flip-Joker_2022-04
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10 KULTUR JOKER Kunst
Künstlerisches Werk und Leben in fünf „Aufzügen“
Das Musée des Beaux-Arts in Mulhouse zeigt Fotografien von Françoise Saur
Das Mühlhausener Kunstmuseum
widmet eine große
Einzelausstellung der namhaften
Fotografin Françoise
Saur, die in der Nähe von Colmar
lebt und arbeitet. Unter
dem Titel Ce qu‘il en reste
zeigt die Künstlerin, die 1979
als erste Frau den bedeutenden
Fotografie-Preis Nicéphore
Niépce erhielt, welche Reichtümer
der Erinnerung übrig
bleiben, wenn ein Familienerbe
wahrgenommen, wiederentdeckt
und ausgebreitet
wird. Françoise Saur versteht
die nachgelassenen Zeugnisse
beispielhaft, um allgemeingültige
Aspekte einer Vergangenheitsbetrachtung
aufzuzeigen,
die das Einzelschicksal wie
die familiäre Gemeinschaft
innerhalb der Gesellschaft betrifft.
In fünf „Zimmern“ stellt
sie Bilder, Objekte und Dokumente
thematisch zusammen,
die über das Leben der eigenen
Vorfahren hinausgehen
und zugleich an europäische
Geschichtsmuster – z. B. des
Kolonialismus – anknüpfen.
Für die Ausstellung entstanden
großformatige Fotoarbeiten,
die mit meist historischen kleinen
S/W-Fotos sowie schriftlichen
Zeugnissen und Dokumenten
in Dialog treten.
Im ersten Raum der „Koffer“
führt uns die Künstlerin exemplarisch
Lebenszeugnisse
aus der Familiengeschichte in
kleinen Bildgruppen vor, die
mit sozialen Aspekten von
Arbeit, mit Immigration und
Reisen in Verbindung stehen.
Der zweite Raum zeigt die
Serie der „Anhäufungen“, die
von der Ambivalenz zwischen
der Faszination des Schönen
und dem eigentlich lächerlich
Unnützen berichten. Saur stellt
sie uns als „Natures Mortes“,
als Stillleben toter Dinge vor
Augen – in voller Schönheit,
wie die gespiegelten Kostbarkeiten
der Kristallgläser und
Karaffen, das dunkel glänzende
Silber der Bestecke und
Platten, das helle Porzellan mit
Postkarte aus einem Notizbuch „Beautés arabes“
Goldrand. Dazu gehören auch
das Tableau der Schlüssel, die
skulptural hängenden Tischdecken,
die perlmuttschimmernden
Knöpfe arrangiert in
ebenso schimmernden Kammmuscheln
wie auch die drei
Schopfheimerstraße
2
Foto: Musée des Beaux-Arts
Stapel dick verstaubter Bücher.
Ebenfalls Akkumulationen
bilden die Menschengruppen
in den dokumentarischen Fotos
– z. B. Schulkassen oder
Vereinsmitglieder –, die den
Menschen nur als Mengenwesen
sichtbar machen.
Der dritte Raum bietet eine
Überraschung in Gestalt einer
Videoarbeit, in der Saur aus
ihrem seit den 1970er Jahren
entstandenen Fototagebuch
von ca. 11300 Seiten Abzüge
montiert und in Zusammenarbeit
mit dem Musiker Joris
Rühl in ein dichtes und poetisches
Werk von 14 Minuten
umgesetzt hat. Das „Prises de
vie“ betitelte S/W-Video bietet
im Raum von „Leben und Tod“
eine beeindruckend lebendige
Fülle und gestalterische Vielfalt,
die es zu einem Hauptwerk
der Künstlerin machen.
Zum Video liegt eine Publikation
vor. Der Aspekt
von Tod und Vergänglichkeit
ist in Portraits
von aufgebahrten Gestorbenen
und in S/W-
Aufnahmen von alten
Häusern im Moment
der Zerstörung durch
die Abrissbirne festgehalten.
Raum vier „Tatsachen
des Lebens“
knüpft an die Akkumulationen
an und
stellt das Foto nochmals
als Geschichtsdokument
und Gedächtnisspeicher
vor:
Alte Geldscheine,
Diplome, Zertifikate
und Medaillen zeugen
vom sozialen Aufstieg
im zivilen wie militärischen
Leben. Andere Objekte erinnern
an die Dominanz des Religiösen.
Eine Rückbindung an ihre eigene
Familiengeschichte stellt
Saur in Raum fünf dar: „Orientalismen“
beziehen sich –
ausgehend von ihrem Geburtsort
Alger – auf das kolonisierte
Algerien, aber auch auf die Suche
nach den eigenen Wurzeln.
Dies hatte sich bereits in früheren
fotografischen Arbeiten
gezeigt: einem Triptychon,
das selbst in Schwarzweiß von
orientalischer Ornamentfreude
und weiblicher Üppigkeit
zeugt, und einem dreiteiligen
Farbmotiv mit zwei modern
wirkenden algerischen Frauen
und einer orientalisch ausgeschmückten
Halle. In einer
großen Tischvitrine sind Foto-
Postkarten als zeitgenössische
Zeugnisse des Exotischen ausgelegt.
Ergänzend dazu zeigt
Saur aus ihrem Familienarchiv
in einem Holzrahmen historische
Fotos aus dem Umfeld
ihres in Alger als Stadtplaner
arbeitenden Vaters.
So rundet sich ein künstlerisches
Werk und Leben – in
fünf „Aufzügen“ und mit vielen
privaten Themen, die sich
mit universellen Narrativen
überschneiden.
Françoise Saur (*1949 in
Alger) absolvierte ihre Ausbildung
zunächst an der École
Louis Lumière in Paris,
anschließend an der Folkwangschule
in Essen bei Otto
Steinert. Sie zieht dann ins Elsass,
wo sie seit 1968 als Fotografin
arbeitet.
Françoise Saur, Ce qu‘il en
reste - Was übrig bleibt. Mulhouse,
Musée des Beaux-Arts,
Öffnungszeiten: 13-18.30 Uhr,
Di geschlossen. Bis 15. Mai
2022. www.beaux-arts.musees-mulhouse.fr
Susanne Meier-Faust
Ohne Titel, analoge Schwarz-
Weiß-Fotografie
Foto: Musée des Beaux-Arts