mit sich bringt, dann hat er ein Problem.<br />
In seiner tiefen Sinnkrise will sich<br />
Ermittler Avi Avraham aus Cholon daher<br />
vom Tel Aviver Polizeidistrikt Ayalon versetzen<br />
lassen. Da sieht er sich an einem<br />
Tag gleich mit zwei Fällen konfrontiert, die<br />
offenbar nichts miteinander zu tun haben:<br />
Ein frühgeborenes Baby wird vor einem<br />
Krankenhaus abgelegt, und ein Tourist<br />
mit Schweizer Pass ist verschwunden,<br />
ohne seine Hotelrechnung beglichen zu<br />
haben. Auf den ersten<br />
Blick also polizeilicher<br />
Kleinkram und damit<br />
genau das, was Avi so<br />
frustriert, sind seine literarischen<br />
Krimi-Vorbilder<br />
doch Inspektor<br />
Maigret, Kommissar<br />
Wallander und der italienische<br />
Autor Leonardo Sciascia.<br />
Da hat sich nicht nur Avi die Latte wohl<br />
etwas hoch gehängt. Auch sein Schöpfer<br />
Dror Mishani, seines Zeichens auf Kriminalliteratur<br />
spezialisierter Literaturwissenschaftler<br />
und Schriftsteller, teilt offenbar<br />
die Verehrung dieser Helden mit<br />
seinem Protagonisten, freilich ohne an sie<br />
heranzukommen.<br />
Dror Mishani:<br />
Vertrauen. Ein Fall<br />
für Avi Avraham.<br />
Aus dem Hebräischen<br />
von Markus Lemke.<br />
Diogenes, 352 S., € 22<br />
Avis literarische Krimi-Vorbilder<br />
sind Inspektor Maigret und Kommissar<br />
Wallander und der italienische<br />
Autor Leonardo Sciascia.<br />
Grenzüberschreitungen. So lässt er Avi Avraham<br />
in seinem nunmehr vierten Fall<br />
lange vor sich hin wursteln, vom stets geheimnisumwitterten<br />
Mossad gleichsam<br />
ferngesteuert auf falsche Fährten locken<br />
und schließlich in Paris landen. Dort verfolgt<br />
er nicht nur die Spuren des mittlerweile<br />
als Wasserleiche an den Strand von<br />
Tel Aviv gespülten vorgeblichen Schweizers,<br />
der eigentlich ein Franzose namens<br />
Raphael Chouchani war, sondern verhört<br />
gleich auch noch Danielle, die minderjährige<br />
Kindesmutter des weggelegten<br />
Säuglings. Schuldig im Sinne des Gesetzes<br />
hat sich allerdings nur deren Mutter<br />
Liora gemacht, die Danielle zu einer Abtreibung<br />
verholfen und, nachdem diese<br />
schiefging, das Frühchen in einer Tasche<br />
weggelegt und die Tochter nach Paris geschickt<br />
hat. Bibelfest und immer mit einem<br />
passenden Psalm im Kopf und auf<br />
den Lippen, verweigert Liora in den Verhören<br />
jedoch raffiniert und unglaublich<br />
frech jegliche Schuldeinsicht.<br />
War es eine Vergewaltigung oder ein<br />
„Identitätsbetrug“, das heißt, hat sich der<br />
arabische Teenager-Kindesvater Danielle<br />
gegenüber als Jude ausgegeben?<br />
Und warum soll Chouchani eher ein<br />
Drogenhändler als ein Agent des Mossad<br />
und sein Tod ein Selbstmord gewesen<br />
sein?<br />
Allein auf weiter Flur und nicht einmal<br />
seinen Vorgesetzten vertrauend, die<br />
ihn auf einen verlockenden Auslandsposten<br />
wegloben wollen – warum der Roman<br />
gerade „Vertrauen“ heißt, erschließt<br />
sich übrigens nicht –, steht Avi nur seine<br />
katholische Ehefrau Marianka, eine Berufsdetektivin,<br />
mit Rat und Tat bei. Dem<br />
Judentum entfremdet, hat er sie in ihrer<br />
kroatischen Heimat vor Kurzem kirchlich<br />
geheiratet.<br />
Zwischenmenschliche Spannungen<br />
haben zumindest in diesem israelischen<br />
Alltag weniger mit Religionskonflikten<br />
als mit polizeilichen Strukturen und den<br />
undurchsichtigen Agenden der Geheimdienste<br />
zu tun. Im Gegensatz zu dieser säkularen<br />
Welt spielen ausführlich zitierte<br />
biblische Assoziationen eine fürs Krimigenre<br />
ungewöhnliche Rolle. Offenbar<br />
sind es gerade die Überschreitungen dieser<br />
Genregrenzen die Mishani reizen und<br />
die er in dem zuweilen doch recht ausufernd<br />
mäandernden Spannungsbogen<br />
auch hinlänglich ausreizt. Irgendwann<br />
berühren die beiden parallel geführten<br />
Fälle, Kindesweglegung und Agentenmord,<br />
einander peripher, die Hoffnung<br />
auf ein klassisches Whodunit, und da<br />
verrät man nicht zu viel, sollte man aber<br />
fahren lassen. „Kann ich jetzt anfangen,<br />
Ihnen die Geschichte zu erzählen, mon<br />
ami“, heißt es – am Ende.<br />
wına-magazin.at<br />
49
Bethäuser<br />
Gedenkstätten<br />
VON FRANKREICH<br />
BIS INS BURGENLAND<br />
