Focus Magazin 26/2022 Vorschau

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AUSGABE 27 2. Juli 2022 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC Flugausfälle, Personalmangel, Abfertigungs-Chaos: Was Sie als Verbraucher jetzt wissen müssen Die First Lady der Ukraine über das Leben im Krieg OLENA SELENSKA Die First Lady der Ukraine über das Leben im Krieg ROBERT HABECK Kann der Minister die Gas-Krise lösen? Henry Kissinger EXKLUSIVER VORABDRUCK Gefährliche Rivalität: Der Weltaußenpolitiker erklärt, was heute Staatskunst ausmacht

AUSGABE 27<br />

2. Juli <strong>2022</strong><br />

EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />

Flugausfälle, Personalmangel, Abfertigungs-Chaos:<br />

Was Sie als Verbraucher jetzt wissen müssen<br />

Die First Lady der Ukraine<br />

über das Leben im Krieg<br />

OLENA SELENSKA<br />

Die First Lady der Ukraine<br />

über das Leben im Krieg<br />

ROBERT HABECK<br />

Kann der Minister die<br />

Gas-Krise lösen?<br />

Henry<br />

Kissinger<br />

EXKLUSIVER VORABDRUCK<br />

Gefährliche Rivalität:<br />

Der Weltaußenpolitiker<br />

erklärt, was heute<br />

Staatskunst ausmacht


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JETZT<br />

E-PAPER LESEN:


EDITORIAL<br />

Russisches Roulette<br />

mit unserer Wirtschaft<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Fo t o : P e t e r R i g a u d f ü r F O C U S - M a g a z i n<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

