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AUSGABE <strong>15</strong> 9. April <strong>2022</strong><br />
EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />
POLITIK<br />
Wie Xi Jinpings<br />
China jetzt<br />
nach der Weltmacht<br />
greift<br />
MEDIZIN<br />
Revolutionäre<br />
Früherkennung<br />
gibt Hoffnung<br />
bei Parkinson<br />
WIRTSCHAFT<br />
IM STURM<br />
Krieg, Gas-Stopp, Inf lation<br />
Wie retten wir unseren Wohlstand?<br />
6 Top-<br />
Ökonomen<br />
und ihre<br />
Prognosen
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E-PAPER LESEN:
Seite 4<br />
Seite 6<br />
EDITORIAL<br />
Über Schuld und Sühne<br />
Foto: Peter Rigaud für <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
in der deutschen Politik ist seit einigen<br />
Wochen viel von Schuld die Rede. Dass<br />
man Wladimir Putin falsch eingeschätzt<br />
habe, sich von ihm hat täuschen und belügen<br />
lassen, ist schon fast etwas wie politische<br />
Folklore geworden. An die Spitze der<br />
Bewegung hat sich diese Woche Bundespräsident<br />
Frank-Walter Steinmeier gesetzt,<br />
indem er das ewig lange Festhalten an<br />
Nord Stream 2 als persönlichen Fehler einräumte<br />
und damit Sühne leistete.<br />
Wie wir nicht erst seit dem gleichnamigen<br />
Epos des russischen Dichters<br />
Dostojewski wissen, gehören Schuld und<br />
Sühne zusammen. Das gilt umso mehr,<br />
wenn es um nichts Geringeres als um<br />
Kriegsschuld geht. Natürlich trägt für den<br />
brutalen Überfall auf die Ukraine und die<br />
damit einhergehenden Kriegsverbrechen<br />
allein Putin die Verantwortung. Und dennoch<br />
kann man in Berlin und Paris nicht<br />
der Frage ausweichen, ob man mehr für<br />
den Schutz der Ukraine hätte tun können,<br />
zum Beispiel durch eine Aufnahme des<br />
Landes in die Nato 2008. Hätte Russland<br />
wirklich ein Mitgliedsland der westlichen<br />
Allianz angegriffen?<br />
Steinmeier jedenfalls – und das ehrt<br />
ihn – stellt sich dieser und anderen Fragen<br />
im höchsten Staatsamt, während die<br />
damalige Bundeskanzlerin und damit<br />
politisch Hauptverantwortliche davor fest<br />
die Augen verschließt. Angela Merkel hat<br />
zusammen mit dem damaligen französischen<br />
Präsidenten Sarkozy der Ukraine<br />
die Nato-Tür vor der Nase zugeschlagen<br />
und findet das auch heute noch alternativlos<br />
richtig. Und auch die schleichende<br />
Abrüstung der Bundeswehr über all die<br />
Jahre mag den Kriegstreiber im Kreml<br />
ermutigt haben.<br />
Die Altkanzlerin weiß, dass in diesen<br />
Wochen ihr politisches Lebenswerk auf<br />
dem Spiel steht. Denn sie hat – mit tatkräftiger<br />
Unterstützung der SPD-Führung<br />
– Deutschland massiv von russischem<br />
Gas und Öl abhängig gemacht<br />
und dabei alle Warnungen in<br />
den Wind geschlagen – ob sie<br />
aus Washington, Warschau,<br />
Kiew oder aus der eigenen Partei<br />
kamen. Putin haben die Mil-<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
liarden-Einnahmen eine Hochrüstung<br />
mit Waffen ermöglicht, über die zum Teil<br />
(Hyperschallraketen) nicht einmal die<br />
USA verfügen. Dafür sühnt seit Wochen<br />
das ukrainische Volk leibhaftig, wie nicht<br />
nur die schrecklichen Bilder aus Butscha<br />
belegen.<br />
Doch die deutsche Politik steht nicht nur<br />
vor den Trümmern ihrer Russland politik,<br />
sondern auch vor denen ihrer Energiepolitik.<br />