Quer durch Europa haben Juden seit<br />
dem 13. Jahrhundert ihre kulturellen<br />
und religiösen Spuren hinterlassen.<br />
Von Viola Heilman<br />
SYNAGOGE CARPENTRAS<br />
Knapp 30 Kilometer von der französischen<br />
Stadt Avignon entfernt liegt die<br />
Stadtgemeinde Carpentras. Im 13. Jahrhundert<br />
haben sich in dem kleinen Städtchen<br />
mit heute etwa 30.000 Einwohnern<br />
Juden unter dem Schutz des damaligen<br />
Papstes von Avignon angesiedelt. 1367<br />
wurde eine Synagoge errichtet, die heute<br />
als eine der ältesten Europas gilt.<br />
Der Bau der Synagoge wurde an der<br />
Stelle eines in der Rue de la Muse gekauften<br />
Hauses begonnen, das als Bethaus<br />
diente. Anstelle des alten Hauses musste<br />
der Neubau innerhalb genehmigter Abmessungen,<br />
das heißt einer Länge von<br />
nicht mehr als fünf Canes (etwa zehn Meter)<br />
errichtet werden. 1473 lebten etwa 90<br />
Familien im jüdischen Viertel von Carpentras.<br />
Sie verdienten ihren Lebensunterhalt<br />
hauptsächlich mit Handel, landwirtschaftlichen<br />
Produkten und mit Krediten.<br />
1523 verschlechterte sich durch Beschränkungen<br />
der Aktivitäten das Leben<br />
der jüdischen Familien. Als Folge<br />
schrumpfte die Gemeinde erheblich. Nach<br />
den Vertreibungen von 1570 und 1593 verblieben<br />
nur wenige Familien in Carpentras.<br />
Erst als 1669 die kleinen umliegenden<br />
Gemeinden des Comtat Venaissin zusammengefasst<br />
wurden, lebten wieder 83 Familien,<br />
also 298 Personen in und um Carpentras.<br />
Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts<br />
wurde die Synagoge immer wieder verändert.<br />
Doch Ende des 17. Jahrhunderts verfiel<br />
der Synagogenbau zunehmend, und es<br />
fehlte an ausreichenden Mitteln, um eine<br />
Renovierung zu finanzieren.<br />
Erst Anfang des 18. Jahrhundert wurde<br />
mit der Planung eines Neubaus begonnen,<br />
der aber lange Zeit Gegenstand eines<br />
Streits über die Dimensionen war, die<br />
schließlich durch den damaligen Bischof<br />
auf jene des ursprünglichen mittelalterlichen<br />
Baus festgelegt wurden. Als die Bauarbeiten<br />
1741 begonnen wurden, ging es<br />
Synagoge Szentendre.<br />
Die erste Synagoge, die<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
in Ungarn gebaut<br />
wurde, ist ein Denkmal<br />
für die ehemalige kleine,<br />
sehr lebendige jüdische<br />
Gemeinde (Mitte und<br />
rechts oben).<br />
Synagoge Carpentras. Der<br />
Synagogenbau aus dem 18. Jahrhundert<br />
spiegelt das zeitgenössische<br />
barocke Dekor wider (links<br />
oben, Mitte und unten).<br />
rasch voran, denn es galt der steigenden<br />
Zahl an Gläubigen – Ende des 18. Jahrhunderts<br />
waren es 2.000 – gerecht zu werden.<br />
Der Synagogenbau des 18. Jahrhunderts<br />
spiegelt das zeitgenössische barocke<br />
Dekor wider. So führt eine monumentale<br />
Treppe vom Erdgeschoss in den ersten<br />
Stock und verdeckt die bescheidene Fassade<br />
der Synagoge. Im Erdgeschoss stellen<br />
die rituellen Bäder (Mikwe) und zwei<br />
Bäckereien einige der ältesten erhaltenen<br />
Merkmale des Gebäudes dar. Bereits 1924<br />
wurde die Synagoge von Carpentras unter<br />
Denkmalschutz gestellt.<br />
Die Innenausstattung der Synagoge ist<br />
bemerkenswert: Die emaillierte Decke<br />
ist mit blauen Sternen dekoriert. An den<br />
© Xxxxxx<br />
Synagoge Kobersdorf. Nach dem Brand<br />
1857 wurde ein neues, größeres Synagogengebäude<br />
in der Nähe des Esterhazy-<br />
Schlosses im Stil des Historismus gebaut<br />
(rechts unten).<br />
Wänden befindet sich eine Holzvertäfelung,<br />
die Dekoration des Tabernakels ist<br />
vergoldet, und zwischen den Säulen, die<br />
die Tevah tragen, befindet sich der Stuhl<br />
des Propheten Elia. Die G’ttesdienste werden<br />
im Gebetsraum von einem speziell<br />
ernannter Rabbiner abgehalten, der die<br />
Gebete in einer speziellen Sprache, dem<br />
Judeo-Comtadin, leitet. Bis heute werden<br />
G‘ttesdienste für eine kleine örtliche<br />
Gemeinde abgehalten, auch um die Relevanz<br />
für die heutige Gesellschaft zu demonstrieren.<br />
2001 unterstützte der WMF konservatorische<br />
Arbeiten im Inneren der Synagoge.<br />
Der Putz an Decken und Wänden wurde<br />
gereinigt, die Bodenfliesen erneuert und<br />
