FOCUS_19_2022_Vorschau
AUSGABE 19 7. Mai 2022 EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC REISE Wie Gott in Freiburg: 48 Stunden in der lebenswertesten Stadt Deutschlands Wie wir die nächste Pandemie verhindern von Bill Gates IN DER IMMOBILIEN-FALLE Wenn der Traum zum Albtraum wird: Die neuen Risiken bei Zinsen, Baukosten, Sanierung
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AUSGABE <strong>19</strong> 7. Mai <strong>2022</strong><br />
EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />
REISE<br />
Wie Gott in Freiburg:<br />
48 Stunden in der<br />
lebenswertesten Stadt<br />
Deutschlands<br />
Wie wir die<br />
nächste<br />
Pandemie<br />
verhindern<br />
von<br />
Bill Gates<br />
IN DER<br />
IMMOBILIEN-FALLE<br />
Wenn der Traum zum Albtraum wird:<br />
Die neuen Risiken bei<br />
Zinsen, Baukosten, Sanierung
Alle <strong>FOCUS</strong>-Titel to go.<br />
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E-PAPER LESEN:
Seite 5<br />
Seite 6<br />
Deutschland braucht einen<br />
neuen Regierungsvertrag<br />
EDITORIAL<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Fotos: Kay Nietfeld/dpa, Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
das Wort von der „Zeitenwende“<br />
hat Olaf Scholz in seiner weltweit<br />
beachteten Rede drei Tage nach<br />
dem Überfall Putins nicht zufällig<br />
in den Mund genommen. Er<br />
braucht die Wucht dieses Begriffs<br />
allein schon, um die 180-Grad-<br />
Wende bei der Lieferung von Waffen<br />
an die Ukraine und die massive<br />
Aufrüstung bei seiner SPD und<br />
bei den Grünen durchzusetzen.<br />
Seither ist wenig Wende und viel<br />
Klein-Klein zu sehen: So ging es<br />
bei der Klausurtagung des Kabinetts<br />
in Meseberg in dieser Woche um<br />
die bessere Durchsetzung von Sanktionen<br />
gegen Oligarchen, die Kiew-Reise von<br />
Friedrich Merz, das Erdöl-Embargo der<br />
EU gegen Russland.<br />
Damit wird die Ampelkoalition der<br />
Größe der Aufgabe nicht annähernd gerecht.<br />
Eigentlich hätte in Meseberg nichts<br />
Geringeres auf der Tagesordnung stehen<br />
müssen als eine Generalrevision des<br />
Koalitionsvertrages. Denn die eigentliche<br />
Zeitenwende besteht in der dauerhaften<br />
Vertreibung aus dem Paradies preisgünstiger<br />
Energie. Benzin und Strom werden<br />
wohl nie wieder so preiswert sein wie vor<br />
dem 24. Februar <strong>2022</strong> (und schon da hatten<br />
wir in Deutschland mit die höchsten<br />
Preise weltweit).<br />
In ihrem Koalitionsvertrag vom 7. Dezember<br />
2021 ging die Ampel noch davon<br />
aus, dass moderne Gaskraftwerke und<br />
damit russisches Erdgas die Brücke in<br />
die CO2-freie Zukunft sind. Diese Brücke<br />
hat das Kriegsbeben in der Ukraine hinweggefegt.<br />
Gas wird es auch in Zukunft<br />
geben, aber eben zu erheblich höheren<br />
Preisen als bisher. Die Tatsache, dass<br />
Deutschland bis zum vollen Ausbau der<br />
erneuerbaren Energien in erheblichem<br />
Ausmaß zum Import von Energieträgern<br />
oder Strom gezwungen sein wird, bedeutet<br />
de facto den Import von Inflation,<br />
also Wohlstandsverlust für die<br />
Bürger und Wachstumseinbußen<br />
für die Wirtschaft.<br />
Mai-Klausur Kanzler Olaf Scholz mit seinen Ministern<br />
im Garten des Schlosses Meseberg<br />
Eine Blitzwende bei der Energieversorgung<br />