Schon die verkorkste Energiewendepolitik<br />
seit der Jahrtausendwende<br />
hat dem Land – im Namen des Klimaschutzes<br />
– Energie-Höchstpreise beschert<br />
und die Versorgungssicherheit in Gefahr<br />
gebracht. Hunderte Milliarden, manche<br />
sagen: eine Billion Euro, hat diese Politik<br />
gekostet, die aber nicht dazu geführt hat,<br />
dass Deutschland seine Klimaziele einhalten<br />
konnte.<br />
Zur Erinnerung: Dieses Höchstpreisniveau<br />
in der Energieversorgung des<br />
Landes wurde erreicht, obwohl riesige<br />
Mengen preiswerten Russengases zur<br />
Verfügung standen. Dieses Gas muss<br />
jetzt dauerhaft durch deutlich teureres<br />
Flüssiggas aus den USA und Katar<br />
ersetzt werden – ein weiterer<br />
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Günter Bannas über<br />
den Kürschner<br />
DER HAUPTSTADTBRIEF<br />
EXKLUSIV<br />
FÜR<br />
<strong>FOCUS</strong><br />
ABONNENTEN<br />
In Putins<br />
Schatten<br />
Henning Hoff über verbleibende<br />
und ungenutzte Handlungsspielräume<br />
der Bundesregierung<br />
Seite 2<br />
9. April <strong>2022</strong> | #22<br />
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />
Preisschock, der Wettbewerbsfähigkeit,<br />
Jobs und damit Wohlstand kosten wird.<br />
Denn dieses Gas ist knapp und weltweit<br />
begehrt. Und Deutschland hat es bislang<br />
nicht für nötig erachtet, auch nur ein Terminal<br />
für Flüssiggas-Importe zu bauen,<br />
während zum Beispiel Italien bereits über<br />
zwei verfügt. Die Sorglosigkeit der deutschen<br />
Energiepolitik der Vergangenheit<br />
ist zum Verzweifeln.<br />
Ebenso unverständlich wie beunruhigend<br />
ist das Festhalten der Ampelregierung<br />
an vor allem ideologisch begründeten<br />
Zielen. Wie kann man sicher laufende<br />
Atomkraftwerke abschalten wollen in<br />
einer Situation, in der uns ein Gaslieferstopp<br />
Putins angeblich in Rezession und<br />
Massenarbeitslosigkeit stürzen würde<br />
und in der Wirtschaftsminister Robert<br />
Habeck um jeden Kubikmeter Fracking-<br />
Gas in den USA und anderswo betteln<br />
muss – also Gas, das wir auch in Deutschland<br />
fördern könnten, uns das aber seit<br />
Jahren selbst verboten haben?<br />
Mein Verdacht ist: Grünen und Sozialdemokraten<br />
ist der Verzicht auf Kernkraft<br />
(immerhin eine CO2-freie Stromquelle)<br />
wichtiger als der auf Putins Gas.<br />
OSKARVERLEIHUNG<br />
Albrecht von Lucke<br />
über den drohenden<br />
Untergang der Linkspartei<br />
Jedenfalls wurde hierzulande<br />
schon immer viel gegen Atomkraft<br />
und Atomwaffen (der USA!)<br />
und wenig gegen Putins Kriege<br />
demonstriert. Und meine Sorge ist:<br />
Wenn wir jetzt nicht alles, wirklich<br />
alles an heimischer Energie mobilisieren,<br />
um das Gas aus Russland<br />
schneller zu ersetzen, als dies mit<br />
dem Ausbau erneuerbarer Energien<br />
möglich wäre, dann nähern<br />
wir uns einer ökonomischen und moralischen<br />
Katastrophe. Niemand will doch<br />
irgendwann erklären müssen, dass der<br />
Atomausstieg wichtiger war als der Kampf<br />
gegen Putins Größenwahn.<br />
Schuld und Sühne sind auch in Zukunft<br />
ein untrennbares Paar. Leider lehrt die<br />
Geschichte, dass häufig die einen für eine<br />
Schuld sühnen, die andere verantworten.<br />
Herzlich Ihr<br />
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<strong>FOCUS</strong> <strong>15</strong>/<strong>2022</strong> 3