die Treppe repariert. Zusätzlich wurde ein<br />
Durchgang für eine Buchhandlung geschaffen.<br />
Elektro- und Beleuchtungssysteme<br />
wurden auf zeitgemäße Standards<br />
gebracht, um modernen Bedürfnissen gerecht<br />
zu werden.<br />
Die Synagoge in Carpentras ist ein bedeutender<br />
Teil des jüdisch-provenzalischen<br />
Kulturerbes und ein Denkmal für<br />
die Migrationsmuster von Juden, die vor<br />
Verfolgung im mittelalterlichen Frankreich<br />
flohen.<br />
SYNAGOGE SZENTENDRE<br />
In der großen<br />
ungarischen<br />
Tiefebene<br />
befindet sich<br />
die kleinste<br />
Synagoge<br />
der Welt.<br />
Knapp 30 Kilometer von Budapest entfernt<br />
liegt die kleine Stadt Szentendre<br />
an einem Seitenarm der Donau. Szenten-<br />
dre heißt mit deutschem Namen St. Andreas,<br />
nach einer Kirche des gleichnamigen<br />
Heiligen, die im 12. Jahrhundert in Szentendre<br />
errichtet wurde. Dort, in der großen<br />
ungarischen Tiefebene, befindet sich<br />
die kleinste Synagoge der Welt.<br />
Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts<br />
zeichnet sich die Kleinstadt durch Toleranz<br />
gegenüber ethnischer und religiöser<br />
Vielfalt aus. Die Grenznähe und die<br />
Donau trugen darüber hinaus dazu bei,<br />
das Zusammenleben seiner ungarischen<br />
und serbischen Bevölkerung und anderen<br />
Kulturen zu fördern und zu einem Ort des<br />
friedlichen Miteinanders, der Integration<br />
und des produktiven Austausches zu machen.<br />
Auch unter totalitärer Herrschaft<br />
konnte sich Szentendre seine künstlerische<br />
und kulturelle Freiheit bewahren.<br />
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa<br />
250 Juden in Szentendre. Sie wurden fast<br />
alle in der Schoah ermordet. Heute leben<br />
noch etwa 20 bis 30 Juden in der kleinen<br />
Stadt, wobei keiner dort geboren wurde.<br />
Die kleine Synagoge, eigentlich nur ein<br />
„Stibl“, wird von ihnen unter der Leitung<br />
eines Budapester Rabbiners auch heute<br />
zum Gebet genutzt. Als erste Synagoge,<br />
die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn<br />
gebaut wurde, ist das Gebäude<br />
auch ein Denkmal für<br />
die ehemalige kleine, sehr lebendige<br />
jüdische Gemeinde,<br />
bevor sie durch die Nationalsozialisten<br />
ausgelöscht wurde.<br />
Das kleine Synagogengebäude<br />
dient auch als Museum und<br />
wird von einem Nachkommen<br />
eines Überlebenden der Familie<br />
Szanto unterhalten. An<br />
den Wänden im Innenhof der<br />
Synagoge sind Tafeln mit den<br />
Namen der Opfer angebracht,<br />
und es gibt mehrere historische Objekte im<br />
ganzen Haus. Neben Artefakten sind auch<br />
interessante Fotografien der Familie Szanto<br />
ausgestellt. Es gibt Gebetbücher und zwei<br />
Thora-Rollen, von denen eine koscher ist.<br />
Im Blau gestrichenen Betraum stehen zwei<br />
mit rotem Samt überzogene Stühle und ein<br />
Holzpult. Der Thoraschrein ist durch eine<br />
schwarze gusseiserne Tür geschützt, davor<br />
ein mittelblauer Vorhang mit goldenen<br />
Inschriften. Im Hof der Synagoge befindet<br />
sich ein kleines Waschbecken mit einem in<br />
Stein gemeißelten Magen David.<br />
Einige hundert Meter von der Synagoge<br />
entfernt liegt der kleine jüdische Friedhof<br />
von Szentendre. Das jüdische Gedenkhaus<br />
und der Tempel von Szántó sind von gro-<br />
50 wına | April 2022<br />
wına-magazin.at<br />
51
Denkmäler<br />
mer weiter ab, bis 1938 nurmehr 223 Juden<br />
in Kobersdorf lebten. Nach 1945 kamen<br />
dann nur drei Überlebende in die<br />
Gemeinde zurück.<br />
1857 fiel die ursprüngliche Synagoge einem<br />
Brand zum Opfer und es wurde ein<br />
neues, größeres Synagogengebäude in der<br />
Nähe des Schlosses im Stil des Historismus<br />
gebaut, das bis heute besteht. Aus bisher<br />
ungeklärten Gründen wurde die Synagoge<br />
während der Reichspogromnacht nicht<br />
angezündet und zerstört. Nach 1945 wurde<br />
sie in den Besitz der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
Wien restituiert, die aber keine<br />
Geldmittel hatte, um eine Renovierung<br />
durchzuführen. 1994 wurde die Synagoge<br />
um 400.000 Schilling an den Verein zur<br />
Erhaltung und kulturellen Nutzung der Synagoge<br />
Kobersdorf verkauft. Die Kaufbedingung<br />
war die Erhaltung und Renovierung<br />
