flip-Joker_2022-04
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
4 KULTUR JOKER Theater
Geburtsstunde für etwas Neues
Julia Klockow feierte mit ihrer zweiten abendfüllenden Produktion „Tuningtime“ Premiere im Südufer
Julia Klockow in „Tuningtime“ Foto: Roman Pawlowski
Güterbahnlinie, Hauptbahnhof,
E-Werk, Dreisam
– dazwischen liegt der
Stühlinger. Ein kunterbunter
Generationen-und Kulturen-
Mix, dazu Gastro, Kultur
und Handwerk in bester Innenstadtnähe
– das bedeutet
Gentrifizierung-Alarm für den
im 19. Jahrhundert gewachsenen
Freiburger Stadtteil,
dessen Bevölkerungsdichte
weit über dem Freiburger
Durchschnitt liegt. „Stücke
von Zuhause“, so der Titel der
Live-Videoinstallation, die
Eindrücke von ganz unterschiedlichen
Menschen, Wohnungen
und deren Geschichten
nicht nur einfängt, sondern
die Projektteilnehmer*innen
auch bei der Erarbeitung von
Performances und Videos begleitete.
(Produktion: Leon
Wierer in Kooperation mit
dem E-Werk, künstlerische
Unterstützung: Lena Schillebeeckx,
Carla Wierer, Hannah
Kindler, Teresa Grebchenko,
Margit Wierer. Technische
Betreuung: Moritz Bross Konzept.
Gefördert durch das Programm
„Kultur trotz Abstand“
vom Ministerium für Wissenschaft,
Forschung und Kunst
Baden-Württemberg und von
der Stadt Freiburg.).
Es sind ein Dutzend mit
wackliger Hanndkamera gefilmter
Besuche in sehr in-
Erstmal gibt es pralles Augenfutter:
Auf der Leinwand
im Freiburger Südufer liegt auf
kariertem Tischtuch ein sattgelbes
Bündel dicker Bananen
in Großaufnahme, zärtlich betastet
von zwei Händen. Die
krallen sich plötzlich mit allen
zehn Fingern durch die Schale,
wühlen im schmatzend-weichen
Fleisch. Dann ein Schnitt und
die Sequenz beginnt nochmal
von vorne. „Tuningtime“, so der
Titel der zweiten, abendfüllenden
Produktion von Julia Klockow;
im letzten Sommer zeigte die
1983 in Berlin geborene Tänzerin
und Choreografin „Vague“ in der
Lokhalle. Dieses Mal steht sie
mit ihrem knapp einstündigen
Solo selbst auf der Bühne – Film
ist dabei ein wichtiger Anknüpfungspunkt
(Förderung: LBBW-
Bank, Kooperation: E-Werk)
Bewegungsstudien, Körperzustände,
Konfrontation – das
alles packt Klockow in ihre konzentrierte
Performance, die so
mutig wie konsequent dem Publikum
einiges abverlangt. Denn
Musik gibt es nicht, der dezente
Beat aus dem Off entpuppt sich
als Zufall aus dem Nachbarhaus
und ist bald wieder verschwunden.
Komplette Stille also – dafür
leuchten Beine durch die samtige
Dunkelheit, eine Frau von hinten,
ihr fließendes Shirt endet knapp
über dem Po. Klockow ist untenrum
– und dann, nach minutenlangem
Abstreifen des Stoffes,
völlig nackt unter dem Fell ihrer
schulterlangen, ins Gesicht gezogenen
Haare. Das hat schon
seine Wirkung: Der Körper wird
schutzlos, aber auch Forschungsobjekt
und bewegte Skulptur. Es
bleibt abstrakt: In Be- und Entschleunigung
geht sie durch den
Raum, vorwärts, rückwärts, in
einer langen Sequenz dreht sie
sich um die Ecke. Dann wieder
gibt es Dynamik mit fliegenden
Haaren, großen Gesten, Wellen-
Armen, Atemstöße. – Getanzte
Stop-Motion, die Sog entwickelt,
in ihren Dekonstruktions-Loops
aber auch Mut zur Länge hat.