Master of Puppets<br />
Der chinesische<br />
Staatschef Xi Jinping<br />
will der mächtigste<br />
Mann der Welt<br />
werden. Auch deshalb<br />
legte er rechtzeitig<br />
Getreidevorräte an<br />
Seite 38<br />
The End<br />
Ein Gasembargo<br />
könnte Deutschland<br />
als Chemiestandort<br />
nachhaltig schaden.<br />
Das Dilemma offenbart<br />
sich bei BASF<br />
in Ludwigshafen<br />
Seite 50<br />
The Sound of<br />
Silence<br />
Sängerin Joy Denalane<br />
sucht die Stille<br />
in Meditation und<br />
Achtsamkeit<br />
Seite 96<br />
Lucy in the Sky<br />
with Diamonds<br />
Wie die Partydrogen<br />
Psilocybin und<br />
LSD bei Depressionen<br />
helfen können<br />
Seite 60<br />
We Are the<br />
Champions<br />
Oliver Bierhoff<br />
will mit der<br />
Nationalelf zurück<br />
an die Weltspitze<br />
Seite 100<br />
All You Need Is Love Wet Leg setzen auf Hippie-Attitüde Seite 84<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>15</strong>/<strong>2022</strong>
Titelthema<br />
INHALT NR. <strong>15</strong> | 9. APRIL <strong>2022</strong><br />
66 Blick auf das Böse<br />
Die forensische Psychiaterin Heidi Kastner<br />
erläutert die Entfesselung des Bösen<br />
und Wladimir Putins Nichtmoral<br />
Dieser Text<br />
zeigt evtl. Probleme<br />
beim<br />
Text an<br />
70 Spuren im Gehirn<br />
Eine neue Art der Früherkennung lässt<br />
auf bessere Parkinson-Therapien hoffen<br />
73 Seltsamer Saurier<br />
Warum nur hatte der legendäre<br />
Tyrannosaurus rex so kleine Ärmchen?<br />
Titel: ddp images, Michael Braunschädel/VISUM, dpa (2),<br />
Shutterstock; Composing <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
22 Alarmstufe drei<br />
Inflation, Embargo, Umbau: Über der<br />
deutschen Wirtschaft braut sich ein Sturm<br />
zusammen. Im Zentrum: Robert Habeck.<br />
Wie steht es um unseren Wohlstand?<br />
32 Keine Angst vor neuen Schulden<br />
Der Wirtschaftsweise Achim Truger erklärt<br />
die Fallstricke staatlicher Verbindlichkeiten<br />
50 Wenn die Chemie nicht stimmt<br />
Kaum ein Unternehmen träfe das Gasembargo<br />
so hart wie BASF. Ein Werksbesuch<br />
Politik<br />
34 Ab zwei Millionen wird es kritisch<br />
Der Ex-Chef des BAMF erzählt, wie Integration<br />
von Geflüchteten gelingen kann<br />
37 Datenstrudel<br />
Russland twittert, Diess dominiert LinkedIn,<br />
Scholz und Giffey im Ankunftszentrum<br />
38 Xis langer Marsch<br />
Der chinesische Staatsführer und sein<br />
riskanter Pakt mit Russland<br />
Kultur<br />
76 Gezaubert, Ehrlich<br />
Wie sich die Ehrlich Brothers in den Olymp<br />
der Illusionskunst katapultiert haben<br />
82 Erste Schritte und letzte Worte<br />
Die Filme, Bücher, Alben der Woche<br />
handeln vom Mut zur Versöhnung<br />
84 Nasse Füße in der Erfolgsspur<br />
Die Indierock-Band Wet Leg startet eine<br />
Weltkarriere – gegen alle Wahrscheinlichkeit<br />
Leben<br />
96 Im Hier und Jetzt<br />
Die Welt um uns herum ist derzeit ziemlich<br />
laut. Die Berliner Sängerin Joy Denalane<br />
sucht Stille in der Meditation<br />
100 Der Spielmacher<br />
Oliver Bierhoff, Manager der Nationalelf,<br />
über die WM in Katar, Hansi Flicks Führungs -<br />
stil und die Sehnsucht nach Fanliebe<br />
103 Süßkram aus Fernost<br />
Ottolenghi backt japanische Pfannkuchen<br />
FÜR<br />
DEINE<br />
MUSKELN.<br />
UND GANZ<br />
NEUE<br />
ZIELE.<br />