mich hat es schon vor vier<br />

Wochen erwischt. Eine SMS<br />

von EasyJet verkündete:<br />

„Wichtige Information: Es<br />

tut uns leid, dass Ihr easy-<br />

Jet-Flug 5708 annulliert<br />

wurde.“ Danach Sendepause.<br />

Keine Information, wie<br />

ich denn alternativ von Rom<br />

zurück nach Berlin kommen<br />

könnte, kein Mensch an der<br />

Hotline zu erreichen, dafür<br />

aber kurz darauf eine E-Mail von easyJet<br />

mit der Betreffzeile: „Robert, bist du bereit<br />

für dein nächstes Abenteuer? Erlebnisurlaub<br />

auf der Insel – jetzt buchen!“<br />

Sie wissen sicher, meine Story über den<br />

derzeitigen „Fluchverkehr“ ist kein Einzelschicksal.<br />

Millionen Menschen in Europa<br />

erleben, wie kurzfristig Flüge abgesagt<br />

werden, wie man oft stundenlang am<br />

Check-in warten muss oder dass Gepäck<br />

nicht ankommt. Warum das so ist und was<br />

Sie als Flugreisender jetzt wissen müssen,<br />

erzählt mein Kollege Thomas Tuma<br />

in unserer Titelgeschichte ab Seite 54.<br />

Tuma war am Dienstag übrigens selbst<br />

Cancel-Opfer. Sein Flug für Freitag von<br />

München nach Hamburg wurde abgesagt.<br />

Am Telefon meinte er zu mir nur: „Man hat<br />

in diesem Land langsam das Gefühl, dass<br />

gar nichts mehr geht.“ Womit wir schon<br />

beim nächsten Thema wären.<br />

Robert Habeck ist ein beinahe genialer<br />

politischer Kommunikator, vielleicht der<br />

beste, den wir derzeit haben. Aber seine<br />

Idee, sich der sich abzeichnenden Energiekrise<br />

Deutschlands mit einer kürzeren<br />

Verweildauer unter der Dusche entgegenzustemmen<br />

und gleich selbst mit<br />

gutem Beispiel voranzugehen, ist deutlich<br />

unter seinem Niveau. Natürlich wurden<br />

andere Politiker sogleich gefragt, ob sie<br />

es künftig wie der Bundeswirtschafts- und<br />

-klimaschutzminister halten wollen. Und<br />

mancher entblödet sich nicht zu erwidern:<br />

„Ich dusche im Sommer ohnehin kalt.“<br />

Und einfach „Nö“ sagte der Bundeskanz-<br />

ler in dieser Woche, als er gefragt wurde,<br />

ober er denn ein paar Energiespartipps<br />

auf Lager hätte.<br />

Aus all dem spricht tiefer Unernst. Hier<br />

wird eine Existenzfrage unseres Landes<br />

auf Comedy-Niveau heruntergequatscht.<br />

Die Wahrheit ist: Die aktuelle Energiekrise,<br />

zu der nicht nur Putin einen Beitrag<br />

geleistet hat, sondern auch die Politik<br />

dieser Bundesregierung und ihrer Vorgängerinnen,<br />

berührt den Lebensnerv<br />

Deutschlands. Ohne eine verlässliche Versorgung<br />

24 Stunden am Tag und 365 Tage<br />

im Jahr zu wettbewerbsfähigen Preisen<br />

sind Wachstum, Wohlstand und soziale<br />

Sicherheit der viertgrößten Volkswirtschaft<br />

der Welt akut gefährdet.<br />

Fluch- statt Flugverkehr<br />

Unser Chefautor Thomas<br />

Tuma mit BER-Chefin<br />

Aletta von Massenbach,<br />

und anbei Mailkopien<br />

von Lufthansa und<br />

easyJet, nachdem Flüge,<br />

gecancelt wurden.<br />

Lufthansa-Chef Carsten<br />

Spohr kündigte diese<br />

Woche an, dass sich<br />

das Flugchaos in den<br />

nächsten Wochen<br />

kaum bessern werde<br />

Es geht dabei um Millionen Jobs, die<br />

Sicherheit von Rente und Gesundheitssystem<br />

sowie um die Zukunftsfähigkeit<br />