Der Tanz, der den eigenen Körper
erforscht und „unter Einbezug
von Geschlechterrollen und
Herkunft, inwieweit wir unsere
Sozialisierung hinter uns lassen
können“, so der Flyer-Text.
Grübelfutter nicht nur für Diskus-Laien
also. Sehr ästhetisch
ist dann der zweite Teil, der an
Aktfotografie der 20er Jahre und
entschleunigte Yoga-Übungen
erinnert und den Körper zum
Kunstobjekt macht: Ein filigranes,
kraftvolles Muskelspiel
mit viel Präzision und Beherrschung,
die Haut als Hülle, die
Bewegungsereignisse sichtbar
werden lässt. Dann eine Störung,
Zuckung und Klockow wirft sich
auf den Boden, wippt nach, wirft
sich wieder und wieder hin. Am
Ende ist ihr Gesicht das erste Mal
an diesem Abend ohne Haarvorhang,
klar blickt sie minutenlang
ins Publikum. Da ist einem dieser
Körper schon vertraut. Auf
der Leinwand cremen sich die
Finger mit Bananenmatsch ein,
stecken dann eine kleine Pflanze
in die süß gefüllte Hülle und
schließen die geplatzte Naht. Geburtsstunde
für etwas Neues…
Marion Klötzer
Menschen und deren Geschichten
Nach zwei Jahren Pandemie will das Cargo Theater mit der Produktion „Stücke von Zuhause“ Kindern und
timer Atmosphäre, mal wird erzählt
und gezeigt, mal getanzt,
gedichtet oder Musik gemacht.
Jede Szene ist anders, ist eine
Mini-Episode mit eigenem inhaltlichen
und künstlerischen
Schwerpunkt, jede trägt einen
Titel. Es beginnt mit „Am laufenden
Band“ auf einem Familien-Küchentisch:
Kaffeetasse,
Salzstreuer, Laptop, Schulbücher,
Feierabendbier, Brettspiel
und vieles mehr ziehen hier im
Laufe eines Tages auf einem
Jugendlichen eine Stimme geben
schwarzen Tischläufer vorbei,
während der Familienvater aus
dem Off kommentiert. Natürlich
dürfen da auch die Feuerwehr-
Sirenen nicht fehlen... Mit dem
Tanz-Solo „Wand schafft Raum“
geht es weiter, wenig später
sind wir zu Gast in der„Kunstim-Kasten“-Werkstatt,
einem
Wohnzimmer-Museum oder
einem Innenhof, bekommen
Holzöfen, Lichtschacht-Farn
oder alte Fensterläden präsentiert.
Traurig und berührend,
weil bald schon Vergangenheit,
sind die Gartengeschichten aus
dem Metzgergrün, verrätselt
die kleinen Theaterszenen auf
dem Sofa oder der kunterbunten
Wolle-Insel. Dazwischen
gibt es Balkan-Straßenmusik
mit Akkordeon und Geige. Das
ist liebevoll und ambitioniert
gemacht, aber mit hundert Minuten
eindeutig zu lang geraten.
Um wirklich einen Spannungsbogen
zu entwickeln, wäre ein
klareres Konzept hilfreich. Im
„Stücke von
Zuhause“
Foto: Cargo Theater
Herbst geht das Projekt dann
in die zweite Runde, auch dafür
werden dann Stühlinger-
Akteur*innen gesucht.
„Stücke von Zuhause: Stühlinger“
online unter: www.cargotheater.de/aktuelle-projekte.php
Für die zweite Runde „Stücke
von Zuhause“ Ende dieses Jahres
können sich ab sofort Kinder
und Jugendliche ab 12 Jahren
melden. Anmeldung unter Tel.
49 761 807136 oder info@cargotheater.de
Marion Klötzer