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MIXTAPE KULTUR JOKER 21

Keine Minderheiten, keine Randfiguren

Ein Gespräch mit Şenay Awad zur Foto-Ausstellung „Sieh mich an! Rassismus an

muslimisch gelesenen Menschen sichtbar machen!“

„Sieh mich an!“ ist das Motto

einer Ausstellung, die noch

bis zum 2. April in der Stadtbibliothek

zu sehen ist. Hinter

dem Projekt, das im Rahmen

der Wochen gegen Rassismus

gezeigt wird, steht der Sozialdienst

muslimischer Frauen

Freiburg. Die Ausstellung mit

20 Interviewauszügen und Fotos

konzentriert sich auf junge

Menschen, die in dritter Generation

in Deutschland leben. Fabian

Lutz hat mit Şenay Awad

vom Sozialdienst muslimischer

Frauen gesprochen. Sie hat das

Konzept der Ausstellung entwickelt.

Kultur Joker: Frau Awad, für

Ihre Ausstellung haben Sie auch

diese drei Jungen interviewt, die

wir hier auf dem Foto sehen. Was

können die drei uns über Rassismus

erzählen?

Şenay Awad: Die drei Jungs auf

dem Foto sind in der achten Klasse

eines Gymnasiums. Sie sind

hier geboren und beherrschen die

deutsche Sprache. Trotzdem bekommen

sie ständig gesagt, dass

sie nicht ganz deutsch seien. Nur

weil sie keine klassischen deutschen

Namen haben und auch kein

typisch „biodeutsches“ Aussehen.

Das wollen sie nicht mehr hören.

Sie sind ganze Deutsche.

Kultur Joker: Das geht in

Richtung der Frage „Woher

kommst du wirklich?“ Man bezweifelt

die Identität der Jungs.

Şenay Awad: Ja. Ich glaube, Sie

würden diese Frage nicht gestellt

bekommen.

Kultur Joker: Die Ausstellung

steht unter dem Motto „Sieh mich

an!“ An wen richtet sich diese

Aufforderung?

Şenay Awad: Die Aufforderung

richtet sich an alle Deutschen,

die nicht von Rassismus betroffen

Firdevs Bahadir, Senay Awad, Mohammed Awad

Foto: Sozialdienst muslimischer Frauen Freiburg e.V.

Drei Interviewpartner der Ausstellung

sind und sich nicht mit dem Thema

Rassismus beschäftigen. Die

Aufforderung lautet: Sieh mich

an! Ich lebe hier, ich bin eine von

euch. Ich gehöre zu dieser Gesellschaft,

auch wenn ich für euch

nicht so aussehe. Ich möchte keine

Minderheit, keine Randfigur sein.

Kultur Joker: Haben Sie bei Ihrer

Arbeit im Sozialdienst muslimischer

Frauen oft mit Menschen

zu tun, die sich als Randfiguren

unserer Gesellschaft fühlen?

Şenay Awad: Ja. Das Thema Rassismus

beschäftigt uns jeden Tag.

Es betrifft alle unsere Klienten.

Ob das Menschen sind, die Kinder

im Kindergarten oder in der Schule

haben oder die eine Wohnung,

einen Job suchen. Sie alle stoßen

auf Rassismus, weil sie nicht als

deutsch gelesen werden.

Kultur Joker: Ihre Arbeit konzentriert

sich auf den Alltag muslimischer

Frauen. Kommt zum Rassismus

da nicht auch Sexismus?

Şenay Awad: In einem Workshop

hat mir eine Frau erzählt, dass

ihre Sozialarbeiterin meinte, sie

solle bitte kein drittes Kind in die

Welt setzen. Als unsere Klientin

dann schwanger war, riet ihr die

Sozialarbeiterin, das Kind abzutreiben.

Dahinter steckt das rassistische

und sexistische Bild einer

kopftuchtragenden Ausländerin

mit zu vielen Kindern, die noch

dazu nichts unter Kontrolle hat.

Kultur Joker: Die Ausstellung

richtet den Blick speziell auf junge

Menschen. Warum das?

Şenay Awad: Junge Menschen,

die hier aufgewachsen sind, die

deutsche Sprache beherrschen

und sich selbst als deutsch sehen,

sehen Rassismus besonders deutlich.

Kultur Joker: Eine erhöhte Sensibilität

für Rassismus?

Şenay Awad: Ja. Die jungen Menschen

sprechen besser Deutsch als

Türkisch, träumen auf Deutsch,

fühlen sich deutsch. Aber sie bekommen

vermittelt: Egal, was ihr

macht, ihr gehört nicht dazu. Nur

weil sie vielleicht dunkle Haare

haben oder Kopftuch tragen.