der viertgrößten Industrienation der<br />
Welt verbunden mit einem Inflationsschub<br />
wie seit 40 Jahren nicht mehr sowie ein<br />
Giga-Aufrüstungsprogramm sollte doch<br />
Anlass genug sein für den Kanzler, sein<br />
Regierungsprogramm grundlegend zu<br />
überarbeiten. Denn diese massiven Verwerfungen<br />
der ökonomischen<br />
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Letzte Hoffnung<br />
Wie die Vereinten Nationen einen<br />
Waffenstillstand absichern könnten<br />
Von Winfried Böttcher Seite 2<br />
7. Mai <strong>2022</strong> | #26<br />
und politischen Grundlagen müssten<br />
auch einen Neustart der Steuerpolitik<br />
und der Standortpolitik nach<br />
sich ziehen.<br />
Nur ein Beispiel ist da die Notwendigkeit,<br />
den Einkommensteuertarif<br />
der Inflationsrate anzupassen,<br />
also zu senken – wie ich vergangene<br />
Woche an dieser Stelle vorschlug.<br />
Höchstpreise für Energie, hohe Inflation,<br />
unattraktive Steuertarife und<br />
fehlgeleitete Investitionsanreize – es<br />
gäbe viel zu tun für den Anpack-<br />
Scholz aus dem Wahlkampf. Leider<br />
gewinnt man den Eindruck, dass die<br />
Ampel nach einem geopolitischen<br />
Tsunami weiter mit ihrem alten Navi<br />
auf Straßen und Brücken unterwegs ist,<br />
die es gar nicht mehr gibt.<br />
Und noch einmal „Zeitenwende“: Die<br />
eigenen vier Wände, das eigene Häusle<br />
bauen ist der Traum von Millionen Deutschen.<br />
Die nüchterne Vernunft sprach in<br />
den vergangenen Jahren für den Kauf<br />
einer Wohnung oder eines Hauses, denn<br />
Kredite waren billig und mit der<br />
TRAUMAFORSCHUNG<br />
Jürgen Gaulke über<br />
Energiepreise und Inflation<br />
Wertsteigerung einer Immobilie<br />
konnte keine andere Geldanlage<br />
mithalten. Doch das Betongold<br />
glänzt nicht mehr so golden wie<br />
früher. Immobilienkäufer sehen<br />
sich neuen Risiken ausgesetzt –<br />
die Preise steigen, Kredite werden<br />
teuer, und die Kosten für Baustoffe<br />
explodieren geradezu und sind<br />
deshalb schwer kalkulierbar. Und<br />
noch eine Frage treibt Immobilienbesitzer<br />
um – zumindest jene, die sich<br />
für den Kauf eines Altbaus entschieden<br />
haben: Lohnt sich eine klimagerechte<br />
Sanierung oder ist ein Abriss günstiger?<br />
Über den großen Traum, der für viele<br />
Bürger zum Albtraum zu werden droht,<br />
schreibt unser Autor Matthias Kowalski<br />
in der aktuellen Titelgeschichte.<br />
Herzlich Ihr<br />
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<strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong> 3
Um die Macht<br />
NRW-Landesvater<br />
Hendrik Wüst muss<br />
sich im Wahlkampf<br />
behaupten<br />
Seite 30<br />
Gegen das Virus<br />
Die letzte Pandemie<br />
sagte Bill Gates<br />
voraus. Jetzt will er die<br />
nächste verhindern<br />
Seite 24<br />
Wider die Kirschtorte<br />
Rund um Freiburgs<br />
Münster wird innovativ<br />
getafelt – von<br />
Sushi bis Cacciucco<br />
Seite 98<br />
Für die Zukunft<br />
Die Indieband<br />
Arcade Fire vertont<br />
den Kampf um<br />
eine bessere Welt<br />
Seite 84<br />
Mit der Vergangenheit<br />
Sigmar Gabriel muss<br />
wie seine Partei mit<br />
Altlasten in Sachen<br />
Russland leben<br />
Seite 36<br />