Fotos: Marc Krause für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Li Xueren, Bernhard Kunz/beide dpa, Anatol Kotte,<br />
Alana Paterson/NYT/Redux/laif, Hollie Fernando<br />
42 Putins Freund in Europa<br />
Viktor Orban gewann in Ungarn nun die<br />
vierte Wahl in Folge. Wie macht er das?<br />
44 Die Verteidiger von Charkiw<br />
Die Stadt in der Ostukraine war einst prorussisch<br />
eingestellt. Das hat sich geändert<br />
Wirtschaft<br />
56 Etwas dick aufgetragen<br />
Der Stiftehersteller Edding will sich mit<br />
Tattoofarben und Nagellack breiter aufstellen<br />
59 Geldmarkt<br />
Wissen<br />
104 Form, Farbe, Funktion<br />
Guter Geschmack ist beim Kochen unverzichtbar.<br />
13 Ideen für Küche und Herd<br />
106 Gegenwind hebt die Stimmung<br />
Warum Radfahren glücklich macht<br />
108 Der Cupra-Coup<br />
Zum vierten Markenjubiläum beschert uns<br />
die Seat-Tochter einen knalligen Formentor<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
10 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
Great Barrier Reef<br />
18 Menschen<br />
72 Echt irre<br />
Rubriken<br />
83 Mein Salon<br />
95 Bestseller<br />
95 Impressum<br />
110 Die Einflussreichen<br />
112 Leserbriefe<br />
113 Nachrufe<br />
113 Servicenummern<br />
114 Tagebuch<br />
DAS ORIGINAL IN DER APOTHEKE<br />
Hochdosiert Schnell Rubriken Vegan<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von Jan<br />
Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
Diasporal ® .<br />
90 Salon<br />
95 Buch & Welt<br />
96 Kultur-Macher<br />
102 Bestseller<br />
60 Revolution im Kopf<br />
Für 8 Fotos dein der Leben Woche in 124 Bewegung.<br />
Die Einflussreichen<br />
Das Silicon Valley, die Wellness- und Pharmaindustrie<br />
haben Drogen wie LSD und<br />
Magnesium-Diasporal® 18 Menschen 400 EXTRA 129 Impressum<br />
direkt, Direkt-<br />
16 Grafik der Woche 128 Nachrufe/ Namen<br />
Psilocybin als Markt der Zukunft entdeckt<br />
granulat. 48 Leserbriefe Nahrungsergänzungsmittel 130 Tagebuch bei erhöhtem<br />
Magnesiumbedarf. Mit Süßungsmittel (Sorbit), ohne<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
Zucker. Titelthemen Magnesium sind rot trägt markiert zu einer normalen Muskelfunktion<br />
und zu einer normalen Funktion des Nerven-<br />
5<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>15</strong>/<strong>2022</strong><br />
systems bei. Protina Pharm GmbH, D-85737 Ismaning
POLITIK<br />
Der Preis unseres<br />
Wohlstands<br />
Inflation, Embargo, Umbau: Die zentralen<br />
Zukunftsfragen fallen in den Verantwortungsbereich<br />
von Wirtschaftsminister Robert Habeck.<br />
Seine Politik entscheidet über unsere<br />
Wirtschaft von morgen - zwischen grünem<br />
Umbau und den politischen Zwängen dieser Zeit<br />
TEXT VON MARC ETZOLD, ANDREAS GROSSE HALBUER,<br />
JAN PHILIPP HEIN, CARLA NEUHAUS, FRANZISKA REICH,<br />
THOMAS TUMA<br />
Lesen Sie auch zu diesem Thema<br />
Das prophezeien<br />
die Ökonomen<br />
Wie tief stürzt die Wirtschaft<br />
ab, wenn das<br />
Gas nicht mehr strömt<br />
Seite 28<br />
Das sagt der Experte<br />
für Staatsfinanzen<br />
Wie sehr könnten die<br />
öffentlichen Haushalte<br />
in Schieflage geraten<br />
Seite 32<br />
Das berichten<br />
Manager aus der Praxis<br />
Wie hart ein Embargo<br />
den Chemiegiganten<br />
BASF treffen würde<br />
Seite 50<br />
22
TITEL<br />
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa<br />
