flip-Joker_2022-04
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MIXTAPE KULTUR JOKER 21
Keine Minderheiten, keine Randfiguren
Ein Gespräch mit Şenay Awad zur Foto-Ausstellung „Sieh mich an! Rassismus an
muslimisch gelesenen Menschen sichtbar machen!“
„Sieh mich an!“ ist das Motto
einer Ausstellung, die noch
bis zum 2. April in der Stadtbibliothek
zu sehen ist. Hinter
dem Projekt, das im Rahmen
der Wochen gegen Rassismus
gezeigt wird, steht der Sozialdienst
muslimischer Frauen
Freiburg. Die Ausstellung mit
20 Interviewauszügen und Fotos
konzentriert sich auf junge
Menschen, die in dritter Generation
in Deutschland leben. Fabian
Lutz hat mit Şenay Awad
vom Sozialdienst muslimischer
Frauen gesprochen. Sie hat das
Konzept der Ausstellung entwickelt.
Kultur Joker: Frau Awad, für
Ihre Ausstellung haben Sie auch
diese drei Jungen interviewt, die
wir hier auf dem Foto sehen. Was
können die drei uns über Rassismus
erzählen?
Şenay Awad: Die drei Jungs auf
dem Foto sind in der achten Klasse
eines Gymnasiums. Sie sind
hier geboren und beherrschen die
deutsche Sprache. Trotzdem bekommen
sie ständig gesagt, dass
sie nicht ganz deutsch seien. Nur
weil sie keine klassischen deutschen
Namen haben und auch kein
typisch „biodeutsches“ Aussehen.
Das wollen sie nicht mehr hören.
Sie sind ganze Deutsche.
Kultur Joker: Das geht in
Richtung der Frage „Woher
kommst du wirklich?“ Man bezweifelt
die Identität der Jungs.
Şenay Awad: Ja. Ich glaube, Sie
würden diese Frage nicht gestellt
bekommen.
Kultur Joker: Die Ausstellung
steht unter dem Motto „Sieh mich
an!“ An wen richtet sich diese
Aufforderung?
Şenay Awad: Die Aufforderung
richtet sich an alle Deutschen,
die nicht von Rassismus betroffen
Firdevs Bahadir, Senay Awad, Mohammed Awad
Foto: Sozialdienst muslimischer Frauen Freiburg e.V.
Drei Interviewpartner der Ausstellung
sind und sich nicht mit dem Thema
Rassismus beschäftigen. Die
Aufforderung lautet: Sieh mich
an! Ich lebe hier, ich bin eine von
euch. Ich gehöre zu dieser Gesellschaft,
auch wenn ich für euch
nicht so aussehe. Ich möchte keine
Minderheit, keine Randfigur sein.
Kultur Joker: Haben Sie bei Ihrer
Arbeit im Sozialdienst muslimischer
Frauen oft mit Menschen
zu tun, die sich als Randfiguren
unserer Gesellschaft fühlen?
Şenay Awad: Ja. Das Thema Rassismus
beschäftigt uns jeden Tag.
Es betrifft alle unsere Klienten.
Ob das Menschen sind, die Kinder
im Kindergarten oder in der Schule
haben oder die eine Wohnung,
einen Job suchen. Sie alle stoßen
auf Rassismus, weil sie nicht als
deutsch gelesen werden.
Kultur Joker: Ihre Arbeit konzentriert
sich auf den Alltag muslimischer
Frauen. Kommt zum Rassismus
da nicht auch Sexismus?
Şenay Awad: In einem Workshop
hat mir eine Frau erzählt, dass
ihre Sozialarbeiterin meinte, sie
solle bitte kein drittes Kind in die
Welt setzen. Als unsere Klientin
dann schwanger war, riet ihr die
Sozialarbeiterin, das Kind abzutreiben.
Dahinter steckt das rassistische
und sexistische Bild einer
kopftuchtragenden Ausländerin
mit zu vielen Kindern, die noch
dazu nichts unter Kontrolle hat.
Kultur Joker: Die Ausstellung
richtet den Blick speziell auf junge
Menschen. Warum das?
Şenay Awad: Junge Menschen,
die hier aufgewachsen sind, die
deutsche Sprache beherrschen
und sich selbst als deutsch sehen,
sehen Rassismus besonders deutlich.
Kultur Joker: Eine erhöhte Sensibilität
für Rassismus?
Şenay Awad: Ja. Die jungen Menschen
sprechen besser Deutsch als
Türkisch, träumen auf Deutsch,
fühlen sich deutsch. Aber sie bekommen
vermittelt: Egal, was ihr
macht, ihr gehört nicht dazu. Nur
weil sie vielleicht dunkle Haare
haben oder Kopftuch tragen.