Im Schwarm malen Stare Bilder an den Himmel Seite 70<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong>
INHALT NR. <strong>19</strong> | 7. MAI <strong>2022</strong><br />
Titelthema<br />
Wirtschaft<br />
58 Von Raubtieren und Turnschuhen<br />
Björn Gulden hat Puma zu einem der<br />
größten Sportkonzerne gemacht. Im<br />
Interview erklärt er, was Krieg, Politik und<br />
Klimawandel für sein Geschäft bedeuten<br />
64 Der Traumfänger<br />
Wie der neue Chef die Automarke Alfa<br />
Romeo aus dem Tiefschlaf erwecken will<br />
67 Geldmarkt<br />
83 Müllkippe Mars<br />
Neue Aufnahmen zeigen menschliche Hinterlassenschaften<br />
auf dem Roten Planeten<br />
Kultur<br />
84 Irony is over<br />
Die kanadische Band Arcade Fire ist wieder<br />
ganz ernst und erklärt auf dem neuen Album,<br />
wie wir uns vor uns selbst retten können<br />
88 Die Freiheit nehm ich mir!<br />
Unsere Musik-, Film- und Buch-<br />
Empfehlungen handeln von Widerstand<br />
Titel: Shutterstock (2), Daniel Berman/Redux/laif<br />
Fotos: Daniel Hofer, Patrick Slesiona beide für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Daniel Berman/Redux/laif,<br />
Michael Marcelle/SONY, Daniel Schoenen/Lookphotos, Soren Solkaer<br />
48 In der Immobilien-Falle<br />
Hohe Preise, teure Kredite, extreme<br />
Bau kosten – Immobilienkäufer müssen<br />
mit neuen Risiken kalkulieren. Und viele<br />
quält die Frage: Lohnt sich denn eine<br />
klima gerechte Sanierung überhaupt?<br />
57 Sparen mit dem richtigen Plan<br />
Energieberater Martin Brandis mahnt zur Eile<br />
beim Einreichen von Förderanträgen und verrät,<br />
wie man einen Sanierungsplan aufbaut<br />
Agenda<br />
24 Wie wir Pandemien verhindern<br />
Bill Gates zieht in seinem neuen Buch Lehren<br />
aus Corona und erklärt, was zu tun ist, um die<br />
nächste Katastrophe abzuwenden<br />
Politik<br />
30 Duell um Düsseldorf<br />
In Nordrhein-Westfalen kämpfen Wüst und<br />
Kutschaty um Stimmen. Wer gewinnt die<br />
wichtigste Landtagswahl des Jahres?<br />
35 Datenstrudel<br />
Lindner zollt Respekt, Lagarde schippert<br />
und Scholz kämpft mit der Leberwurst<br />
36 „Wir sind durch Blut gewatet“<br />
Der frühere SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel<br />
über die Lebenslügen seiner Partei im Umgang<br />
mit Putin, über Macht und Erinnerung<br />
40 Der Krieg um das Korn<br />
Große ukrainische Agrarunternehmer wagen<br />
bereits den Wiederaufbau. Ein Besuch<br />
45 Wird Taiwan die nächste Ukraine?<br />
Alexander Görlach kommentiert, wie Peking<br />
seine Macht rücksichtslos ausweitet<br />
46 Bild dir deine Macht!<br />
Kanzler Nehammer feilt in Österreich am eigenen<br />
Image. Mit dabei in seinem Team aus<br />
Spindoktoren: Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann<br />
Wissen<br />
70 Wenn Flügel malen<br />
Der dänische Fotograf Søren Solkær hält die<br />
Schönheit von Starenschwärmen am Himmel<br />
fest. Eine beeindruckende Bilderschau<br />
76 Amateur, Visionär, Großkotz<br />
Der deutsche Archäologe Heinrich<br />
Schliemann entdeckte und plünderte Troja.<br />
Eine Würdigung zum 200. Geburtstag<br />
Für das<br />
Klima<br />
Model Cara<br />
Delevingne<br />
arbeitet mit<br />
Puma an<br />
nachhaltiger<br />
Yoga-Mode<br />
Seite 58<br />
90 Der Deutschlandversteher<br />
Eric Gujer ist Chef der „Neuen Zürcher Zeitung“<br />
