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MIXOLOGY ISSUE #109 – Hey Gin!

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HEY GIN!<br />

NOCH MEHR<br />

HYPE?<br />

3/ 2022 — 20. Jahrgang<br />

Einzelverkaufspreis: [D] 11,00 € — [A, LUX] 12,00 € — [CH] 12,50 CHF<br />

DYNAMO TRESEN<br />

DIE BARS VON DRESDEN<br />

DER<br />

BESTE<br />

SHERRYRY<br />

DAS TASTE FORUM<br />

ENTFERNT DEN<br />

STAUB


ZEHN<br />

BITTER<br />

Für ungefähr jedes Kraut, das sich in Alkohol<br />

einlegen lässt, gibt es einen Amaro. Die Welt<br />

der <strong>–</strong> zumeist italienischen <strong>–</strong> Bitterliköre ist<br />

sagenhaft groß und vielfältig. Und sie ist vor<br />

allem eines: in gemixten Drinks vollkommen<br />

unterrepräsentiert. Dabei bieten Amari eine<br />

ähnliche geschmackliche Vielfalt wie <strong>Gin</strong><br />

und können auf unterschiedlichste Weise<br />

eingesetzt werden. Um Akzente zu setzen<br />

oder dem Amaro die Hauptrolle zu geben.<br />

Und natürlich schmeckt so ein Amaro nicht<br />

nur unfassbar gut, wenn als Zutat in gemixten<br />

Drinks eingesetzt, sondern auch pur ist<br />

er meist großer Genuss. Deswegen an dieser<br />

Stelle eine kleine Auswahl von zehn Amari,<br />

die auch in deiner Bar eine gute Figur machen<br />

würden. Sowohl klassische »rote« Bitterliköre<br />

als auch die vermeintlichen Digestifs.<br />

Text Marco Beier<br />

1<br />

FREIMEISTERKOLLEKTIV<br />

AMARO 212<br />

28 % — 500 ml<br />

Starten wir mit einer lokalen Legende. Wenn<br />

selbst Superstar Pink! diesen Amaro feiert und<br />

ihn sich in die Staaten wünscht, dann muss ja<br />

was dran sein. Bar-Grandseigneur Oliver Ebert<br />

und Destillateur Thomas Neubert haben sich<br />

einen klassischen Bitter Amaro zum Vorbild<br />

genommen und ein ganz eigenes, wundervolles<br />

Produkt daraus gemacht. Eine tolle, natürliche<br />

Farbe (helles Bronze) und ein Funkeln im<br />

Glas versprechen schon einiges. Dazu ein sehr<br />

fruchtiger, prägnanter Duft. Pfirsich setzt sich<br />

in der Nase fest und lässt sich erst mit der Zeit<br />

von trockenen Bitternoten ablösen.<br />

Geschmacklich ist der Amaro ebenso rund,<br />

wie es der Duft vermuten lässt. Bitterkeit und<br />

Süße spielen großartig miteinander und die<br />

28 % Alkohol sind wunderschön eingebunden.<br />

Im Negroni fehlt ein wenig die klare, bittere<br />

Kante, aber dafür ist der Amaro mit einer Scheibe<br />

Orange und eiskaltem Sodawasser ein sensationeller<br />

Begleiter für den Sommer, und auch<br />

der getestete »Paper Plane« (als Substitut für<br />

Aperol) wusste zu überzeugen. Klare Kaufempfehlung,<br />

wenn er denn gerade verfügbar ist.<br />

ZEHN<br />

Flaschen-Illustrationen: Editienne<br />

14


2<br />

MONDINO AMARO<br />

BAVARESE<br />

18 % — 700 ml<br />

Auch im bayerischen Traunstein am Chiemsee<br />

orientiert man sich am rubinroten Vorbild<br />

aus Mailand. Marketingtechnisch spielt man<br />

die gesamte Klaviatur dessen, was die Nähe zu<br />

Italien so hergibt. Ein Rezept mit italienischen<br />

Wurzeln, ergänzt um Zutaten aus den Voralpen<br />

<strong>–</strong> das Beste aus beiden Welten sozusagen. Dazu<br />

kommt Mondino ohne künstliche Farbstoffe<br />

aus und verwendet Zutaten in Bio-Qualität.<br />

Das klingt alles schon mal sehr gut, schauen<br />

wir also, was der bayerische Amaro im Glas<br />