der Synagoge sowie die Errichtung<br />
eines Museums mit dem Schwerpunkt der<br />
Geschichte der „Sieben Gemeinden“. 2010<br />
wurde die Synagoge vom Bundesdenkmalamt<br />
offiziell unter Denkmalschutz gestellt,<br />
nicht zuletzt, um die Rechtsstreitigkeiten<br />
zwischen dem alten und dem<br />
neuen Eigentümer der Synagoge beizulegen.<br />
Doch auch der Verein stieß bei der Reßer<br />
historischer Bedeutung, da es der erste<br />
Tempel ist, der in Ungarn als Gedenkstätte<br />
für die Opfer des Holocaust gebaut wurde.<br />
SYNAGOGE KOBERSDORF<br />
Knapp 30 Kilometer von Eisenstadt<br />
entfernt liegt die burgenländische<br />
Marktgemeinde Kobersdorf. Aufzeichnungen<br />
belegen, dass es bereits im 16.<br />
Jahrhundert eine Synagoge gegeben hat,<br />
denn in dieser Zeit entstand auch die jüdische<br />
Gemeinde von Kobersdorf. Den<br />
aus Ungarn vertriebenen Jüdinnen und<br />
Juden wurde in der Nähe des Schlosses<br />
ein Grund zugewiesen, auf dem sie sich<br />
gegen eine Schutzgebühr ansiedeln durften.<br />
Im 18. Jahrhundert zählte die jüdische<br />
Gemeinde Kobersdorf 18 Familien, die in<br />
einer organisierten Gemeinde mit Synagoge,<br />
Friedhof, einem Rabbiner, Schächter,<br />
Schulsinger und einem Gemeindegericht<br />
lebten. Ab dem 18. Jahrhundert fiel<br />
Kobersdorf und damit auch die jüdische<br />
Gemeinde in den Besitz der Familie Esterházy<br />
und stand als eine der „Sieben Gemeinden“<br />
(Sheva Kehillot) mit 746 Personen<br />
unter dem Schutz der Adelsfamilie.<br />
In den folgenden Jahrzehnten nahm die<br />
Anzahl der jüdischen Bevölkerung imnovierung<br />
an seine finanziellen Grenzen,<br />
und so übernahm 2019 das Land Burgenland<br />
auf Initiative von Landeshauptmann<br />
Hans Peter Doskozil sämtliche Verpflichtungen<br />
und begann mit der Generalsanierung.<br />
Das Architekturbüro Anton Mayerhofer<br />
in Neckenmarkt verantwortete die<br />
Renovierungs- und Konservierungsarbeiten<br />
sowie den Zubau eines Kulturzentrums.<br />
Nach eingehenden Untersuchungen<br />
konnte der Raumeindruck originalgetreu<br />
wiederhergestellt werden. Die weiß übermalten<br />
Wände wurden behutsam von der<br />
Farbe befreit, um die darunterliegenden<br />
Wandmalereien freizulegen. Einige Bereiche<br />
blieben allerdings in ihrem ursprünglichen<br />
Zustand. So wurden die geplünderten<br />
und stark beschädigten Opferstöcke in<br />
der Vorhalle nicht restauriert und in der<br />
zerstörten Form belassen. Sie sollen ein<br />
mahnender Beleg sein, wozu Menschen<br />
fähig sind. Die Fertigstellung der Renovierung<br />
und Einweihung wird bis zum<br />
Sommer 2022 erfolgen. In Zukunft soll die<br />
ehemalige Synagoge als Kultur-, Wissenschafts-<br />
und Bildungszentrum mit einem<br />
Schwerpunkt auf regionaler jüdischer Kultur<br />
und Geschichte sowie als Gedenkstätte<br />
und Mahnmal genutzt werden.<br />
Jüdisches Filmfestival Wien<br />
Vienna Jewish Film Festival<br />
24.April–<br />
08.Mai<br />
2022<br />
More Then I Deserve<br />
Mi 27.04. 20:30<br />
Village Cinemas<br />
Wien Mitte, Saal 7<br />
Fr 06.05. 16:30<br />
Village Cinemas<br />
Wien Mitte, Saal 7<br />
R: Pini Tavger<br />
IL/D 2021, Spielfilm,<br />
hebr./russ. OF<br />
mit engl. UT<br />
Pinchas (12) und seine Mutter Tamara (39) sind Neueinwanderer aus<br />
der Ukraine. Als Pinchas erfährt, dass die Gleichaltrigen sich auf ihre Bar<br />
Mizwa vorbereiten, bittet er den religiösen Nachbarn Shimon um Hilfe.<br />
Trotz ihrer anfänglichen Missbilligung verliebt sich Tamara allmählich in<br />
Shimon. Doch auch er hat eine Vergangenheit.<br />
Village Cinemas Wien Mitte<br />
Gartenbaukino<br />
Metro Kinokulturhaus<br />
52 wına | April 2022<br />
Greener Pastures<br />
Sa 30.04. 16:30<br />
Village Cinemas<br />
Wien Mitte, Saal 6<br />
Fr 06.05. 18:30<br />
Village Cinemas<br />
Wien Mitte, Saal 7<br />
R: Assaf Abiri und<br />
Matan Guggenheim<br />
IL 2020, Spielfilm,<br />
hebr. OF mit engl. UT<br />
Dov (79), Witwer wurde von seiner Familie ins Seniorenheim<br />
verfrachtet. Er will nichts als raus von da und spart, um sein Haus<br />
zurückkaufen zu können. Als er bemerkt, dass alle seine Mitbewohner<br />
legales medizinisches Cannabis rauchen, wird ihm klar, dass Gras seine<br />
Rettung sein wird – es zu verkaufen, nicht es zu rauchen.