und alles andere als politisch neutral.<br />
Nun will er auch hierzulande erfolgreich sein<br />
Leben<br />
98 Wie Gott in Freiburg<br />
Der Reiseführer „Lonely Planet“ kürte<br />
Freiburg im Breisgau zum Cityziel <strong>2022</strong>.<br />
Verdient! Eine Genusstour in 48 Stunden<br />
104 Das ewige Auf und Ab<br />
Anton Palzer war einer der weltbesten<br />
Skibergsteiger und wechselte zum Profi-<br />
Radsport. Eine Grenzerfahrung<br />
106 Der Auswanderer<br />
<strong>FOCUS</strong>-Reporter Thilo Mischke schreibt<br />
über den Schweizer Jean-Michel, der in<br />
Thailand eine Luxushotelkette gründete<br />
108 Für die beste Mama der Welt<br />
Yotam Ottolenghi backt zum Muttertag<br />
Käsekuchen mit Joghurt und Honig<br />
109 500 Kilometer Ausfahrt<br />
Der Skoda Enyaq schafft es mit einer<br />
Batterieladung von Prag nach Wolfsburg<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
10 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
Wärmepumpe<br />
18 Menschen<br />
82 Echt irre<br />
Rubriken<br />
89 Salon<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
93 Bestseller<br />
93 Impressum<br />
110 Die Einflussreichen<br />
112 Leserbriefe<br />
113 Nachrufe<br />
113 Servicenummern<br />
114 Tagebuch<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong> 5
WIRTSCHAFT<br />
Grünes Zentrum<br />
In der Mitte des Ensembles<br />
pflanzten die Bauherren eine<br />
Streuobstwiese an<br />
In der<br />
Immobilien-Falle<br />
Hohe Preise, fehlende Baustoffe, teure<br />
Kredite – wer in die eigenen vier Wände will, muss<br />
mit neuen Risiken kalkulieren. Und da ist<br />
die große Frage: Lohnt sich eine klimagerechte<br />
Sanierung oder wäre ein Abriss günstiger?<br />
TEXT VON MATTHIAS KOWALSKI<br />
48<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong>
TITEL<br />
Naturmaterial aus Europa<br />
Mit dabei: viel Holz und Lehm.<br />
Hauspreis ab 664 000 Euro<br />
BAUEN FÜR DAS KLIMA<br />
Das Projekt Kokoni One in Berlin-Pankow<br />
soll neue Maßstäbe setzen: 84 Doppel- und<br />
Reihenhäuser im Effizienzhaus-Standard 55<br />
mit 95 bis 169 Quadratmetern Wohnfläche.<br />
Es war klimapositiv im Bau, fossilfrei<br />
und ist auch im Betrieb fast klimaneutral<br />
Foto: Ziegert Group<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong><br />
49
WISSEN<br />
BLINDBLIND<br />
Handeln im Kollektiv<br />
In einem Bruchteil<br />
von Sekunden können<br />
die Schwärme Formation<br />
und Richtung ändern.<br />
Einen Chef oder eine<br />
Chefin gibt es nicht<br />
Wenn Flügel malen<br />
70
BLINDBLIND<br />
Rätselhafte Gebilde von großer Schönheit: Ein dänischer Fotograf feiert den Zauber der Starenschwärme<br />
TEXT UND FOTOS VON SØREN SOLKÆR<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong> 71
KULTUR<br />
Bekanntlich ist die La -<br />
ge ernst. Pandemie,<br />
Krieg, Klimakatastrophe,<br />
Populismus, Ar -<br />
tensterben, Inflation,<br />
Reizüberflutung, Polschmelze,<br />
Faschismus,<br />
Hunger, Verschwendung, Angriff<br />
auf die Weltordnung, Demokratien in<br />
Gefahr. Wer soll da noch den Überblick<br />
behalten? Entweder kann man sich nicht<br />
entscheiden, welchem Problem man sich<br />
zuerst widmen soll, oder man versucht,<br />
das jeweilige Hauptärgernis so gut es<br />
geht zu verdrängen, bis sich dann schon<br />