kann. Das satte, wenn auch recht dunkle Rot<br />

weckt sofort Assoziationen zum großen Italiener.<br />

Hält man aber seine Nase in das Glas, hat<br />

man direkt die ganze Abteilung Zitrusfrüchte<br />

in der Nase. Zesten von Orangen, Zitronen und<br />

Grapefruits sind sofort bemerkbar und dominieren<br />

den ersten Eindruck. Erst nach und<br />

nach kommt eine Decke aus Kräuteraromen<br />

hinzu. Auf der Zunge dann eine sehr feine<br />

Süße, die ein tolles Gerüst bildet für die verschiedenen<br />

Zitrus- und Kräuternoten. Interessanterweise<br />

sind die 18 % Vol. deutlich spürbar.<br />

Das schadet dem Test-Negroni allerdings nicht<br />

und auch als Longdrink macht der Mondino<br />

eine sehr gute Figur.<br />

3<br />

SIRENE CANTO<br />

AMARO<br />

27 % — 700 ml<br />

Bleiben wir noch kurz beim bayerischen Dolce<br />

Vita. An welchem See lümmelt der gemeine<br />

Münchner, wenn es am Starnberger noch etwas<br />

zu frisch ist? Richtig, am Gardasee. Und<br />

genau von diesem Gardasee kommt ein Amaro,<br />

der so lecker ist, dass man sich wundern muss,<br />

wieso er nicht schon längst den Weg über den<br />

Brenner in jede Münchner Bar geschafft hat.<br />

Verdient hätte er es. Laut eigener Auskunft<br />

möchte man den für den Gardasee so typischen<br />

Zitronenduft einfangen und wenn man<br />

der Nase glauben darf, gelingt das ziemlich gut.<br />

Eine sehr schöne zitronige Frische begleitet die<br />

kräutrigen Aromen. Thymian und Salbei bildet<br />

man sich ein zu erkennen. Der erste Eindruck<br />

setzt sich auf der Zunge fort. Der erste Schluck<br />

hat beinahe etwas von Limoncello, wird aber<br />

recht schnell von kräftigen Kräutern eingeholt<br />

und am Ende durch eine leichte Vanillenote<br />

abgerundet. Eine regelrechte Einladung, mit<br />

der zitronigen Süße zu spielen und damit zu<br />

mixen. Der Smash mit Minze wusste jedenfalls<br />

zu überzeugen.<br />

4<br />

AMARO NONINO<br />

35 % — 700 ml<br />

Die meisten werden Nonino eher für ihre<br />

große Auswahl an Grappa kennen. Und auch<br />

im Amaro spielt der Traubenbrand eine große<br />

Rolle: Der Kräuterlikör wird mit Traubenbrand<br />

veredelt. Aber so viel erst einmal zur<br />

grauen Theorie. In der Praxis hebt sich der<br />

Amaro Nonino schon allein aufgrund seines<br />

Alkoholgehalts von den anderen Produkten<br />

ab. Die 35 % sind kräftig und stehen sehr deutlich<br />

im Vordergrund. Der Likör ist vergleichsweise<br />

hell, klar und leuchtend, ein dunkles<br />

Orange im Glas. Zum ersten Mal, dass sich eine<br />

dezente, pfeffrige Schärfe erkennen lässt. Der<br />

Kräuteranteil kommt eher frisch daher und<br />

die karamellige Süße wird betont von leichten<br />

Vanille- und Kakaonoten. Der auf ein Rezept<br />

von 1933 zurückgehende Amaro ist zudem einer<br />

der wenigen, der konkret mit einem Drink<br />

in Verbindung steht. 2008 kreierte Sam Ross<br />

den »Paper Plane« (s.S. xx) und kombinierte<br />

zwei Amari mit Zitrone und Bourbon. Amaro<br />

Nonino nimmt dabei eindeutig die prägende<br />

Seite ein.<br />

15


STADTGESCHICHTEN<br />

DYNAMO<br />

TRESEN<br />

Text Stefan Adrian<br />

Cocktails trinken in der sächsischen<br />

Landeshauptstadt. Geht<br />

das? Ja, das geht. Sogar München<br />

wird reminisziert. Und wir<br />

erklären auch den Unterschied<br />

zwischen neu und alt. Wir<br />

haben uns von Süd nach Nord<br />