Kultur Joker: Am 19. Februar

jährte sich der rassistisch motivierte

Anschlag in Hanau zum

zweiten Mal. Hat sich seitdem der

Umgang mit Rassismus in der Gesellschaft

zum Besseren gewandt?

Şenay Awad: Nach den Anschlägen

in Solingen 1992, in Halle

2019 und in Hanau 2020 gibt es

überall Aufrufe gegen rassistische

Gewalt. Wir hören von den Medien

und der Politik, dass endlich

Gerechtigkeit und Gleichberechtigung

herrschen müssen...

Kultur Joker: ...das ist doch zumindest

ein Anfang, oder?

Şenay Awad: ...aber wir müssten

erst einmal anfangen, die Sprache

in den Medien und der Politik zu

ändern. Das sieht man gerade am

Beispiel des Anschlags von Hanau.

Ich habe mich sehr geärgert,

als ich hören musste, dass acht

junge Menschen mit Migrationshintergrund

gestorben seien. Es

muss heißen: Acht Menschen sind

gestorben. Es ist doch vollkommen

egal, welchen Hintergrund

diese Menschen haben! So eine

Sprache spaltet die Gesellschaft.

Wir wollen kein „Die“ und „Wir“.

Wir sind doch längst ein „Wir“.

Wir müssen zusammen an einem

Strang ziehen, sonst gibt es keine

Gleichberechtigung.

Kultur Joker: Politik und Medien

werden maßgeblich von Menschen

geprägt, die nie Rassismus

erleben mussten. Ihre Ausstellung

gibt den Menschen das Wort, die

davon alltäglich betroffen sind.

Şenay Awad: Es wäre doch

schön, wenn die Zitate unserer

Ausstellung in ganz Deutschland

zu lesen wären. Ich finde auch,

dass Politik und Medien nicht

nur von Biodeutschen gemacht

werden sollten. Nur deshalb entstehen

Begriffe wie „Flüchtlingswelle“

– Flüchtlinge werden mit

einer Katastrophe gleichgesetzt.

Oder ein anderes Beispiel: Wenn

ein muslimisch gelesener Mensch

ein Attentat begeht, spricht man

von Terrorismus. Der deutsche

Attentäter von Hanau war nur

„psychisch gestört“. Das will ich

nicht mehr hören.

Kultur Joker: Können Sie uns

zum Ende des Gesprächs noch

eine Person vorstellen, die Sie für

die Ausstellung interviewt haben?

Şenay Awad: Gerne. Eine unserer

Interviewpartnerinnen hat

zwei Master-Abschlüsse, wohnt

aber in einer Notunterkunft, weil

sie in Freiburg keine Wohnung

bekommt. In der Unterkunft

herrscht ein schrecklicher hygienischer

Zustand. Ihre Sozialarbeiterin

wollte sie aufgrund ihrer prekären

Lage beim Wohngeldamt

anmelden. Sechs Wochen lang

hat sie nichts mehr gehört. Als

sie sich dann erkundigte, meinte

die Sozialarbeiterin nur, sie hätte

es vergessen. Das ist aber längst

nicht alles. Von einem Mann im

Jobcenter musste sie sich anhören:

Unterstützt von:

Foto: Sozialdienst muslimischer Frauen Freiburg e.V.

„Mit ihrem Kopftuch werden sie

keine Stelle bekommen.“ Wenn

sie von der Arbeit nach Hause

kommt, wird sie von ihren Nachbarn

gefragt, ob sie in ihrer Wohnung

eigentlich Gas hätte und ob

sie ihr Essen mit Besteck oder mit

Händen esse. Weil sie dunklere

Haut hat und Kopftuch trägt, stellt

sich für manche Deutsche die Frage,

ob sie eigentlich zivilisiert sei.

Kultur Joker: Wie geht die Betroffene

mit diesem Rassismus um?

Şenay Awad: Für sie ist es

schlimm, jeden Tag gelassen und

ruhig auf solche Fragen antworten

zu müssen. Das ist hart, das geht

auf die Persönlichkeit. Sie fragt

sich, woher andere das Recht

nehmen, so etwas zu sagen. Als

sie nach Deutschland kam, hat sie

gelernt: Die Würde des Menschen

ist unantastbar. Für sie als muslimische

Frau gilt das aber nicht.

Kultur Joker: Danke für das Gespräch!

Die Ausstellung „Sieh mich an!

Rassismus an muslimisch gelesenen

Menschen sichtbar machen!“

ist bis zum 2. April in

der Stadtbibliothek Freiburg am

Münsterplatz zu sehen. Öffnungszeiten:

Di.–Fr., 10–19 Uhr, Sa.

10–15 Uhr.

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