Ort der Alternative<br />
Kann die Bundesregierung<br />
russisches<br />
Gas durch einen<br />
Deal mit Katar ersetzen?<br />
Moralisch<br />
auch nicht leicht<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>15</strong>/<strong>2022</strong><br />
23
WISSEN<br />
Foto: mauritius images/Science Faction<br />
Revolution im Kopf<br />
Jahrelang galten Substanzen wie LSD, Ketamin<br />
oder Psilocybin als bloße Partydrogen.<br />
Doch inzwischen hat die Forschung diese<br />
wirkmächtigen Stoffe wiederentdeckt. Sie<br />
können sogar Depressionen und Angststörungen<br />
lösen. Unser Autor hat es ausprobiert<br />
TEXT VON THILO MISCHKE<br />
60
FORSCHUNG<br />
Zur Einnahme Der verrückte<br />
Hutmacher aus „Alice im<br />
Wunderland“ lächelt hier von<br />
einem sogenannten Blotter.<br />
Dabei handelt es sich um Löschpapier,<br />
auf das ein paar Tropfen<br />
Lysergsäurediethylamid, kurz<br />
LSD, gegeben wurden<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>15</strong>/<strong>2022</strong><br />
61
PSYCHOLOGIE<br />
Fotos: Marcus Deak, Alexei Nikolsky/beide dpa<br />
„Moral sucht man bei Putin vergeblich“<br />
Die forensische Psychiaterin Heidi Kastner erklärt, warum der Krieg die Grausamkeit von<br />
Menschen befördert und warum sie Wladimir Putin keineswegs für krank hält<br />
D<br />
ie österreichische Psychiaterin<br />
Adelheid „Heidi“<br />
Kastner verfasst Gutachten<br />
über Menschen, die<br />
grausame Gewaltexzesse<br />
verüben. In ihren Büchern<br />
(„Wut“, „Dummheit“) beschreibt<br />
sie, wie aus Vätern und Müttern<br />
Amokläufer und Serientäter werden. Zu<br />
ihren bekanntesten Fällen zählt<br />
Josef Fritzl, der seine Tochter fast<br />
ein Vierteljahrhundert in einem<br />
Keller gefangen hielt und bei<br />
seinen Vergewaltigungen mit ihr<br />
sieben Kinder zeugte. Kastner<br />
arbeitet an der Uniklinik Linz.<br />
Auf einem Parkplatz der Autobahn<br />
nach Wien erreichen wir<br />
die 59-Jährige am Handy, um mit<br />
ihr über das Grauen des Krieges<br />
zu sprechen.<br />
Frau Kastner, wir haben in der<br />
vergangenen Woche verstörende,<br />
schreckliche Bilder aus Butscha<br />
gesehen. Wer macht so etwas?<br />
Aus psychiatrischer Sicht werden die<br />
meisten Gräueltaten fast immer von völlig<br />
unauffälligen, psychisch gesunden Menschen<br />
begangen. Das war in Deutschland<br />
im Nationalsozialismus so oder<br />
beim Völkermord in Ruanda oder auch<br />
bei den Massakern in Serbien. Die Täter<br />
und Mittäter waren ja nicht alle krank<br />
oder gestört. Es handelte sich um normale<br />
Leute mit Familien, die vorher nicht auffällig<br />
gewesen sind. Da steht man da und<br />
denkt: Wie geht das? Aber es geht.<br />
Was macht die Menschen zu<br />
Verbrechern, im Fall der Ukraine<br />
zu Kriegsverbrechern?<br />
Voraussetzung dafür ist, dass es keine<br />
Ordnungsstruktur gibt, die das Verhalten<br />
sanktioniert. Soldaten können aufgrund<br />
solcher Rahmenbedingungen annehmen,<br />
dass sie ihren ganzen Frust und ihre Wut<br />
ausleben können, ohne dafür bestraft<br />
zu werden. Bei den russischen Truppen<br />
kommt den Gerüchten zufolge hinzu, dass<br />
sie schlecht versorgt und ausgerüstet sind<br />
INTERVIEW VON SONJA FRÖHLICH<br />
und regelrecht malträtiert werden. Wenn<br />
sich ihnen dann die Möglichkeit bietet,<br />
ihre Wut auszutoben, tun sie es.<br />
Ab wann empfinden Angreifer<br />