durch Dresden gekostet.<br />

24


Noch neu in der Neustadt.<br />

Das Buddha Palace<br />

Foto: Sebastian Böttcher<br />

25


AUF EIN GLAS MIT …<br />

Text & Interview Martin Stein<br />

Remy Savage musste die<br />

Eröffnung seiner »Bar with<br />

Shapes for a Name« wegen<br />

Corona um acht Monate verschieben.<br />

Kurz danach begeisterten<br />

er und sein Team auf<br />

dem Bar Convent Berlin zahlreiche<br />

Menschen mit ihrem<br />

vom Bauhaus beeinflussten<br />

Pop-up. Unser Autor hat ihn<br />

in London zum Gespräch über<br />

die eigene Bar, das Berliner<br />

Gastspiel und natürlich über<br />

das Bauhaus getroffen.<br />

»DER LIEBE<br />

WEGEN«<br />

Foto: Constanze Fleischmann<br />

34


Foto: Martin Stein<br />

Mixology: Lieber Remy, wir haben uns im<br />

Oktober 2020 bei dir zu Hause getroffen, und<br />

damals hattest du dich darauf gefreut, deine<br />

neue Bar etwa vier bis sechs Wochen später<br />

aufmachen zu dürfen …<br />

Remy Savage: (lacht) Ja, ja, und genau so ist<br />

das ja bekanntermaßen auch passiert …<br />

Wann war denn schließlich Eröffnung?<br />

Acht Monate später. Acht Monate nach meiner<br />

treffenden Prophezeiung. Irgendwann war<br />

das auch so eine Ego-Geschichte. Wir haben<br />

begonnen, so dieses und jenes zu machen, wir<br />

hatten eine Bar als Konzept, bevor sie schließlich<br />

physisch Gestalt annahm. Wir haben<br />

Drinks international verschickt, und zwar aus<br />

demselben Wohnzimmer heraus, in dem wir<br />

beide Schach gespielt haben, und wir haben in<br />

diesen acht Monaten glaube ich in mehr als 50<br />

Länder Cocktails versandt, bis wir schließlich<br />

am 17. Mai endlich offiziell öffnen durften.<br />

Zumindest konntest du öffnen. Viele, gerade<br />

Neugründer, sind in diesen Zeiten untergegangen,<br />

bevor sie überhaupt an den Start gehen<br />

konnten. Du wirkst ja immer sehr offen und<br />

positiv, aber ich kann mir vorstellen, dass dir<br />

diese Zeit auch ziemlich an die Nieren gegangen<br />

ist.<br />

Wir hatten in einer Beziehung Glück, weil<br />

wir nur ein einziges Mitglied für das Team<br />

anheuern mussten, zusätzlich zu mir, meinem<br />

Geschäftspartner Paul Lougrat und der Barmanagerin<br />

Maria Kontorravdis, die schon<br />

ein Jahr vor der Eröffnung bei uns war. Das<br />

bedeutet, dass wir keine allzu hohen Fixkosten<br />

hatten, im Gegensatz zu vielen etablierten<br />

Läden, die auch noch versuchen mussten, ihr<br />

Personal zu halten. Außerdem habe ich dir ja<br />

erzählt, dass das hier früher einer der ersten<br />

ZUR PERSON<br />

Der Franzose mit irischen Wurzeln<br />

zählt seit Jahren zu den bekanntesten<br />

und innovativsten Bartendern Europas.<br />

Seit letztem Jahr ist er Mitbetreiber<br />

der namenlosen »Bar with Shapes<br />

for a Name« in London.<br />

Dönerläden Londons war, und insofern ist die<br />

Pacht hier nicht die fürchterlichste der Stadt.<br />

Und natürlich ist das hier im East End auch<br />

nicht Mayfair. Trotzdem war es nicht leicht.<br />

Ich hab’ halt nix mehr gegessen, aber es war eh<br />

mal Zeit für eine Diät.<br />

Und sogar günstige Londoner Mieten gelten in<br />

den allermeisten Orten der Welt als sauteuer.<br />

So hat man ständig Kosten, denen man<br />

hinterherläuft. Als international renommierter<br />

Bartender hattest du ja eventuell Möglichkeiten,<br />

Einkommen außerhalb des Barbetriebs zu<br />

