flip-Joker_2022-04
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THEATER KULTUR JOKER 3
Anja Schweitzer und Gioia
Osthoff in „Am Ende Licht“
Foto: Britt Schilling
Christine (Anja Schweitzer)
steht in rosa Jogginghosen
und einem blauen Wollmantel
zwischen Wänden, die nach
falschem Marmor aussehen.
Was man sich halt so überwirft,
wenn man im nächsten
Supermarkt eine Flasche Wodka
kaufen will. Der Wollmantel
ist ein Geschenk ihres Mannes
und gibt ein bisschen Haltung.
Die letzten Monate hätte man
sie als trocken bezeichnen können,
doch dann hatte der Mann
eine Affäre und jedes der Kinder
sein ganz eigenes Problem.
Dass Christine jetzt zwischen
den Gängen von niemandem
bemerkt wird, ist zumindest
eigenartig. Tatsächlich jedoch
ist sie tot, an einer Hirnblutung
gestorben, gerade als sie
die Flasche Alkohol aus dem
Regal greifen wollte. Christine
wechselt von der ersten in die
dritte Person. Ab jetzt spricht
sie nicht mehr, es wird über sie
gesprochen.
Das englische Drama kennt
sich aus mit Geistern. Mehr
noch, der Autor Simon Stephens
kennt sich mit dem Ort aus, an
dem „Am Ende Licht“ spielt.
Er wurde 1971 in Stockport,
Greater Manchester, geboren.
Es war eine der ersten Städte,
die mit der Textilindustrie für
Im Moment des Todes
Peter Carp inszeniert am Theater Freiburg das englische
Englands Wohlstand sorgten,
Friedrich Engels besuchte den
Ort Mitte des 19. Jahrhunderts
und gab ihm ein eher schlechtes
Zeugnis. Nach der deutschen
Erstaufführung am Schauspiel
Stuttgart im letzten November
hat das Drama nun auch Peter
Carp am Theater Freiburg
inszeniert. Man kann es nachvollziehen,
es ist ein Ensemblestück,
und der Tod nun einmal
der kleinste gemeinsame Nenner
zwischen uns allen. Doch
dieser Rührfaktor, gepaart mit
wirklich viel Elend, kann einem
Sozialdrama „Am Ende Licht“
im Laufe der zweieinhalb Stunden
etwas sauer aufstoßen.
Dass Christine von nun ab
schweigt, ist ein leeres Versprechen.
Sie will noch einmal
nach dem Rechten sehen – dass
Alkohol die Empathiefähigkeit
mindert, geschenkt. Sie
besucht ihre Kinder und ihren
Gatten, der während sie stirbt,
einen Dreier mit seiner Geliebten
(Angelika Falkenhan) und
deren Freundin Emma (Laura
Angelina Palacios) hat. Bernard
(der mit dem Mantel) ist verkörpert
von Michael Witte, unter
allen erbärmlichen Würstchen
das erbärmlichste. Ewig hungrig,
im schlecht sitzenden Anzug
und gelber Krawatte hält er
aus lauter Nervosität die Frauen
aus und gibt ihnen sogar Geld.
Stephens‘ Stück ist englisches
Sozialdrama pur, das kaum etwas
auslässt, doch obwohl „Am
Ende Licht“ in der durchaus
prekären Mittelklasse spielt,
ist manches „absolut zauberhaft“
und ein alternder Mann
ein „Frechdachs“. Da fragt
man sich schon, ob Stephens
in Stockport wirklich so genau
zugehört hat oder ob es an der
Übersetzung liegt.
Kaspar Zwimpfers Bühnenbild
schafft durch die eingezogenen
Wände im Kleinen Haus
die Illusion von Simultaneität.
Christine taucht bei jedem Familienmitglied
in Schlüsselszenen
auf, etwa bei ihrem Sohn
Steven (Raban Bieling), der mit
einem Nervenzusammenbruch
um die Gunst seines Liebhabers
(als Upperclass-Schnösel:
Thieß Brammer) buhlt. Einzig
bei ihrer jüngsten Tochter zeigt
sie sich als sie selbst. Vielleicht
ist das Päckchen von Ashe
(Gioia Osthoff) auch einfach
zu groß: die alleinerziehende
Mutter ist mit dem Kind überfordert,
der Vater (Tim Al-Windawe),
ein Junkie, nicht einmal
bereit, 20 Pfund in der Woche
zu zahlen, seine Mutter jedoch
würde der jungen Mutter das
Kind gerne abkaufen. Das soziale
und emotionale Elend
kannibalisiert sich, das einzelne
Schicksal bleibt flach und ist
Teil eines größeren Dramas: der
Familie.
Weitere Vorstellung: 3. April,
Kleines Haus, Theater Freiburg.
Annette Hoffmann
Eine flügelzarte Freundschaftsgeschichte
„Der Papierflieger“ gespielt von dem Figurentheater Vagabündel
Eine Geschichte für Kinder
über Einsamkeit im Alter – das
ist alles andere als Mainstream.
Doch Luise aus dem 2015 erschienenen,
mit dem Leipziger
Lesekompass prämierten Bilderbuch
„Der Besuch“ ist keine
fidele Oma, sondern so traurig
und allein, dass sie nicht mehr
aus dem Haus kann: Sie hat
Angst, vor Spinnen, vor Menschen
und Bäumen… Bis der
Wind einen Papierflieger durch
ihr offenes Fenster wirbelt – und
wenig später seinen Besitzer
Max, der Pipi muss und Hunger
hat.
Die vielfach ausgezeichnete
Autorin und Illustratorin Antje
Damm setzt das in ihrem zum
Markenzeichen gewordenen
Stil wortwörtlich in Szene: Aus
bemalter Pappe baut sie dreidimensionale
Kulissen, die sie
raffiniert ausleuchtet und abfotografiert.
– Eine Steilvorlage
für das Freiburger Figurentheater
Vagabündel, hat Ute Wange
doch schon in ihren letzten Produktionen
Papier immer wieder
so bezaubernd wie facettenreich
bespielt. Drei Anläufe brauchte
es, jetzt feierte die Bilderbuch-
Adaption „Der Papierflieger“
endlich Premiere vor jungem
Publikum im Vorderhaus (Regie:
Vanessa Valk).
Die Bühne (Ute Wange, Stefan
Christ) zeigt eine graue Werkstatt
mit kleinem Sprossenfenster:
Große Kartons stapeln
sich zu Türmen, dazwischen
ein Stehpult mit Stempeln und
Telefon. „Frau Schöne, Endkontrolle“,
stellt sich die Frau (Ute
Wange) im Arbeitskittel vor.
Ihr Kollege Herr Max (Stefan
Christ) bringt nun Paket nach
Paket herein, jedes wird geprüft,
gestempelt oder auch mal wegen
Gefahrengut oder Artenschutz
geöffnet. Spannende Grüße aus
der weiten Welt! Dann gibt’s
da noch eines ohne Nummer:
Ratsch macht der Cutter, der
Karton klappt auf und zeigt eine
Miniaturwelt: Bibliothek, Lampe,
Sessel – dazwischen eingeklemmt
kauert Luise als Stabfigur.
Ein magischer Moment
– auch weil nun die Geschichte
endlich losgeht. Als Einstieg ist
die Werkstatt-Rahmenhandlung
im Vergleich zum Hauptteil
nämlich ziemlich lang geraten.
Die Kinder im Publikum sind
trotzdem ganz dabei. Licht an,
Licht aus, Licht an, dazu monotones
Ticketacke – so erzählen
die beiden Spieler eindrücklich
von Luises Alltagseinerlei. Zu
lange schon ist sie allein bei Tag
und Nacht. Doch mit Max kommen
die Farben: Rote Haare,
Ringelpulli, quicklebendig und
null Berührungsängste, so wickelt
er die alte Luise um den
Finger. Erst spielen die beiden
Verstecken, dann präsentiert
Ex-Opernsängerin Luise zittrig
und wunderschön ihr Lieblingslied.
Immer schneller wächst das
Regenbogenlicht über die grauen
Hochhausfassaden, in die
sich die Kartons verwandelt haben.
– Jede Menge bezauberndkreativer
Regie-Ideen, pointiertes
Schau- und Figurenspiel
– vor allem aber eine flügelzarte
Freundschaftsgeschichte fürs
Herz…
Vagabündel gastiert mit seinen
Stücken in Theatern, Kindergärten,
Schulen, Jugendhäusern,
Bibliotheken. Anfragen an
Ute Wange,Tel. 0761/48 99 653
6; wange@figurentheater-vagabuendel.de
Marion Klötzer
Foto: Sylvain Gripoix
5 - 8 Mai 2022
FREIBURGER SCHÜLER
JAZZHAUS-ORCHESTER
THE JAKOB MANZ PROJECT
DANIEL ERDMANN'S
VELVET REVOLUTION
ADAM BEN EZRA
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