keine Empathie mehr, nicht mal<br />
gegenüber Zivilisten?<br />
Empathie ist abschaltbar, sobald stärkere<br />
Emotionen sie überlagern. Soldaten<br />
werden in der Regel mit einer demoralisierenden<br />
Propaganda in den Krieg<br />
geschickt, die ihnen eintrichtert,<br />
dass sie gegen Untermenschen<br />
vorgehen oder wie im Fall der<br />
Ukraine gegen vermeintliche<br />
Nazis. Dann wird Empathie<br />
eine schöne Erinnerung, die im<br />
besten Fall wieder angeschaltet<br />
wird, wenn man zurückkommt.<br />
Dann braucht das Böse im Menschen<br />
also nur äußere Umstände,<br />
damit es in Erscheinung tritt?<br />
Es wäre ziemlich naiv zu glauben, dass<br />
der Mensch nur gut ist. Jeder Mensch hat<br />
„böse“ Anteile. Worum es aber geht, ist<br />
die moralische Haltung, und die ist nicht<br />
genetisch eingeschrieben, sondern ein<br />
Produkt der Sozialisation. Das menschliche<br />
Spektrum steckt voller Möglichkeiten,<br />
und man soll sich nie einreden,<br />
dass es durch die Evolution begrenzt<br />
wurde. Es wurde eingeschränkt, indem<br />
wir soziale Strukturen und Ordnungssysteme<br />
etabliert haben, etwa durch Polizei<br />
Frühmanipulation<br />
Wladimir Putin und<br />
Kirgisiens damaliger<br />
Präsident Sooronbai<br />
Dscheenbekow besuchten<br />
2019 Russlands<br />
Jugendarmee.<br />
Lernziel: Patriotismus<br />
oder Gerichtsbarkeit – sie grenzen das<br />
menschliche Verhalten auf das positivere<br />
oder angenehmere Spektrum ein.<br />
Soll das heißen, gäbe es die Strukturen<br />
nicht, würden wir alle eher mal zum<br />
Messer greifen, wenn wir wütend sind?<br />
Nein, nicht alle. Aber der Anteil derer,<br />
die bereit wären, das Recht des Stärkeren<br />
durchzusetzen, ist weit höher, als wir<br />
glauben wollen.<br />
Was macht Sie da sicher?<br />
Es gibt Untersuchungen dazu.<br />
Ein Beispiel sind die Rollkommandos<br />
im NS-Staat, die zur Terrorisierung<br />
und Ermordung von<br />
Menschen eingesetzt wurden.<br />
Wie später festgestellt wurde,<br />
gab es Rekruten, die sich etwa<br />
Aufforderungen widersetzt haben,<br />
auf Frauen und Kinder zu<br />
schießen. Das war tatsächlich<br />
sanktionsfrei möglich. Trotzdem<br />
hat sich dem ein nur geringer Prozentsatz<br />
widersetzt. Die weitaus<br />
größere Gruppe war mit Hurra<br />
dabei oder hielt es für ihre Pflicht<br />
zu schießen, wiederum andere<br />
wollten nicht als Feigling dastehen.<br />
Der Grad der Zustimmung<br />
zu solchen Taten ist unterschiedlich<br />
groß. Es gibt immer Überzeugungstäter<br />
und Mitläufer und<br />
gerade in Kriegsszenarien eine<br />
Gruppendynamik, die nicht zu<br />
unterschätzen ist.<br />
Was entscheidet darüber, zu welcher<br />
Sorte Mensch ich gehöre?<br />
Auch dafür gibt es eine spannende<br />
Untersuchung von Henry Dicks. Ein britischer<br />
Psychiater, der dazu abgestellt wurde,<br />
im Zweiten Weltkrieg deutsche Kriegsgefangene<br />
zu betreuen. Da wusste man<br />
bereits von den sechs Millionen ermordeten<br />
Juden. Dicks hat unter den Gefangenen<br />
den Grad der Zustimmung über die<br />
Handlung zum Vorgehen der Nationalsozialisten<br />
abgefragt. Was er herausfand,<br />
war eine richtig schöne Gauß’sche Verteilungskurve:<br />
Sieben Prozent waren nach<br />
wie vor begeisterte Kriegsanhänger<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>15</strong>/<strong>2022</strong> 67