generieren. Wie sah es denn damit aus?<br />

Nachdem die ganze Welt geschlossen hatte,<br />

war es damit natürlich auch Essig. All diese<br />

Dinge, Vorträge, Messen, großzügiges Sponsoring<br />

einer Marke, das fiel ja auch alles weg.<br />

Hattest du Angst?<br />

Nein. Es ist ja alles nur Geld, und Geld gibt es<br />

schließlich nicht, oder? Es wäre natürlich schade<br />

gewesen, wenn die Bar nicht hätte öffnen<br />

können, aber wir hätten uns bestimmt irgendwie<br />

angepasst. Ich glaube, auf bestimmte Weise<br />

passen wir uns nach wie vor an, schließlich<br />

haben wir ja auch erst acht oder neun Monate<br />

offen. Es ist tatsächlich viel mehr los als erhofft,<br />

was sehr schön ist und auch Paul und<br />

mir zugutekommt, weil wir beide nicht besonders<br />

gut mit Geld umgehen können und dazu<br />

neigen, in Kleinigkeiten zu investieren, die<br />

kaum jemandem auffallen, wir uns das aber<br />

der konzeptuellen Kohärenz wegen einbilden.<br />

Das Konzeptuelle war auch das, was uns an<br />

Berlin gereizt hat.<br />

Tatsächlich war euer Auftritt beim BCB äußerst<br />

eindrucksvoll.<br />

Eigentlich ging es ja anfangs nur um eine Gastschicht<br />

in der Green Door, aber ich dachte<br />

mir, das wäre doch schade, nur deswegen nach<br />

Berlin zu gehen, das zwar nicht gerade die Geburtsstätte<br />

des Bauhaus als Schule ist, sondern<br />

eher dessen Sterbezimmer. Jedenfalls war der<br />

BCB 2021 für uns als Bar der wichtigste Ort, an<br />

dem man sein konnte.<br />

Und dann habt ihr da einen ziemlichen Auftritt<br />

hingelegt. Ich fand das auch im Nachhinein<br />

sehr klug, gerade weil die Riesenstände der<br />

großen Firmen fehlten. Aber die Abwesenheit<br />

vieler, die üblicherweise glänzten, hat zwangsläufig<br />

deine Pop-up-Bar zum Epizentrum der<br />

Messe gemacht.<br />

Sehr nett, auch wenn ich mir nicht sicher bin,<br />

ob das wahr ist.<br />

Auf jeden Fall. Schon allein das Ambiente, die<br />

Möbel …<br />

So großartig! Und darum ging es auch, weil wir,<br />

wenn wir unsere Vorstellung einer Bar vermitteln<br />

wollen, nicht zwangsläufig über Cocktails<br />

reden. Natürlich sind sie Bestandteil dessen,<br />

was wir hier anbieten, aber es ist doch sehr viel<br />

mehr. Weil wir da bei null angefangen haben,<br />

haben wir auch von Anfang an das Design mitgestaltet.<br />

Es hat riesigen Spaß gemacht, mit echten<br />

Möbelstücken aus der Zeit zu arbeiten, und<br />

auch die Leute vom BCB waren da unfassbar<br />

hilfreich, nachdem wir gesagt hatten, dass wir<br />

eben mal etwas ganz anderes wagen wollten.<br />

Und so wurde der Auftritt zu einem Highlight.<br />

Wer den Namen Remy Savage noch nicht gekannt<br />

haben sollte <strong>–</strong> mit dem BCB hat sich das<br />

sicher geändert. War der Werbeeffekt für die<br />

»Bar with Shapes for a Name« in diesem Maße<br />

erwartet oder gar beabsichtigt?<br />

Das ist alles sehr schmeichelhaft, aber wir hatten<br />

die Bar ja noch nicht lange, und man darf<br />

auch nicht vergessen, dass das auch mein erster<br />

eigener Laden ist und wir nicht wirklich<br />

wissen, was wir eigentlich tun. Man sperrt eigentlich<br />

keine Bar zu, die gerade einmal vier<br />

Monate offen hat, und macht sich mit dem<br />

ganzen Team auf die Reise. Ich sag das mal mit<br />

aller gebotenen Zurückhaltung: Hier arbeiten<br />