Kultur Joker: Am 19. Februar
jährte sich der rassistisch motivierte
Anschlag in Hanau zum
zweiten Mal. Hat sich seitdem der
Umgang mit Rassismus in der Gesellschaft
zum Besseren gewandt?
Şenay Awad: Nach den Anschlägen
in Solingen 1992, in Halle
2019 und in Hanau 2020 gibt es
überall Aufrufe gegen rassistische
Gewalt. Wir hören von den Medien
und der Politik, dass endlich
Gerechtigkeit und Gleichberechtigung
herrschen müssen...
Kultur Joker: ...das ist doch zumindest
ein Anfang, oder?
Şenay Awad: ...aber wir müssten
erst einmal anfangen, die Sprache
in den Medien und der Politik zu
ändern. Das sieht man gerade am
Beispiel des Anschlags von Hanau.
Ich habe mich sehr geärgert,
als ich hören musste, dass acht
junge Menschen mit Migrationshintergrund
gestorben seien. Es
muss heißen: Acht Menschen sind
gestorben. Es ist doch vollkommen
egal, welchen Hintergrund
diese Menschen haben! So eine
Sprache spaltet die Gesellschaft.
Wir wollen kein „Die“ und „Wir“.
Wir sind doch längst ein „Wir“.
Wir müssen zusammen an einem
Strang ziehen, sonst gibt es keine
Gleichberechtigung.
Kultur Joker: Politik und Medien
werden maßgeblich von Menschen
geprägt, die nie Rassismus
erleben mussten. Ihre Ausstellung
gibt den Menschen das Wort, die
davon alltäglich betroffen sind.
Şenay Awad: Es wäre doch
schön, wenn die Zitate unserer
Ausstellung in ganz Deutschland
zu lesen wären. Ich finde auch,
dass Politik und Medien nicht
nur von Biodeutschen gemacht
werden sollten. Nur deshalb entstehen
Begriffe wie „Flüchtlingswelle“
– Flüchtlinge werden mit
einer Katastrophe gleichgesetzt.
Oder ein anderes Beispiel: Wenn
ein muslimisch gelesener Mensch
ein Attentat begeht, spricht man
von Terrorismus. Der deutsche
Attentäter von Hanau war nur
„psychisch gestört“. Das will ich
nicht mehr hören.
Kultur Joker: Können Sie uns
zum Ende des Gesprächs noch
eine Person vorstellen, die Sie für
die Ausstellung interviewt haben?
Şenay Awad: Gerne. Eine unserer
Interviewpartnerinnen hat
zwei Master-Abschlüsse, wohnt
aber in einer Notunterkunft, weil
sie in Freiburg keine Wohnung
bekommt. In der Unterkunft
herrscht ein schrecklicher hygienischer
Zustand. Ihre Sozialarbeiterin
wollte sie aufgrund ihrer prekären
Lage beim Wohngeldamt
anmelden. Sechs Wochen lang
hat sie nichts mehr gehört. Als
sie sich dann erkundigte, meinte
die Sozialarbeiterin nur, sie hätte
es vergessen. Das ist aber längst
nicht alles. Von einem Mann im
Jobcenter musste sie sich anhören:
Unterstützt von:
Foto: Sozialdienst muslimischer Frauen Freiburg e.V.
„Mit ihrem Kopftuch werden sie
keine Stelle bekommen.“ Wenn
sie von der Arbeit nach Hause
kommt, wird sie von ihren Nachbarn
gefragt, ob sie in ihrer Wohnung
eigentlich Gas hätte und ob
sie ihr Essen mit Besteck oder mit
Händen esse. Weil sie dunklere
Haut hat und Kopftuch trägt, stellt
sich für manche Deutsche die Frage,
ob sie eigentlich zivilisiert sei.
Kultur Joker: Wie geht die Betroffene
mit diesem Rassismus um?
Şenay Awad: Für sie ist es
schlimm, jeden Tag gelassen und
ruhig auf solche Fragen antworten
zu müssen. Das ist hart, das geht
auf die Persönlichkeit. Sie fragt
sich, woher andere das Recht
nehmen, so etwas zu sagen. Als
sie nach Deutschland kam, hat sie
gelernt: Die Würde des Menschen
ist unantastbar. Für sie als muslimische
Frau gilt das aber nicht.
Kultur Joker: Danke für das Gespräch!
Die Ausstellung „Sieh mich an!
Rassismus an muslimisch gelesenen
Menschen sichtbar machen!“
ist bis zum 2. April in
der Stadtbibliothek Freiburg am
Münsterplatz zu sehen. Öffnungszeiten:
Di.–Fr., 10–19 Uhr, Sa.
10–15 Uhr.