der europäischen Lead Nation. Und um<br />

unsere westlichen Werte. „Denn wenn<br />

wir die exportieren wollen, geht das nur<br />

über wirtschaftliche Stärke“, sagte mir<br />

kürzlich Günther Oettinger, ehemals<br />

EU-Kommissar (u. a. für Energie), als wir<br />

über die Rohstoffabhängigkeiten<br />

Deutschlands von totalitären<br />

Staaten wie China und<br />

Russland sprachen.<br />

Übertreibe ich? Ich fürchte:<br />

nein! Seit vielen Jahren hantieren<br />

unsere Politiker mit immer<br />

steileren Prognosen, wann und<br />

in welchem Ausmaß erneuerbare<br />

Energien die fossilen<br />

Energieträger ersetzen werden<br />

– und verschließen dabei<br />

die Augen fest davor, dass die<br />

Realität den Plänen stets hinterherhinkte.<br />

Mir kommt das<br />

vor wie ein Hausbesitzer, der<br />

zu Beginn der Winterperiode<br />

seine alte Heizung ausbaut,<br />

ohne zu wissen, wann die neue<br />

kommt.<br />

Klingt verrückt, aber exakt so<br />

verhält sich die deutsche Politik,<br />

wenn es um Energiesicherheit<br />

geht. Wir beschließen sehr<br />

konkret, wann wir aus welcher<br />

Energiegewinnung aussteigen – von<br />

Atom- bis Kohlekraft. Die Politik glaubt<br />

zu wissen, was wir alles nicht wollen: kein<br />

Schiefergas aus deutschen Landen, keine<br />

CCS-Technologie zur Abscheidung von<br />

CO2-Gas bei Kohlekraftwerken, keinen<br />

Strom aus Atomkraftwerken, die noch in<br />

Betrieb sind, über den 31. Dezember <strong>2022</strong><br />

hinaus, keine Verbrennungsmotoren ab<br />

2035. Leider steht dem eine dramatische<br />

Unkenntnis darüber entgegen, wann<br />

erneuerbare Energien (vor allem Windund<br />

Solarstrom) oder Ladesäulen in ausreichendem<br />

Maß und gesichert zur Verfügung<br />

stehen werden.<br />

Bitte blättern Sie um<br />

FOCUS 27/<strong>2022</strong> 3


Gruppenbild mit Dame<br />

Ursula von der Leyen,<br />

Charles Michel (v.l.)<br />

und die Tafelrunde<br />

der G7 demonstrieren<br />

auf Schloss Elmau<br />

Einheit – nicht nur<br />

in Kleiderfragen<br />

Seite 30<br />

Höhere Tochter<br />

Billie Eilish stieg<br />

mithilfe von Bruder<br />

und Eltern zum<br />

Popstar auf –<br />

und probt nun<br />

die Abnabelung<br />

Seite 82<br />

Bunte<br />

Familie<br />

Yotam<br />

Ottolenghi<br />

bringt gerne<br />

Zitrusfrüchte<br />

auf den Teller<br />

- hier gepaart<br />

mit Sellerie<br />

Seite 104<br />

First Lady<br />

Olena Selenska,<br />

die Gattin des<br />

ukrainischen<br />

Präsidenten,<br />

und ihr Leben in<br />

ständiger Gefahr<br />

Seite 44<br />

Bedrohter Nachwuchs Der Kampf um männliche Küken Seite 72<br />

6 FOCUS 27/<strong>2022</strong>


NAVE – St. Agnes<br />

Titelthema<br />

INHALT NR. 27 | 2. JULI <strong>2022</strong><br />

66 Realitätsschock 2.0<br />

Den Start-ups gehen die Investitionen aus.<br />

Viele Gründer müssen nun Leute entlassen<br />

69 Geldmarkt<br />

Nächste Woche in der<br />

Stil-Beilage von FOCUS:<br />

Style<br />

Nr. 2<br />

<strong>2022</strong><br />

Titel: Shutterstock, Getty Images/Composing FOCUS-<strong>Magazin</strong><br />

Fo t o s : A n d r e w P a r s o n s / l a i f , M a t t y V o g e l , L o u i s e H a g g e r , P l a i n p i c t u r e , A n t o i n e d ‘A g a t a / M a g n u m P h o t o s<br />