sechs Leute und zwei davon sind die Besitzer.<br />

Wir haben gar nicht die Möglichkeiten, etwaige<br />

Auswirkungen so einer Aktion objektiv zu<br />

erfassen. Wichtig war erstens wieder die konzeptuelle<br />

Kohärenz und zweitens mussten wir<br />

einfach den Andrang bewältigen, den wir so<br />

keinesfalls erwartet hatten. Mein Geschäftspartner<br />

aus Paris war da, wir haben uns freudig<br />

begrüßt, dann habe ich ihn in die Uniform gesteckt<br />

und ihm gesagt, dass er jetzt mitarbeiten<br />

muss. Anstatt der erwarteten 500 Drinks pro<br />

Tag haben wir 2000 gemacht, alles war weg und<br />

so hieß es gleich am ersten Abend, die Prep für<br />

den nächsten Tag zu machen, anstatt feiern zu<br />

gehen.<br />

Der neue Ort des BCB hat euch da ja auch<br />

sehr in die Karten gespielt.<br />

Genau. Die Architektur ist ja sehr vom Bauhaus<br />

inspiriert, was die Verwendung von Licht<br />

und Raum angeht, all das, auch mit Elementen<br />

des Art-Déco, das spricht alles miteinander,<br />

mit der Philosophie des Bauhaus. Ganz abgesehen<br />

von der historischen Verbindung ist<br />

der Veranstaltungsort selbst so aussagekräftig,<br />

bringt alles zum Leben.<br />

35


COCKTAIL<br />

DIE GIN-<br />

AFFÄRE<br />

<strong>Gin</strong> wird von manchem Experten seit<br />

einiger Zeit der Niedergang vorhergesagt.<br />

Ein ähnliches Schicksal wie dem<br />

Vodka drohe, hört man immer wieder.<br />

Wie ist die Lage nach den diversen Lockdowns,<br />

welches Bild ergibt sich wirklich?<br />

Wir haben mit einigen Experten aus der<br />

Branche gesprochen und sind auf große<br />

Unterschiede gestoßen. Aber es scheint<br />

sich die Tendenz abzuzeichnen, dass die<br />

stürmischen, überhitzten Zeiten vorbei<br />

sind <strong>–</strong> doch Kassandra-Rufe treffen<br />

ebenfalls nicht zu.<br />

Text Markus Orschiedt<br />

Fotos Jule Frommelt<br />

Drink Design Rose-Manon Baux<br />

»Herz Bar«, Basel<br />

3 cl Gift <strong>Gin</strong><br />

1 BL Absinthe Baseler Stadtbrennerei<br />

1,5 cl Zuckersirup<br />

2,5 cl frischer Zitronensaft<br />

Schaumwein Baseler Stadtkelter<br />

GLAS: Coupette /<br />

Champagnerschale<br />

GARNITUR: Zitronenzeste<br />

ZUBEREITUNG: Alle Zutaten<br />

(außer Schaumwein) in den<br />

Shaker geben, auf Eiswürfeln<br />

kräftig schütteln und doppelt<br />

ins vorgekühlte Glas abseihen.<br />

Mit dem Schaumwein auffüllen<br />

und einmal kurz vorsichtig<br />

umrühren.<br />

FRENCH 75<br />

40


41


<strong>MIXOLOGY</strong> TASTE FORUM<br />

GET ON<br />

THE FLOR<br />

Collage/Illustration: Editienne<br />

60


Text & Leitung des Tastings<br />

Maria Gorbatschova<br />

Sherry gehört viel mehr in<br />

die Bar. Darüber schreiben<br />

wir schon seit Jahren. Dennoch<br />

bleibt er bis heute in<br />

der Breite der Barlandschaft<br />

eine Randerscheinung. Dabei<br />

bietet er so viele Dinge, die<br />

zu einer modernen, zeitgemäßen<br />

Cocktailkultur passen.<br />

Das gilt insbesondere<br />

für die trockenen Varianten.<br />

Das Taste Forum wirft einen<br />

Blick auf eine Auswahl der<br />

beiden wichtigen Kategorien<br />

»Fino« und »Oloroso«.<br />

Alles beginnt in Andalusien, der südlichsten<br />

Region Spaniens. Im frühen Mittelalter fanden<br />

die Mauren über Marokko und den Golf<br />

von Gibraltar den Weg in diesen Teil Spaniens<br />

und breiteten sich in Europa aus. Mit ihnen<br />