URBAN LEGENDS<br />
It takes a second<br />
to wreck it<br />
Anlässlich des Todestages von Adam Yauch, der sich im Mai<br />
zum zehnten Mal jährt, ist es an der Zeit, das Werk der Beastie<br />
Boys wieder- und neu zu entdecken.<br />
dam Yauch aka MCA, Gründungsmitglied<br />
der legendären Beastie<br />
Boys, der unter dem Pseudonym<br />
Nathaniel Hörnblowér bei Musikvideos<br />
der Band aus Brooklyn<br />
mitunter auch Regie ge-<br />
Von Paul Divjak<br />
führt hat (unter anderem What’cha Want, Shake Your<br />
Rump, Intergalactic oder Ch-check It Out) starb 2012<br />
mit 47 Jahren nach dreijähriger Krebserkrankung.<br />
Anlässlich seines Todestages, der sich im Mai zum<br />
zehnten Mal jährt, ist es an der Zeit, das Werk der<br />
Beastie Boys wieder- und neuzuentdecken.<br />
Nervöse Bewegungen, Verkleidungsklamauk und<br />
große Gesten, gerne festgehalten mit dem obligaten,<br />
comichaft verzerrenden Superweitwinkelobjektiv.<br />
Dem Weltwahnsinn haben die Beastie Boys<br />
erfolgreich ihr anarchisch-lustvolles Abfeiern ihrer<br />
Skills und des Lebens entgegengehalten, Yauch<br />
freilich auch sein politisch-gesellschaftliches Engagement<br />
für Frauenrechte und die Unabhängigkeit<br />
Tibets.<br />
Das kraftstrotzende Œuvre des Trios Yauch-Horovitz-Diamond,<br />
das sich immer schon auf ein ebenso<br />
avanciertes wie souveränes, lyrisch-musikalisches<br />
wie visuelles Jonglieren mit popkulturellen Referenzen<br />
(Musik, Film, TV) verstanden hat, ist längst<br />
in die Musikgeschichte eingegangen.<br />
Das Schrille der prägnanten Stimmen im Wechselsprechgesang,<br />
groovende Basslines, scheppernde<br />
Beats, präzise platzierte Samples, gekonnt<br />
gebaute Loops: die drei hatten sichtlich Spaß am<br />
Spielen, am Reimen und Posen.<br />
Auch heute noch überträgt sich die Energie des<br />
unverkennbaren Sounds, den die ewigen Boys des<br />
Hip-Hops über einen Zeitraum von mehr als drei<br />
Jahrzehnten in die Medienkanäle gepumpt und live<br />
zelebriert haben: Sie erzählt von einer Haltung gegen<br />
kopfloses Business as usual und Respektlosigkeit.<br />
„It takes time to build / It takes a second to wreck<br />
it …“<br />
Auch Umweltzerstörung, Xenophobie und Rüstungspolitik<br />
wurden von den Beastie Boys popkulturell<br />
reflektiert. So war der Track It takes time to build<br />
aus dem Jahr 2004 ein kritisches Hip-Hop-Statement<br />
in Sachen News-Overload, Militarismus und<br />
(versäumten) Klimaschutzmaßnahmen; souveränes<br />
Dissen von SUVs inklusive.<br />
„I think that all of us here on the planet<br />
at this point have come into these lifetimes<br />
and into these bodies because<br />
it’s a crucial time in the evolution of the<br />
planet and humanity.“ Adam Yauch<br />
2013 wurde in Brooklyn ein Park nach Adam<br />
Yauch benannt, in dem er einst als Kind gespielt<br />
hat, auf dem Basketball-Court zwischen Silberlinden,<br />
Platanen, Stileichen und Spitzahornen. – 2016<br />
war dort ein Klettergerüst von Trump-Anhängern<br />
mit nationalsozialistischen Symbolen beschmiert<br />
worden. Daraufhin protestierte Yauchs Freund<br />
und Bandkollege Adam Horovitz aka Ad-Rock gemeinsam<br />
mit lokalen Politiker:innen und hunderten<br />
von Anrainer:innen gegen Antisemitismus und<br />
Rassismus.<br />
„I’m pretty hopeful about the evolution of humanity<br />
in general“, hatte Yauch in einem frühen, stilleren<br />
Interview einmal festgestellt. – Seine Worte<br />
in G-ttes Ohr.<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
53
APRIL KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
Villa Mercedes Jellinek,<br />
nach 1945.<br />
FOTOGRAFIE<br />
Treffpunkt Lerchenfeld,<br />
Lerchenfelder Straße 141, 1070 Wien<br />
lerchenfelderstrasse.at<br />
6. APRIL BIS 8. JULI<br />
KINO-EINBLICKE<br />
2008 entdeckte die in Wien lebende<br />
Fotografin Juliane Batthyány bei einem<br />
Spaziergang durch die Innenstadt<br />
die lieblos auf die Straße geworfene<br />
Innenausstattung des kurz zuvor<br />
für immer geschlossenen Imperial Kinos<br />
– „Stühle wurden vor die Tür gestellt,<br />
Maschinen entsorgt. Und ich<br />
habe mir in diesem Moment gedacht,<br />
wie schade das eigentlich ist“, erinnerte<br />
sich die Fotografin später an ihre<br />
erste Begegnung mit der untergegangenen<br />
Welt der ehemaligen „Kinostadt“<br />
Wien. Der Anblick dieses traurigen Endes<br />
eines einst zu den beliebtesten Kinos<br />
der Inneren Stadt zählenden Ortes<br />
inspirierte Batthyány dazu, in einem<br />
aufwendigen und sehr persönlichen<br />
fotodokumentarischen Projekt die damals<br />
noch bestehenden historischen<br />
Kinos der Stadt in Bildreihen festzuhalten.<br />
2010 erschien ihr erstes Buch Wiener<br />