54 Der Albtraum vom Fliegen<br />

Mitten in der Urlaubssaison erlebt der<br />

Flugverkehr einen nie da gewesenen<br />

Kollaps. Vorboten tiefer Veränderungen?<br />

62 Flug storniert – und jetzt?<br />

Was Sie über Ihre Rechte wissen sollten<br />

Agenda<br />

24 Der Ausgelieferte<br />

Großbritannien will Assange an die USA<br />

übergeben. Der Westen muss sich fragen:<br />

Leben wir die Werte, die wir predigen?<br />

Politik<br />

30 Sehnsucht nach Westen<br />

Während des G7-Gipfels demonstrierten die<br />

Staatenlenker Einheit. Wird das reichen?<br />

36 Kalter Entzug<br />

Russland dreht Deutschland bald das Gas<br />

ab. Wir analysieren, wie gut Politik und<br />

Wirtschaft darauf vorbereitet sind<br />

39 Alte Wahrheiten gelten nicht mehr<br />

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm<br />

erklärt, wie Rohstoffe zur Waffe werden<br />

40 Neue Sterne am Energiehimmel<br />

Auf der Suche nach Wasserstoff entdeckt<br />

Deutschland Südamerika – ein Vorbild?<br />

44 Im Fadenkreuz<br />

Olena Selenska, Frau des ukrainischen Präsidenten,<br />

spricht über ihr Leben im Versteck<br />

50 Vermächtnis eines Weltpolitikers<br />

Henry Kissinger schreibt über Großmächte,<br />

Ideologie und Staatsführung in der Krise<br />

53 Politischer Datenstrudel<br />

Linke auf dem Prüfstand, Daniel Günther in<br />

Verhandlung und CEOs im Twitter-Check<br />

Wirtschaft<br />

64 Bits, Bytes und Blech<br />

Herbert Diess will aus VW einen Softwarekonzern<br />

machen. Kann das klappen?<br />

3 Editorial<br />

8 Kolumne von<br />

Jan Fleischhauer<br />

11 Nachrichten<br />

12 Fotos der Woche<br />

18 Grafik der Woche<br />

Tour de France<br />

20 Menschen<br />

80 Echt irre<br />

Wissen<br />

72 Hähne oder Ei?<br />

Das Schreddern von männlichen Küken wird<br />

verboten, und die Industrie muss nun Wesen<br />

gerecht werden, die als Abfallprodukt gelten<br />

76 Zutaten für das Seelenheil<br />

Wer an Diabetes leidet, sollte unbedingt<br />

auch auf die psychische Balance achten<br />

81 Wildhunde in der Hitzefalle<br />

Wie der Klimawandel die Tierwelt verändert<br />

Kultur<br />

82 Die Befreiungsbewegung<br />

Billie Eilish war schon als Teenager ein<br />

Star. Doch der Erfolg machte sie nicht<br />

selbstsicherer. Jetzt erfindet sie sich neu<br />

88 Der Wahnsinn namens Leben<br />

Eine Kaiserin hat Angst vorm Älterwerden<br />

und Literaturprinzessinnen feiern das<br />

Jungsein – unsere Tipps der Woche<br />

90 Alles, was Recht ist<br />

Sechs Regisseure verfilmen Ferdinand von<br />

Schirachs Kurzgeschichten – eine seltene<br />

Glanztat des deutschen Fernsehens<br />

Leben<br />

98 48 Stunden in Kassel<br />

Ein Wochenende in der Documenta-Stadt,<br />

die mehr zu bieten hat als Kunst<br />

103 Die Auswanderer<br />

Thilo Mischke über eine junge Frau, die kein<br />

Zuhause braucht, sondern im Camper lebt<br />

104 Die Stimmungsaufheller<br />

Yotam Ottolenghi gibt sich Saures<br />

108 Eierlegendes Wollmilchauto<br />

Als Plug-in-Hybrid wird Kias Klassiker<br />

Sportage zum Familien-Allrounder<br />

Rubriken<br />

89 Mein Salon<br />

93 Bestseller<br />

93 Impressum<br />

110 Die Einflussreichen<br />

112 Leserbriefe<br />

113 Nachrufe<br />

113 Servicenummern<br />

114 Tagebuch<br />

3 Editorial<br />

6 Kolumne von Jan<br />

Fleischhauer<br />

9 Nachrichten<br />

8 Fotos der Woche<br />

16 Grafik der Woche<br />

18 Menschen<br />

48 Leserbriefe<br />

Rubriken<br />

90 Salon<br />

95 Buch & Welt<br />

96 Kultur-Macher<br />

102 Bestseller<br />

124 Die Einflussreichen<br />

128 Nachrufe/ Namen<br />

129 Impressum<br />

130 Tagebuch<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

FOCUS 27/<strong>2022</strong> 7<br />

Johann<br />

König<br />

Lars<br />

Eidinger<br />

Kingsize<br />

Johann König<br />

×<br />

Lars Eidinger<br />

Shakespeares bester Mann<br />

fotografi ert den Popstar unter<br />

den deutschen Galeristen<br />

Mit exklusiven Kolumnen<br />

von Mark van Huisseling und<br />

Thilo Mischke<br />

Und Oliver Massuci im radikalmaterialistischen<br />

Fragebogen<br />

Style<br />

<strong>2022</strong><br />

2 Nr. Johann<br />

König<br />

Lars<br />

Eidinger<br />

Kunst – Xenia Hausner<br />

Kingsize


POLITIK<br />

Im Fadenkreuz<br />

Ihr Mann ist für die Russen der Feind Nummer eins – Olena Selenska, die Frau des ukrainischen<br />

Präsidenten, spricht über ihre Ehe mit ihm und lange, einsame Tage im Versteck<br />