kam das Wissen über Destillation, also eine<br />

Voraussetzung für alle uns bekannten Spirituosen<br />

und natürlich auch fortifizierten Wein, der<br />

schon seit dem Mittelalter in der Jerez-Region<br />

hergestellt wird. Sherrys sind Weine, die teilweise<br />

mit Traubenbrand fortifiziert werden.<br />

Durch den Angels’ Share und den hohen Zuckergehalt<br />

der Trauben kommen einige auch<br />

ohne Alkohol-Zugabe auf bis zu über 20 % Alkoholgehalt.<br />

Sherry muss im »Sherry-Dreieck«<br />

reifen, das sich zwischen Jerez, Sanlúcar de<br />

Barrameda und El Puerto de Santamaria erstreckt.<br />

Die Region, in der die Weine dafür angebaut<br />

und vinifiziert werden dürfen, ist etwas<br />

weiter gefasst. Der beinah weiße, kalkhaltige<br />

Albariza-Boden der Gegend eignet sich hervorragend<br />

für Weinbau. Das Klima dagegen ist extrem:<br />

Im Sommer erreichen die Temperaturen<br />

über 40 ° C, dazu kommt der heiße, trockene<br />

Levante-Wind.<br />

Traditionell gibt es fünf trockene Stile, die<br />

alle aus der säurearmen Palomino-Traube fermentiert<br />

werden: Manzanilla, Fino, Amontillado,<br />

Palo Cortado und Oloroso. Manzanilla<br />

und Fino werden mindestens zwei Jahre unter<br />

Flor gelagert, einer Hefeschicht, die sich wie<br />

ein weißgrauer Schaum auf den Wein im Fass<br />

legt. Dieser Prozess nennt sich biologische<br />

Reifung, durch sie oxidiert der Wein nicht<br />

und behält im Gegensatz zu anderen Sherry-<br />

Stilen eine helle Farbe. Flor ist eine aerobische<br />

Hefe kultur, die sich auf natürliche Weise in<br />

bestimmten Fässern bildet. Er ist filigran und<br />

kann leicht absterben. Flor ist eine Besonderheit<br />

Andalusiens, er kommt sonst wild nur im<br />

Jura und (angeblich) im Kaukasus vor. Er ist so<br />

empfindlich für Temperatur und Luftfeuchtigkeit,<br />

dass er selbst in ein und derselben Bodega<br />

an der Meeresseite dicker wachsen kann als<br />

zur Landseite hin. In manchen klimatisch ungeeigneten<br />

Bodegas gedeiht er gar nicht. Flor<br />

ernährt sich von im Wein vorkommendem Glycerin,<br />

Restzucker und volatilen Säuern. Dabei<br />

erschafft er die einzigartige, straffe Textur dieser<br />

Sherrys, erhöht den Ester- sowie Aldehydgehalt<br />

und macht Fino und Manzanilla zu den<br />

trockensten Weinen der Welt.<br />

Fino, Manzanilla, Oloroso<br />

Manzanilla dürfen sich ausschließlich Weine<br />

nennen, die in der Hafenstadt Sanlúcar de<br />

Barrameda ausgebaut werden. Dort herrscht<br />

ein einzigartiges, kühleres Mikroklima, das<br />

eine andere, dickere Florschicht als irgendwo<br />

sonst im geschützten Herkunftsgebiet hervorbringt.<br />

Vor allem hier findet sich die Flor-<br />

Kultur Saccharomyces rouxii. Manzanillas sind<br />

meist frischer und leichter mit schmeckbarem<br />

maritimem Einfluss, Finos sind häufig intensiver<br />

und herzhafter, ihre dünnere Florschicht<br />

lässt etwas mehr Sauerstoff durch und macht<br />

sie nussiger. Insgesamt ist der Unterschied jedoch<br />

fließend. So stellen Manzanilla-Hersteller<br />

aus Sanlúcar teils auch Finos her, die ähnlich<br />

maritim schmecken.<br />

Olorosos hingegen sind trockene Sherrys,<br />

die komplett ohne Flor-Schicht reifen und mit<br />

der Luft interagieren, also eine oxidative Reifung<br />

durchlaufen. Olorosos sind konzentriert<br />

und körperreich, gegensätzlich zu Fino und<br />

