flip-Joker_2022-04
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NACHHALTIG KULTUR JOKER 23
Fahrrad-Selfies vor Tankstellen
Woran erkennt man eigentlich in der Pandemie, ob Gottesdienste zugelassen sind? „Leider an der Anzahl der
Autos vor der Kirche“ weiß jeder, der nebenan wohnt.
Lauter nette Menschen waren
gekommen, junge Familien
mit vielen Kindern. Die
Sonne strahlte an einem dieser
ersten Frühlings-Sonntage.
Der Pfarrer verabschiedete die
junge Gemeinde mit den ermunternden
Worten, man könne
das schöne Wetter doch zu
einem gemeinsamen Spaziergang
nutzen – und stieg in sein
Auto. Anstatt schwatzender
Grüppchen, die sich auf den
kurzen gemeinsamen Heimweg
machten, klappende Autotüren
und brummende Motoren. Die
Kinder liefen nicht mit ihren
Freundinnen und Freunden ein
Stück des Weges an duftend
blühenden Bäumen vorbei, sondern
verschwanden in Blechkisten.
Binnen Minuten leerten
sich die völlig zugeparkten
Gehsteige. Junge, gesunde Beine
mussten die nächsten 1-2 Kilometer
stillhalten.
Wie wäre es an einem offiziellen
autofreien Sonntag gelaufen?
Vermutlich hätten alle
diese Familien sofort mitgemacht,
hätten gerne ein kleines
Zeichen der Solidarität mit der
Ukraine gesetzt. Es wäre ihnen
sicher gut dabei gegangen.
Viele der Eltern erklären ihren
Kindern längst die absurde
Situation, dass unser reiches
Land mit jedem Liter Sprit Putins
Überfall auf die Ukraine
mitfinanziert. Viele von ihnen
engagieren sich längst, sie spenden,
sammeln Unterschriften,
Medikamente, Kleidung und
backen Kuchen für die Ukraine.
Vermutlich würde auch
keiner von ihnen murren, wenn
die nächsten Sonntage für alle
autofrei wären. Und auch dann
nicht, wenn es ab sofort ein für
alle geltendes Tempolimit gäbe.
Im Gegenteil, diejenigen, die
lieber langsam fahren, würden
nicht bei jeder Gelegenheit gedrängelt,
mehr Gas zu geben.
Wenn alle mitmachten, würde
die Nachfrage an den Zapfsäulen
gesenkt. Abertausende
Selfies von Radler:innen vor
Tankstellen, hämische Boykott-
Grüße an Tobias, Hans und
Julian … Pardon, die Autorin
Autofreier Sonntag im Ruhrgebiet, 2010
gerät ins Träumen. Manchmal
träumt sie sogar von Vogelschützern,
die sich für Tempolimits
einsetzen. Schließlich ist
der Verkehr (nach Glasscheiben-Kollisionen)
die Vogel-Todesursache
Nummer 2, mit rd.
70 Millionen Opfern pro Jahr.
Viele Rotmilane, Bussarde und
andere Greifvögel kommen um,
weil sie den Asphalt wegen der
überfahrenen Kleintiere als
reich gedeckten Mittagstisch
wahrnehmen.
Low hanging fruits
Gerade weil der Aufwand für
ein Tempolimit und autofreie
Sonntage so gering ist, käme
es auf einen Versuch an. So
wie in Brandenburg. Da wurde
auf einem 62 km langen Autobahnabschnitt
Tempo 130 eingeführt
und die Auswirkungen
in einer Studie untersucht. Die
Zahl der Unfälle ging massiv
zurück und die Anzahl der Verletzten
sank um mehr als die
Hälfte. Wir könnten damit also
auch die Krankenhäuser samt
dem ausgebrannten Pflegepersonal
entlasten und stattdessen
einfach mal vom Balkon aus
dem Mineralöl-Konzern Rosneft
applaudieren. Der Name
bedeutet ‚russisches Öl, abgeleitet
von ‚Rossijskaja Neft‘.
Wer’s lieber still und extrovertiert
mag, kann wahlweise für
den Rosnefts Aufsichtsrats-
Vorsitzenden Gerhard Schröder
beten, gerne mit geschlossenen
Augen vor einer Kreml-Fototapete.
„In Deutschland ist Rosneft
das drittgrößte Unternehmen
in der Mineralölverarbeitung“,
gibt der russische Staatskonzern
an. Er zählt „zu den führenden
Großhändlern für Mineralölprodukte
in Deutschland“,
also für Benzin, Diesel, Heizöl
und Kerosin, dem Treibstoff für
den Urlaubsflieger. Als einer
der wichtigsten Großhändler in
Deutschland und als drittgrößtes
Unternehmen in der Mineralölverarbeitung
ist ‚Rosneft
Deutschland‘ an drei deutschen
Raffinerien beteiligt: im brandenburgischen
Schwedt, im
bayrischen Neustadt an der
Donau und in Karlsruhe, im
Ländle. Die Mineralölraffinerie
Oberrhein, MiRo, im Karlsruher
Rheinhafen ist die zweitgrößte
Raffinerie Deutschlands
– auch ein schöner Ort zum Applaudieren.
Es gibt so viele schöne Orte
zum Applaudieren, auch und
gerade in Freiburg. Da wären
die B31-Tunnel-Ein- und Ausfahrten,
durch die immer mehr
Verkehr und auch immer mehr
Lastwagen donnern. Applaus
und ein herzliches Dankeschön
an all die Freizeit-Tanker und
Ausflüglerinnen, die einfach
mal spazieren fahren wollen
und Rosneft einen tüchtigen
Schluck aus der Pulle gönnen.
Applaus für alle, die dafür sorgen,
dass irische Butter, bayrische
Milch und Klamotten
aus Billiglohnländern in unsre
Läden gekarrt werden. Applaus
für die pfiffigen Pfennigfuchser,
die im Diskounter die türkischen
Kirschen kaufen und so
die Kaiserstühler Bauern zum
Aufgeben zwingen. Applaus
für all die Mineralölkonzerne,
die es möglich machen, dass
Waren, die über tausende von
Foto: CherryX per Wikimedia Commons
Kilometern mit immer mehr
Lastern über die B31 kommen,
hinterm Tunnel noch zu Dumpingpreisen
die hiesige Konkurrenz
in den Ruin treiben.
Und ein Sonderapplaus für
Rosneft: wie dieser Konzern
auf allen Ebenen, vom Klima
bis zur Regionalwirtschaft,
eine Schneise der Verwüstung
schlägt und gleichzeitig Putins
Kriegskassen füllt, ist wahrlich
beeindruckend.
Es wäre so wirksam, wenn
uns eine Regel alle zum fossilen
Kriegstreiber-Boykott
verpflichten würde. Damit
entfiele sofort das unsägliche,
spalterische Mit-dem-Fingerauf-andere-Zeigen.
In der Boomer-Generation
hört man nur
Positives von den Auto-freien
Sonntagen von 1973, vom Rollschuhfahren
auf der breiten
Fahrbahn, von Familienausflügen,
von der Stille. Und auch
für den Deutschen Sonderweg
des unbegrenzten Rasens auf
den Autobahnen gibt es kein
rationales Argument. Der gordische
Knoten platzt, sobald
der Druck aus der Bevölkerung
größer ist, als der Druck der
Autolobby. Eva Stegen
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