TEXT VON SHAUN WALKER FOTOS VON ANTOINE D’AGATA<br />

In den frühen Morgenstunden des<br />

24. Februar hörte Olena Selenska<br />

dumpfes Donnern in der Ferne.<br />

Während sie erwachte, wurde ihr<br />

klar, dass dieses Geräusch kein<br />

Feuerwerk sein konnte. Sie riss die<br />

Augen auf und stellte fest, dass sie<br />

allein im Bett lag. Sie sprang auf<br />

und eilte ins Nebenzimmer. Dort fand sie<br />

ihren Mann, den ukrainischen Präsidenten<br />

Wolodymyr Selenskyj, in Anzug und<br />

Krawatte bereits fertig gekleidet für die<br />

Arbeit. „Was ist los?“, fragte sie. „Es hat<br />

begonnen“, antwortete er.<br />

„Ich hatte das Gefühl, als befände ich<br />

mich in einer parallelen Realität, als würde<br />

ich träumen“, beschreibt Selenska<br />

den Moment, in dem das normale Leben<br />

für ihre Familie und für ihr Land aus den<br />

Fugen geriet. Bald machte sich ihr Mann<br />

auf den Weg zum Präsidentenpalast im<br />

Zentrum von Kiew, um eine Sitzung des<br />

Sicherheitsrates zu leiten, in der über die<br />

erste Reaktion auf Wladimir Putins schockierende,<br />

massive Invasion der Ukraine<br />

entschieden werden sollte. Seine Frau sollte<br />

warten, bis er sie im Laufe des Tages mit<br />

Anweisungen anrufen würde.<br />

Nachdem er gegangen war, sah sie nach<br />

ihren beiden Kindern: dem neunjährigen<br />

Kyrylo und der 17-jährigen Oleksandra.<br />

Auch sie waren bereits wach und angezogen<br />

und wussten wohl bereits, was<br />

gerade geschah. Selenska begann, ein<br />

paar Sachen in den Koffer zu werfen. Jedes<br />

Mal, wenn eine Explosion in der Nähe<br />

zu hören war, eilte sie mit den Kindern<br />

und ihren Sicherheitsleuten in den Keller.<br />

Irgendwann stand sie im ersten Stock<br />

der Präsidentenvilla und schaute aus dem<br />

Fenster, als ein Kampfjet laut und tief vorbeidonnerte.<br />

Sie war sich nicht sicher, ob<br />

es ein ukrainischer oder ein russischer<br />

Flieger war.<br />

„Es war so surreal ... Als würde ich ein<br />

Computerspiel spielen und müsste bestimmte<br />

Levels bestehen, um wieder nach<br />

Hause zu kommen. Aber ich habe mich<br />

zusammengerissen und hatte den ganzen<br />

Tag ein seltsames Lächeln im Gesicht, weil<br />

ich versuchte, vor den Kindern die Panik<br />

zu verbergen. Wir folgten einfach nur den<br />

Anweisungen der Sicherheitskräfte und<br />

gingen dorthin, wo sie uns hindirigierten“,<br />

sagt sie.<br />

Am Abend konnte sie ihren Mann noch<br />

einmal kurz sehen. Sie mag nicht preisgeben,<br />

wo das war. Er sagte ihr, dass sie und<br />

die Kinder an einen sicheren Ort gebracht<br />

würden. Sie umarmten sich, für Tränen<br />

oder Sentimentalitäten blieb keine Zeit.<br />

Erst später ließ sie den Gedanken zu,<br />

ihn vielleicht nie wiedersehen zu können.<br />

Familie und Politik<br />

Monate später treffe ich Frau Selenska (im<br />

Ukrainischen endet der Name der Frau<br />

anders als der des Mannes) und bitte sie,<br />

mir von diesen schrecklichen ersten Stunden<br />

zu erzählen. Wir sprechen in einem<br />

Büro des Präsidentenpalasts im Zentrum<br />

von Kiew. Auf dem Weg dorthin muss ich<br />

mehrere Kontrollpunkte und Sicherheitsposten<br />

passieren, und sobald ich drinnen<br />

bin, werde ich mehrmals durchsucht. Vor<br />

den Fenstern stapeln sich Berge von Sandsäcken.<br />

In den Gängen huschen Gestalten<br />

wie Schattenfiguren vorbei. Kleine<br />

Lampen über dem Boden werfen schwaches<br />

Licht auf den blauen Teppich in den<br />

Korridoren.<br />

Immerhin: Die Lage ist nicht mehr so<br />

kritisch wie in den ersten Wochen des<br />

Krieges. Seit dem Rückzug der Russen aus<br />

den Außenbezirken von Kiew ist das Leben<br />

in der ukrainischen Hauptstadt wieder<br />

etwas entspannter. Junge Paare flanieren<br />

in der sommerlichen Sonne durch<br />

„Ich will nicht, dass mein Mann sich zwischen seiner<br />

Familie und seiner Verantwortung entscheiden muss“<br />

Olena Selenska, Ehefrau des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj<br />