Manzanilla haben sie hohe Glycerin-Werte,<br />

was ihnen nahezu einen Eindruck von Süße<br />

verleiht. Amontillado und Palo Cortado reifen<br />

sowohl biologisch als auch oxidativ. Geschmacklich<br />

liegen sie üblicherweise irgendwo<br />

zwischen Fino und Oloroso. Abgesehen davon<br />

produziert die Region Süßweine wie Moscatel<br />

und Pedro Ximénes, den wohl süßesten Wein<br />

der Welt. Daneben werden vor allem für Exportmärkte<br />

meist liebliche Blends, z. B. Cream<br />

Sherry, produziert.<br />

Ein Naturprodukt. Nur echt<br />

aus Andalusien<br />

Der ursprüngliche Herstellungsprozess ist sehr<br />

naturnah. Fermentiert wird traditionell mit<br />

wilden Weinhefen in jenen getoasteten American-Oak-Fässern,<br />

in denen der Sherry auch<br />

gelagert wird. Heute sind viele Hersteller dazu<br />

übergegangen, moderne Metall-Fermentationsbehälter<br />

und Reinzuchthefen zu benutzen.<br />

Aber die alten Herstellungsweisen existieren<br />

parallel dazu weiter. Der fertige Wein wird in<br />

Fässer gefüllt und nach einigen Monaten klassifiziert,<br />

dann wird sichtbar, welche Fässer sich<br />

für welchen Sherry-Stil eignen. Das bedeutet<br />

nicht, dass aus einem als Fino klassifizierten<br />

Wein auch immer Fino wird: Flor ist launisch<br />

und bildet sich in manchen Fässern zu<br />

schwach oder gar nicht aus. Die Fässer werden<br />

regelmäßig inspiziert. Jedes Fass entwickelt<br />

sich anders, aus ein und derselben Charge<br />

kann eine Vielzahl verschieden schmeckender<br />

Sherrys entstehen.<br />

Alle Sherrys (außer die seltenen Jahres-Abfüllungen)<br />

gehen danach durch das Solera-System,<br />

also Reihen von übereinanderliegenden<br />

Fässern, die nie ganz geleert, sondern abwärts<br />

von einer Reihe zur nächsten mit entsprechendem<br />

Sherry aufgefüllt werden. Bei Finos und<br />

Manzanillas wird so die Flor-Schicht, die sonst<br />

nach einigen Jahren absterben würde, mit neuem<br />

Wein »gefüttert« und kann dadurch sehr<br />

lang weiterleben. Bei anderen Sherry-Stilen<br />

wird durch das Blenden in Solera-Fässern die<br />

Kontinuität des Produkts gewahrt. Ein kleiner<br />

Teil des Sherrys in jedem Solera-Fass ist so alt<br />

wie das jeweilige Solera-System der Bodega.<br />

Deswegen hat Sherry meist keine Altersangabe,<br />

es kann nur ein durchschnittliches Alter<br />

des Weins errechnet werden.<br />

61


BUSINESS<br />

ROHER<br />

STOFF<br />

Illustration: Editienne<br />

66


EINE KRISE IST NICHT GENUG: NACH COVID TREFFEN<br />

JETZT DIE WIRTSCHAFTLICHEN VERWERFUNGEN INFOLGE<br />

DES UKRAINE-KRIEGS SOWOHL VERBRAUCHER ALS AUCH<br />

UNTERNEHMEN. INSBESONDERE DIE BRENNEREI-BRANCHE<br />

KÖNNTE ZU DEN LEIDTRAGENDEN GEHÖREN. DENN SIE<br />

IST NICHT NUR ENERGIEINTENSIV, SONDERN HÄNGT IN<br />

HOHEM MASSE VON EINEM ROHSTOFF AB, DESSEN PREIS<br />

NACH KRIEGSBEGINN EXPLODIERT IST <strong>–</strong> GETREIDE.<br />

Text Nils Wrage<br />

Man muss so ehrlich sein: Oft vergisst man<br />

eben doch, dass eine Spirituose auf etwas basiert,<br />

das aus der Erde wächst. Bei Obstbränden<br />

oder Agavendestillaten vergisst man es<br />

vielleicht weniger, aber gerade bei den Standards<br />

der Bar <strong>–</strong> bei Vodka, <strong>Gin</strong>, Whiskey oder<br />

Rum <strong>–</strong> ist es eigentlich zu abstrakt. Man mag<br />

von Mash Bills reden oder darüber, wie stark<br />