Kinos, zehn Jahre später wurde der<br />
Band in einem anderen Verlag neu aufgelegt<br />
– eine Auswahl von rund 30 Bildern<br />
werden nun unter demselben<br />
Titel im Treffpunkt Lerchenfeld der Lebendigen<br />
Lerchenfelder Straße gezeigt<br />
– viele der meistgeliebten Wiener Kinos,<br />
etwa das Admiral oder das Haydn<br />
Kino, hatten jüdische Gründer:innen,<br />
Leiter:innen und Mitarbeiter:innen, von<br />
denen die meisten heute gänzlich vergessen<br />
sind.<br />
54 wına | April 2022<br />
FILM-RETROSPEKTIVE<br />
Metro Kinokulturhaus,<br />
Johannesgasse 5, 1010 Wien<br />
filmarchiv.at<br />
19. APRIL BIS 9. MAI<br />
NEUFELD REVISITED<br />
Maximilian „Max“ Neufeld, dessen Geburtstag<br />
sich dieses Jahr zum 135. Mal wiederholt,<br />
wurde in eine k. u. k. Schauspielerfamilie<br />
hineingeboren. Er selbst begann am<br />
Stadttheater Klagenfurt, ging von dort an Josef<br />
Jarnos Josefstädter Theater und arbeitete<br />
früh schon mit dem Wiener Kunstfilm zusammen.<br />
Bereits 1913 findet man seinen Namen<br />
zum ersten Mal auf einer Filmleinwand. Nach<br />
dem Kriegsdienst wurde Neufeld, der privat<br />
mit Liane Haid liiert war, zum Stummfilmstar,<br />
ab 1919 führte er auch selbst Regie. Ende<br />
der 1920er-Jahre übersiedelte er nach Berlin<br />
und realisierte von da an oft mehrere Filme<br />
pro Jahr – ehe ihm aufgrund seiner jüdischen<br />
Herkunft vom NS-Regime zuerst in Deutschland,<br />
dann in Österreich, wohin er zurückgekehrt<br />
war, ein Arbeitsverbot auferlegt wurde<br />
und Neufeld zuerst nach Italien, dann nach<br />
Spanien floh.<br />
Ab 1947 konnte er erneut in Österreich arbeiten,<br />
sein letzter großer Kinoerfolg der sonst<br />
an Erfolgen mageren späten Lebens- und Arbeitsjahre<br />
war 1957 Der schönste Tag in meinem<br />
Leben. Kurz darauf zog sich Neufeld für<br />
immer aus der Film- und Theaterwelt zurück.<br />
Er starb am 2. Dezember 1967 in Wien.<br />
Kuratiert von Florian Widegger widmet das<br />
Filmarchiv Austria eine Retrospektive dem<br />
Schaffen des heute fast vergessenen einstigen<br />
österreichisch-jüdischen Filmpioniers,<br />
dessen Schaffen allein in den Jahren 1915 bis<br />
1955 weit über 100 Filme als Schauspieler und<br />
Regisseur umfasst.<br />
14. APRIL 2022<br />
GEMEINSAM FEIERN<br />
Dass das Wiener Klezmer Orchester<br />
erst vor fünf Jahren gegründet wurde,<br />
davon zwei mehr oder minder im allgemeinen<br />
Lockdown verbrachte und<br />
dennoch heute beinahe sowas wie<br />
ein „Standardorchester“ der Stadt geworden<br />
ist, wenn es um die Auseinandersetzung<br />
mit jüdischer und jiddischer<br />
Musik von einst und heute geht,<br />
scheint fast unglaublich. Umso schöner<br />
ist der Gedanke, dass das Orchester,<br />
dirigiert von Sasha Danilov und<br />
begleitet von Wolfgang Böck (Schauspiel/Lesung),<br />
dem bulgarisch-österreichischen<br />
bildenden Künstler Krassimir<br />
Kolev (Visuals) und Bayan-Virtuose<br />
Alexander Shevchenko als „Special<br />
Guest“ – sofern alles gut geht und alle<br />
gesund bleiben –, am 14. April zum Abschluss<br />
des diesjährigen Yiddish Culture<br />
Festivals im Festsaal Zentrum<br />
Simmering ein Galakonzert geben darf,<br />
bei dem der ganze weite musikalische<br />
Bogen vom jiddischen Schtetl Osteuropas<br />
bis hin zu Werken zeitgenössischer<br />
österreichischer Komponisten<br />
gespannt werden darf. Und wie der Titel<br />
Az der Rebe lacht verspricht: Lachen<br />
und singen sind erlaubt! Auch wenn<br />
es in diesen Tagen schwer fällt – und<br />
umso wichtiger für uns alle ist …<br />
Karten über die Website oder telefonisch<br />
unter +43/(0)664/383 46 56.<br />
© Juliane Batthyány; Yiddish Culture Festival/Sujetfoto/Wolfgang Frank; Web; Hamakom/Presse; Stadtarchiv Baden; Matt Humphrey/Theater in der Josefstadt/Presse<br />
PERFORMANCE<br />
ABSCHLUSSKONZERT SPRECHTHEATER<br />
18 Uhr<br />
19.30 Uhr<br />
19.30 Uhr<br />
Theater Nestroyhof Hamakom,<br />
Yiddish Culture Festival, SimmCity,<br />
Theater in der Josefstadt,<br />
Startpunkt: Uhrenmuseum,<br />
Simmeringer Hauptstraße 96A, 1110 Wien<br />
Josefstädter Straße 24–26, 1080 Wien<br />
Schulhof 2, 1010 Wien<br />
yiddishculturevienna.at<br />
josefstadt.org<br />
AB 28. APRIL<br />
KEINE RÜCKKEHR FÜR IMMER<br />
Tom Stoppard zählt zu den größten Dramatikern<br />
und Drehbuchautoren (Das Rußland-Haus,<br />
Shakespeare in Love) der Gegenwart. Der diesen<br />
Juli seinen 85. Geburtstag feiernde Sohn jüdischer<br />
Emigranten wurde in der Tschechoslowakei<br />
als Tomáš Straussler geboren, 1939 floh<br />
die Familie nach Singapur, die Großeltern wurden<br />
ermordet. 1942 emigrierte die Familie weiter<br />
nach Indien, der Vater starb während der<br />