das Stadt zentrum, die Cafés sind geöffnet,<br />

die nächtliche Ausgangssperre wurde auf<br />

23 Uhr verschoben. Die Luftalarmsirenen<br />

ertönen zwar immer noch, aber die meisten<br />

Menschen beachten sie nicht.<br />

Selenska konnte zumindest für eine<br />

gewisse Zeit nach Kiew zurückkehren,<br />

wenn auch ihre Sicherheitsleute weiterhin<br />

in Alarmbereitschaft bleiben. Man<br />

bittet mich, mein Mobiltelefon in einem<br />

Vorraum zu deponieren, und durchsucht<br />

mich noch einmal gründlich, bevor ich in<br />

den Raum geführt werde, in dem sie wartet.<br />

Ein Leibwächter in Militärkleidung<br />

begleitet mich und sitzt dann während<br />

des gesamten Gesprächs grimmig in der<br />

Ecke. Selenska begrüßt mich mit einem<br />

sanften Händedruck. „Danke, dass Sie<br />

gekommen sind“, sagt sie auf Englisch<br />

und wechselt dann ins Ukrainische.<br />

Kriegsalltag hinter Kontrollposten<br />

Die ersten Tage des Krieges waren beherrscht<br />

von dem erschreckenden Gefühl,<br />

dass alles möglich war. Raketen gingen<br />

auf Ziele im ganzen Land nieder, während<br />

russische Truppen aus drei Richtungen auf<br />

Kiew vorrückten. In einer seiner ersten<br />

Videoansprachen sagte Präsident Selenskyj:<br />

„Nach den vorliegenden Geheimdienstinformationen<br />

hat der Feind mich<br />

als Ziel Nummer eins und meine Familie<br />

als Ziel Nummer zwei eingestuft.“<br />

Seine Frau sagt mir nun, sie wisse nicht,<br />

auf welchen Geheimdienstinformationen<br />

die Einschätzung beruhte, ihr Mann habe<br />

ihr nie von einer konkreten Bedrohung für<br />

die Familie erzählt. Sie versucht, nicht zu<br />

viel darüber nachzudenken: „Sonst werde<br />

ich paranoid.“<br />

Ihr war jedoch klar, welche Möglichkeiten<br />

sich den Russen eröffneten, sollte<br />

ihnen die Gefangennahme der Präsidentenfamilie<br />

gelingen. „Es wäre doch möglich,<br />

den Präsidenten wegen seiner Familie<br />

zu erpressen. Ich will nicht, dass er sich<br />

jemals zwischen uns und seiner Verantwortung<br />

als Präsident entscheiden muss.<br />

Falls auch nur die geringste Möglichkeit<br />

der Erpressbarkeit besteht, muss man sie<br />

aus dem Weg räumen“, sagt sie. Sie spricht<br />

mit sanfter Stimme und sorgfältig<br />

Foto: Antoine d‘Agata / Magnum Photo<br />

44 FOCUS 27/<strong>2022</strong>


Haltung<br />

First Lady Olena Selenska<br />

beim Gespräch im Präsidentenpalast<br />

– die Sandsäcke sind<br />

keine Dekoration<br />

45


WIRTSCHAFT<br />

BLINDBLIND<br />

Der Albtraum<br />

vom Fliegen<br />

Pünktlich zur Hauptsaison<br />

erlebt der europäische Flugverkehr<br />

einen historisch einmaligen<br />

Kollaps. Das könnte das<br />

erste Zeichen tiefgreifender<br />

Veränderungen sein<br />

TEXT VON MATTHIAS KOWALSKI,<br />

CARLA NEUHAUS, THOMAS TUMA<br />

UND HERBERT WEBER<br />

Fo t o : K a d i r I l b o g a / G e t t y I m a g e s<br />

54 FOCUS 27/<strong>2022</strong>


TITEL<br />

Düsseldorf So sieht es<br />

aus, wenn im bevölkerungsreichsten<br />

Bundesland NRW<br />

die Sommerferien beginnen.<br />

Und das Chaos von Köln<br />

und Düsseldorf dürfte sich<br />

vielerorts wiederholen<br />

55


LEBEN<br />

Luftnummer<br />

Der Ballon hilft, den<br />

Documenta-Ort in der<br />

Karlsaue zu finden<br />

48 Stunden in Kassel<br />

Weitläufige Grünanlagen, ein weltberühmter Bergpark und alte Meister im<br />

Schloss. Die meisten Touristen kommen derzeit wegen der Documenta nach<br />

Kassel, doch die Stadt bietet weit mehr. Ein Wochenendbesuch<br />

TEXT VON GABI CZÖPPAN<br />

98 FOCUS 27/<strong>2022</strong>

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