ein Malz getorft wurde. Die Flasche mit ihrem<br />

fertigen Produkt ist trotzdem zu weit weg vom<br />

Ursprung. Dass aller Schnaps in allerletzter Instanz<br />

auf Pflanzen beruht, meist auf Getreidekörnern<br />

(oder Melasse), hat man so nicht im<br />

Kopf. Auch weil wir meist kaum noch wissen,<br />

wie diese Getreide eigentlich aussehen oder<br />

schmecken.<br />

Getreide<br />

steckt nicht nur im Brot<br />

Zumindest in Sachen Preis könnten demnächst<br />

viele Menschen schmerzhaft daran erinnert<br />

werden, dass nicht nur ihr Brot oder ihre Pizza,<br />

sondern auch ihr Lieblingsbier oder liebster<br />

Whiskey aus Getreide hergestellt wird. Die<br />

Preise für praktisch alle Getreide gehen derzeit<br />

<strong>–</strong> wie so viele andere Dinge auch <strong>–</strong> durch die<br />

Decke. Das liegt vor allem daran, dass durch<br />

den russischen Krieg in der Ukraine beide Länder<br />

nur noch sehr wenig Getreide exportieren.<br />

Sowohl die Ukraine als auch Russland (und<br />

auch das ebenfalls isolierte Belarus) zählen zu<br />

den Kornkammern der Welt, sei es bei Roggen,<br />

Weizen oder Gerste.<br />

Für die EU und speziell Deutschland ist das<br />

zunächst unbedrohlich, denn die osteuropäischen<br />

Getreide-Exporte gehen vor allem in andere<br />

Regionen, z. B. nach Nordafrika. Deutschland<br />

ist in Sachen Getreide, je nach befragter<br />

Stelle, entweder Selbstversorger oder gar Überversorger,<br />

die hiesigen Erzeugnisse sind also<br />

ebenfalls teilweise für den Export. Und dort<br />

liegt das Problem, das mittelfristig auch zu einem<br />

hiesigen werden wird: Durch die ausbleibenden<br />

Lieferungen aus Russland und der Ukraine<br />

entstehen empfindliche Lücken auf den<br />

internationalen Märkten. Denn plötzlich gibt<br />

es weniger Ware von weniger Lieferländern bei<br />

gleichbleibendem Bedarf. Auf einmal also interessieren<br />

sich auch Käufer für deutsches Getreide,<br />

die vorher russisches oder ukrainisches<br />

gekauft haben. Befeuert wird diese Entwicklung<br />

außerdem durch zwei weitere Faktoren:<br />

Zuletzt wurden z. B. bei Weizen global verringerte<br />

Erntevolumen erzielt. Und die durch die<br />

Ukrainekrise hervorgerufenen Energie-Engpässe<br />

haben innerhalb kürzester Zeit dazu geführt,<br />

dass die energieintensive Produktion<br />

von Stickstoffdünger stark heruntergefahren<br />

wurde <strong>–</strong> mit womöglich erheblichen Auswirkungen<br />

auf die nächsten Ernten, so der Verband<br />

der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft<br />

e. V. gegenüber Mixology.<br />

Verknappung = Verteuerung<br />

Diese Verknappung wiederum sorgt auf freien<br />

Märkten immer und ausnahmslos für Preissteigerungen.<br />

Wie beim Gas, so auch beim Getreide.<br />

Wenn also das Getreide in Deutschland<br />

aller Wahrscheinlichkeit nie knapp werden<br />

wird, so wird es dennoch auch hier deutlich<br />

teurer, weil deutsche Abnehmer natürlich<br />

nun mit den außereuropäischen Käufern und<br />

dem Weltmarktpreis mithalten müssen. Und<br />

das wiederum bedeutet nicht nur, dass die<br />

Bäcker-Verbände bereits Mitte März bekannt<br />

gegeben haben, demnächst Preiskorrekturen<br />

vornehmen zu müssen, um überhaupt kostendeckend<br />

weiterarbeiten zu können. Es betrifft<br />

auch den Schnaps.<br />

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