Flucht, Toms Mutter heiratete 1946 einen britischen<br />
Major namens Stoppard und zog mit<br />
ihren Söhnen nach England. Nun erzählt der<br />
vielfach Ausgezeichnete in seinem 2020 im Londoner<br />
Wyndham’s Theatre uraufgeführtem<br />
Drama Leopoldstadt die Geschichte der wohlhabenden<br />
Wiener jüdischen Familie Merz über<br />
vier Generationen, von der Jahrhundertwende<br />
über zwei Weltkriege, Verfolgung und Vernichtung<br />
bis hin zum Wiedersehen der letzten überlebenden<br />
Nachkommen in der verlassenen<br />
großbürgerlichen Ringstraßen-Wohnung. Der<br />
Daily Telegraph lobt das „Stück über geforderte<br />
und versuchte Assimilation und ihren grausam<br />
hohen Preis, das einen mitten ins Herz trifft“<br />
ebenso wie der Independent, der es als „Meisterwerk“<br />
bezeichnet. Das Theater in der Josefstadt<br />
präsentiert die österreichische Erstaufführung<br />
der deutschen Übersetzung (Daniel Kehlmann)<br />
von Stoppards nicht zuletzt auch sehr persönlicher<br />
Auseinandersetzung mit seinen eigenen<br />
jüdischen Wurzeln in der geübten<br />
Regie Janusz Kicas und in<br />
hochkarätiger Besetzung.<br />
19. APRIL BIS 12. MAI<br />
KOMMEN, GEHEN, BLEIBEN<br />
In seiner neuen Eigenproduktion zeigt das<br />
Theater Nestroyhof Hamakom The more it<br />
comes the more it goes des in Wien lebenden<br />
Regisseurs und Gründer der „Schule<br />
des Lachens“ David Maayan. Unterstützt<br />
von den Autor:innen Joshua Sobol und<br />
Magda Woitzuck untersucht das von Maayan<br />
anhand von Texten und Gesprächen<br />
mit Darsteller:innen, Schüler:innen und<br />
Künstler:innen zusammengestellte dokumentarische<br />
Stück, das teils im öffentlichen<br />
Raum, teils im Theater stattfindet, das<br />
große Themenfeld des Gedenkens an und<br />
des Denkens über NS-Zeit und Schoah. Wie<br />
beeinflusst beides unser Agieren im Heute<br />
und die Ereignisse in unserem Alltag? Wie<br />
unterscheidet sich das Erinnern in verschiedenen<br />
Generationen? Wie und was wird<br />
in österreichischen Familien heute über<br />
die Jahre des Nationalsozialismus erzählt?<br />
Und wo begegnet die Schoah Jugendlichen<br />
von heute? Gesucht und untersucht<br />
wird damit nicht zuletzt auch, so das Theater<br />
in seiner Presseaussendung zum Projekt,<br />
das „Finden einer (Theater-)Sprache<br />
für das Unsagbare“, die ein „Aussprechen<br />
des Unaussprechlichen“ ermöglichen mag.<br />
Und einen „– vielleicht tröstlicheren – Blick<br />
in die Zukunft“.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com<br />
AUSSTELLUNG<br />
Kaiserhaus Baden,<br />
Hauptplatz 17, 2500 Baden<br />
Di.–So. u. Feiertage, 10–18 Uhr<br />
kaiserhaus-baden.at<br />
AB 23. APRIL 2022<br />
VERGESSENES JÜDISCHES<br />
BADEN<br />
Marie-Theres Arnbom, die neue<br />
wissenschaftliche Direktorin des Wiener<br />
Theatermuseums, ist für ihre akribischen<br />
Studien zu jüdischen Familien<br />
und deren Lebensorte bekannt.<br />
Aber auch für ihre Ausstellungen, die<br />
stets publikumsnah und doch hoch<br />
wissenschaftlich unterschiedliche Aspekte<br />
jüdischen Lebens und jüdischer<br />
Kultur in Österreich von einst beleuchten.<br />
Nun hat sie auf Einladung der Gemeinde<br />
Baden die Ausstellung „Sehnsucht<br />
nach Baden“ – Jüdische Häuser<br />
erzählen Geschichte(n) kuratiert. Arnbom<br />
liefert damit einen wichtigen aktuellen<br />
Beitrag zur Geschichte der jüdischen<br />
Bevölkerung der Stadt Baden.<br />
„Mich faszinieren die Villen mit den<br />
schönen Fassaden aus den unterschiedlichen<br />
architektonischen Bauepochen“,<br />
verrät die Kuratorin. „Sie machen<br />
neugierig, welche Geschichten<br />
sich wohl hinter den Fassaden ereignet<br />
haben – schöne und traurige, beglückende<br />
und tragische.“ Einige dieser<br />
Familien- und Villengeschichten<br />
erzählt die vielseitige Historikerin in<br />
dieser Ausstellung, die vom Begleitbuch<br />
Die Villen von Baden ihrer Reihe<br />
„Wenn Häuser Geschichten erzählen“<br />
(Amalthea) begleitet wird.<br />
wına-magazin.at<br />
55
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal<br />
selbst eine handwerkliche Arbeit abgeschlossen<br />
habe ich …<br />
vor wenigen Tagen, nämlich meine Sträucher<br />
im Garten für den Frühling fit gemacht.<br />
Ansonsten nähe ich vielleicht ab<br />
und zu einen Knopf an – eine talentierte<br />
Handwerkerin bin ich aber leider nicht.<br />
Das letzte Mal, dass ich von einem sakralen<br />
Raum überrascht war, war ...<br />
tatsächlich bei der ersten Begehung der<br />
renovierten Synagoge in Kobersdorf. Ich<br />
war wirklich beeindruckt davon, wie sorgfältig<br />
und genau der ursprüngliche Zustand<br />
dieses fantastischen Raums wiederhergestellt<br />
wurde.<br />