wieder das nächste in den Vordergrund<br />
schiebt.<br />
Die Menschheit hat die perfekten<br />
Bedingungen für ihren eigenen Untergang<br />
geschaffen und informiert sich nun<br />
wie zum Dank rund um die Uhr über<br />
den beklagenswerten Stand der Dinge<br />
selbst. An Ruhe ist bei bestem Willen<br />
nicht zu denken. „Die Pillen helfen mir<br />
nicht mehr / Im Zeitalter der Angst“,<br />
erklären Arcade Fire gleich im ersten<br />
Titel des neuen Albums „WE“. Aber die<br />
Hoffnung stirbt zuletzt: „Ich muss mich<br />
von dem Geist befreien /<br />
Von der Angst, die in mir<br />
steckt.“ Guter Plan. Nur<br />
wie soll das gehen?<br />
Wer wir sind<br />
Seit ihrem ersten Album<br />
„Funeral“ von 2004 zeigt<br />
die kanadische Band eine<br />
Neigung zu schweren Themen<br />
aller Art. Von der Liebe<br />
unter den Bedingungen<br />
der Apokalypse auf ihrem<br />
Debüt über Amerika im<br />
Zangengriff von Kapitalismus<br />
und Religion („Neon<br />
Bible“), dem Grauen der<br />
Vorstädte („The Suburbs“)<br />
sowie der Entfremdung<br />
(„Reflektor“) hin zu Fake<br />
News, sozialen Medien<br />
und Promikultur auf „Everything<br />
Now“. Dabei wurde aus der<br />
Indieband von einst binnen kürzester<br />
Zeit eine der größten Rockbands ihrer<br />
Generation: mit Chart-Erfolgen, Musikpreisen<br />
und ausverkauften Stadien in<br />
aller Welt.<br />
Auf „WE“, die deutsche Übersetzung<br />
„Wir“ legt es nahe, geht es offenbar um<br />
uns, doch wer ist dieses „WE“ genau? Es<br />
sind die Menschen im Allgemeinen, aber<br />
Vom Strand … Um Entfremdung zu visualisieren, hat die Band seit dem „Reflektor“-Album Pappmaché-Köpfe dabei<br />
… zum Bad in der Menge Win Butler beim Auftritt im Londoner KOKO vergangene Woche<br />
auch die Band an sich wie im Besonderen,<br />
vor allem das Ehepaar Win Butler<br />
und Régine Chassagne, die kreativen<br />
Köpfe, die sich auf etlichen Liedern<br />
gegenseitig ihrer Liebe versichern, in<br />
guten wie in schlechten Zeiten. Es mag<br />
in dem Zusammenhang ein schöner<br />
Zufall sein, dass auch Madonnas zweite<br />
Regiearbeit den Titel „W. E.“ trug und<br />
von der „Romanze des Jahrhunderts“<br />
erzählte, nämlich von Eduard<br />
VIII., der <strong>19</strong>36 knapp<br />
ein Jahr lang der König<br />
von England war und dann<br />
abdankte, um Wallis Simpson<br />
zu heiraten, die Liebe<br />
seines Lebens.<br />
Tatsächlich spielte bei<br />
der Titelwahl vielmehr<br />
die Autobiografie „WE“<br />
von Charles Lindbergh aus<br />
dem Jahr <strong>19</strong>27 eine Rolle<br />
(deutscher Titel: „Wir zwei:<br />
Im Flugzeug über den<br />
Atlantik“), aus der Butlers<br />
Großmutter dem kleinen<br />
Win vor dem Schlafen -<br />
gehen gerne vorlas. Thema<br />
des Werks: Lindberghs<br />
Beziehung zu seinem<br />
Flugzeug, was sich verallgemeinert<br />
als Verhältnis von Mensch<br />
und Maschine auf dem Album als Motiv<br />
wiederfindet, wobei der Schwerpunkt<br />
allerdings auf dem Smartphone liegt.<br />
Was wir machen<br />
Das passt wiederum gut zu dem Science-<br />
Fiction-Roman „Wir“ des russischen<br />
Schriftstellers Jewgeni Samjatin aus<br />
den <strong>19</strong>20er Jahren, dem die traurige<br />
Fotos: Jf Lalonde, Getty Images<br />
86 <strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong>