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NACHHALTIG KULTUR JOKER 23

Fahrrad-Selfies vor Tankstellen

Woran erkennt man eigentlich in der Pandemie, ob Gottesdienste zugelassen sind? „Leider an der Anzahl der

Autos vor der Kirche“ weiß jeder, der nebenan wohnt.

Lauter nette Menschen waren

gekommen, junge Familien

mit vielen Kindern. Die

Sonne strahlte an einem dieser

ersten Frühlings-Sonntage.

Der Pfarrer verabschiedete die

junge Gemeinde mit den ermunternden

Worten, man könne

das schöne Wetter doch zu

einem gemeinsamen Spaziergang

nutzen – und stieg in sein

Auto. Anstatt schwatzender

Grüppchen, die sich auf den

kurzen gemeinsamen Heimweg

machten, klappende Autotüren

und brummende Motoren. Die

Kinder liefen nicht mit ihren

Freundinnen und Freunden ein

Stück des Weges an duftend

blühenden Bäumen vorbei, sondern

verschwanden in Blechkisten.

Binnen Minuten leerten

sich die völlig zugeparkten

Gehsteige. Junge, gesunde Beine

mussten die nächsten 1-2 Kilometer

stillhalten.

Wie wäre es an einem offiziellen

autofreien Sonntag gelaufen?

Vermutlich hätten alle

diese Familien sofort mitgemacht,

hätten gerne ein kleines

Zeichen der Solidarität mit der

Ukraine gesetzt. Es wäre ihnen

sicher gut dabei gegangen.

Viele der Eltern erklären ihren

Kindern längst die absurde

Situation, dass unser reiches

Land mit jedem Liter Sprit Putins

Überfall auf die Ukraine

mitfinanziert. Viele von ihnen

engagieren sich längst, sie spenden,

sammeln Unterschriften,

Medikamente, Kleidung und

backen Kuchen für die Ukraine.

Vermutlich würde auch

keiner von ihnen murren, wenn

die nächsten Sonntage für alle

autofrei wären. Und auch dann

nicht, wenn es ab sofort ein für

alle geltendes Tempolimit gäbe.

Im Gegenteil, diejenigen, die

lieber langsam fahren, würden

nicht bei jeder Gelegenheit gedrängelt,

mehr Gas zu geben.

Wenn alle mitmachten, würde

die Nachfrage an den Zapfsäulen

gesenkt. Abertausende

Selfies von Radler:innen vor

Tankstellen, hämische Boykott-

Grüße an Tobias, Hans und

Julian … Pardon, die Autorin

Autofreier Sonntag im Ruhrgebiet, 2010

gerät ins Träumen. Manchmal

träumt sie sogar von Vogelschützern,

die sich für Tempolimits

einsetzen. Schließlich ist

der Verkehr (nach Glasscheiben-Kollisionen)

die Vogel-Todesursache

Nummer 2, mit rd.

70 Millionen Opfern pro Jahr.

Viele Rotmilane, Bussarde und

andere Greifvögel kommen um,

weil sie den Asphalt wegen der

überfahrenen Kleintiere als

reich gedeckten Mittagstisch

wahrnehmen.

Low hanging fruits

Gerade weil der Aufwand für

ein Tempolimit und autofreie

Sonntage so gering ist, käme

es auf einen Versuch an. So

wie in Brandenburg. Da wurde

auf einem 62 km langen Autobahnabschnitt

Tempo 130 eingeführt

und die Auswirkungen

in einer Studie untersucht. Die

Zahl der Unfälle ging massiv

zurück und die Anzahl der Verletzten

sank um mehr als die

Hälfte. Wir könnten damit also

auch die Krankenhäuser samt

dem ausgebrannten Pflegepersonal

entlasten und stattdessen

einfach mal vom Balkon aus

dem Mineralöl-Konzern Rosneft

applaudieren. Der Name

bedeutet ‚russisches Öl, abgeleitet

von ‚Rossijskaja Neft‘.

Wer’s lieber still und extrovertiert

mag, kann wahlweise für

den Rosnefts Aufsichtsrats-

Vorsitzenden Gerhard Schröder

beten, gerne mit geschlossenen

Augen vor einer Kreml-Fototapete.

„In Deutschland ist Rosneft

das drittgrößte Unternehmen

in der Mineralölverarbeitung“,

gibt der russische Staatskonzern

an. Er zählt „zu den führenden

Großhändlern für Mineralölprodukte

in Deutschland“,

also für Benzin, Diesel, Heizöl

und Kerosin, dem Treibstoff für

den Urlaubsflieger. Als einer

der wichtigsten Großhändler in

Deutschland und als drittgrößtes

Unternehmen in der Mineralölverarbeitung

ist ‚Rosneft

Deutschland‘ an drei deutschen

Raffinerien beteiligt: im brandenburgischen

Schwedt, im

bayrischen Neustadt an der

Donau und in Karlsruhe, im

Ländle. Die Mineralölraffinerie

Oberrhein, MiRo, im Karlsruher

Rheinhafen ist die zweitgrößte

Raffinerie Deutschlands

– auch ein schöner Ort zum Applaudieren.

Es gibt so viele schöne Orte

zum Applaudieren, auch und

gerade in Freiburg. Da wären

die B31-Tunnel-Ein- und Ausfahrten,

durch die immer mehr

Verkehr und auch immer mehr

Lastwagen donnern. Applaus

und ein herzliches Dankeschön

an all die Freizeit-Tanker und

Ausflüglerinnen, die einfach

mal spazieren fahren wollen

und Rosneft einen tüchtigen

Schluck aus der Pulle gönnen.

Applaus für alle, die dafür sorgen,

dass irische Butter, bayrische

Milch und Klamotten

aus Billiglohnländern in unsre

Läden gekarrt werden. Applaus

für die pfiffigen Pfennigfuchser,

die im Diskounter die türkischen

Kirschen kaufen und so

die Kaiserstühler Bauern zum

Aufgeben zwingen. Applaus

für all die Mineralölkonzerne,

die es möglich machen, dass

Waren, die über tausende von

Foto: CherryX per Wikimedia Commons

Kilometern mit immer mehr

Lastern über die B31 kommen,

hinterm Tunnel noch zu Dumpingpreisen

die hiesige Konkurrenz

in den Ruin treiben.

Und ein Sonderapplaus für

Rosneft: wie dieser Konzern

auf allen Ebenen, vom Klima

bis zur Regionalwirtschaft,

eine Schneise der Verwüstung

schlägt und gleichzeitig Putins

Kriegskassen füllt, ist wahrlich

beeindruckend.

Es wäre so wirksam, wenn

uns eine Regel alle zum fossilen

Kriegstreiber-Boykott

verpflichten würde. Damit

entfiele sofort das unsägliche,

spalterische Mit-dem-Fingerauf-andere-Zeigen.

In der Boomer-Generation

hört man nur

Positives von den Auto-freien

Sonntagen von 1973, vom Rollschuhfahren

auf der breiten

Fahrbahn, von Familienausflügen,

von der Stille. Und auch

für den Deutschen Sonderweg

des unbegrenzten Rasens auf

den Autobahnen gibt es kein

rationales Argument. Der gordische

Knoten platzt, sobald

der Druck aus der Bevölkerung

größer ist, als der Druck der

Autolobby. Eva Stegen

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