Das letzte Mal, dass ich gerne jemandem<br />
ein kleines Denkmal gesetzt hätte,<br />
war …<br />
Der Bürgermeister der Stadt Wien, Michael<br />
Ludwig, und Gesundheitsstadtrat<br />
Peter Hacker verdienen meiner Meinung<br />
nach viel Respekt für ihren eigenen, sehr<br />
umsichtigen Weg bei der Um- und Durchsetzung<br />
der Corona-Maßnahmen.<br />
Das letzte Mal, dass ich mir nach dem<br />
Motto „Mein Körper ist mein Tempel“<br />
etwas Gutes getan habe, war …<br />
heute in der Früh, als ich mit meiner griechischen<br />
Hütehündin Ella unsere tägliche<br />
Morgenrunde im Wald gedreht habe.<br />
Das letzte Mal, dass ich etwas Burgenländisches<br />
gelernt habe, war …<br />
Das ist schon etwas länger her. Vor einigen<br />
Jahren war ich bei einer typisch burgenländischen<br />
Hochzeit eingeladen und<br />
habe alle Traditionen diesbezüglich kennengelernt:<br />
vom Abholen der Braut über<br />
den gemeinschaftlichen Zug durch das<br />
Dorf bis hin zu den unglaublichen Mengen<br />
an wahnsinnig gutem Essen, das zu<br />
dieser Gelegenheit aufgetischt wird.<br />
DIE TALENTIERTE<br />
KNOPFANNÄHERIN<br />
Es gibt immer ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In dieser<br />
Ausgabe berichtet Claudia Prutscher, Vizepräsidentin und<br />
Kulturbeauftragte der IKG, von ihrer Sympathie für griechische<br />
Hunde und burgenländische Hochzeiten.<br />
Claudia Prutscher, 1955 in Wien geboren, hat die Modeschule<br />
Hetzendorf besucht und war schon in der Werbung, in der Filmproduktion<br />
und im Außendienst einer Bausparkasse tätig. Seit<br />
2015 ist die heute freiberufliche Mediatorin und Coachin in der<br />
IKG Wien Vorsitzende der Kulturkommission. In diesem Rahmen<br />
hat sie gemeinsam mit dem Bundeskanzleramt und dem Land<br />
Burgenland die Restaurierung der verfallenen Synagoge in<br />
Kobersdorf (Kreis Oberpullendorf) begleitet.<br />
Am 26. April 2022 um 18 Uhr wird die 1860 errichtete Kobersdorfer<br />
Schul' wieder für Besucherinnen und Besucher geöffnet.<br />
Prutscher wird weiterhin in einem Fachbeirat vertreten sein, der<br />
das Bildungs-, Forschungs- und Kulturprogramm erarbeiten soll,<br />
das ganz im Zeichen der burgenländisch-jüdischen<br />
Tradition steht.<br />
© Daniel Shaked<br />
56 wına | April 2022
IKG.KULTUR PRÄSENTIERT<br />
DIE HIGLIGHTS IM<br />
FRÜHLING/SOMMER 2022<br />
Ethel Merhaut & Wladigeroff<br />
Brothers ‚Tif vi di Nakht‘<br />
23. Mai 2022<br />
20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />
Mato Johannik<br />
Mehr Infos und Tickets unter:<br />
www.porgy.at/events/10842/<br />
Dvori Barzilais Ausstellung<br />
„Shirat Dvora“<br />
09. bis15. Juni 2022<br />
Kunstraum Nestroyhof<br />
Mehr Infos unter:<br />
www.ikg-wien.at/kultur<br />
IKG/Morgensztern<br />
privat<br />
Das Jüdische Straßenfest<br />
12. Juni 2022<br />
14:30 bis 20:00 Uhr, Judenplatz<br />
Mehr Infos unter:<br />
www.ikg-wien.at/kultur<br />
Lea Kalisch & Bela Koreny<br />
„Heute Abend: So wie<br />
musikalisch, aber leakalisch!“<br />
14. Juni 2022<br />
20:00 Uhr, im Porgy & Bess<br />
Mehr Infos und Tickets unter:<br />
www.porgy.at/events/10894/<br />
Liz Doz<br />
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SEIT 1707<br />
Alexej Jawlensky, Winter, 1915, Nr. 54, 36,2 x 27,2 cm, € 120.000 – 160.000, Auktion 31. Mai<br />
Moderne<br />
Zeitgenössische Kunst<br />
Juwelen, Uhren<br />
Auktionswoche<br />
31. Mai – 3. Juni<br />
www.dorotheum.com<br />
Düsseldorf | München | Mailand | Rom | Neapel | London | Brüssel | Prag | Paris | Tel Aviv<br />
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AW2-WIN_Wina_30.04.indd 1 04.04.22 12:44
Editorial<br />
Julia Kaldori<br />
Es gibt Situationen, in denen die eigenen Worte nur hohl<br />
klingen, die eigenen Gedanken umherfliegen und nach<br />
Ordnung suchen und andere bereits viel klügere Worte<br />
dafür gefunden haben, was man selbst fühlt und hofft.<br />
„Nichts ist unentschuldbarer als der Krieg und der<br />
Aufruf zum Völkerhass. Aber ist der Krieg einmal aus-<br />
gebrochen, ist es zwecklos und feige, sich unter dem<br />
Vorwand, man sei nicht für ihn verantwortlich, ab-<br />
seits zu stellen ... Jeder Mensch besitzt einen mehr<br />
oder weniger großen Einflussbereich ... Individuen<br />
sind es, die uns heute in den Tod schicken. Warum<br />
sollte es nicht anderen Individuen gelingen, der Welt<br />
den Frieden zu schenken? ... In dem Zeitraum, der<br />
von Geburt bis zum Tod reicht, ist nichts festgelegt:<br />
man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt<br />
gebieten und sogar den Frieden erhalten, wenn man<br />
es inständig, stark und lange will.“<br />
Albert Camus (1913–1960), Tagebuch von 1939<br />
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