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Hinz&Kunzt 348 Februar 2022

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>348</strong><br />

Feb. 22<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer:innen<br />

Jan Georg<br />

Schütte<br />

Auf Tour mit dem Schauspieler,<br />

Regisseur und Fachmann für Improvisation


Editorial<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Seit Jahren steht<br />

das Haus am<br />

Reetwerder 3<br />

leer und verfällt.<br />

Redakteur<br />

Jonas Füllner<br />

hat sich vor Ort<br />

mit Nachbarin<br />

Friederike<br />

getroffen.<br />

Moin,<br />

fällt Ihnen beim Spaziergang durch die Nachbarschaft auch<br />

gelegentlich auf, dass Wohnungen oder ganze Häuser unbewohnt<br />

sind, teilweise seit Jahren? Obwohl die Bezirke immer öfter versuchen,<br />

mit Bußgeldern gegenzusteuern, sind solche Leerstände in<br />

Hamburg leider keine Ausnahme. Wir blicken deshalb auf den<br />

Status Quo und fragen nach, was die politisch Verantwortlichen<br />

gegen Leerstand unternehmen könnten.<br />

In Berlin wollten einige Aktivist:innen und Obdachlose derweil<br />

nicht warten, bis sich die Politik etwas einfallen lässt: Sie haben<br />

kurzerhand ein leer stehendes Haus besetzt – und können erst<br />

mal bleiben: Rund 40 Obdachlose finden dort nun einen<br />

Rückzugsort. Was ich bei meinem Besuch vor Ort erlebt habe,<br />

lesen Sie im Magazin.<br />

Nicht warten, sondern machen: Das will auch Uwe Lübbermann.<br />

Der Unternehmer ist zwar kein Hausbesetzer, sondern ein Hausbesitzer,<br />

doch mit dem Brause-Kollektiv Premium Cola will er die<br />

Wirtschaft revolutionieren. Wie er das anstellen möchte, lesen Sie –<br />

neben vielen weiteren Themen – in unserem Schwerpunkt zum<br />

Wandel der Arbeitswelt.<br />

Unseren Titel ziert in diesem Monat Jan Georg Schütte. Die<br />

Serie „Das Begräbnis“, bei der er Regie führte, ist derzeit in der<br />

ARD zu sehen. Wir haben uns mit dem Autor, Schauspieler und<br />

Regisseur auf einen Spaziergang getroffen und über die Kunst des<br />

Improvisierens gesprochen. <br />

<br />

Viel Spaß beim Lesen!<br />

Ihr Lukas Gilbert<br />

Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />

FOTOS SEITE 2: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

TITELFOTO: ANDREAS HORNOFF<br />

2


32<br />

Fördert den<br />

Müßiggang:<br />

Felix Quadflieg<br />

Inhalt <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

Stadtgespräch<br />

06 Gemeinsam gegen Leerstand<br />

Berlin: Ein besetztes Haus bietet Obdachlosen ein Zuhause.<br />

10 Die unendliche Geschichte<br />

In Bergedorf steht ein Haus seit Jahren leer.<br />

13 Streit um einen Zaun auf St. Pauli<br />

Ein Gitter soll Obdachlose von einem Schulgelände vertreiben.<br />

Fotostrecken<br />

16 Wovon träumst du, wenn du schläfst?<br />

Lichtcollagen aus den Träumen obdachloser Menschen<br />

36 Siegeszug eines Plastikstuhls<br />

Der Monobloc ist das meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten.<br />

Arbeit<br />

36<br />

Der Stuhl<br />

Monobloc<br />

hilft Gehbehinderten.<br />

24 Provokateur und Angsthase<br />

Uwe Lübbermann will die Wirtschaft verbiegen.<br />

28 Modell für die Zukunft?<br />

Eine Hotelkette probt die Viertagewoche bei vollem Lohn.<br />

30 Gestern, heute, morgen<br />

Zahlen und Daten zum Wandel der Arbeitswelt<br />

32 „Wer nicht will, sollte nicht arbeiten müssen“<br />

Felix Quadflieg und sein Verein zur Förderung des Müßiggangs<br />

Freunde<br />

44 Gute Waren, gut verpackt<br />

Studierende haben den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Onlineshop begutachtet.<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

06<br />

Haus besetzerinnen<br />

in Berlin<br />

16<br />

Lenny träumt<br />

vom Fliegen.<br />

48 „Ich war voll der Nischenheini“<br />

Autor, Schauspieler und Regisseur Jan Georg Schütte<br />

52 Tipps für den <strong>Februar</strong><br />

56 Kolumne: Auf ein Getränk mit Anselm Neft<br />

58 Momentaufnahme: Hinz&Künztler Chamkauer<br />

Rubriken<br />

04 Gut&Schön<br />

14 Zahlen des Monats<br />

22 Meldungen<br />

46 Buh&Beifall<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Endlich ein Zuhause!<br />

Gemeinsam in der Küche sitzen, auf die Pizza im Ofen warten und<br />

Karten spielen – dieser Traum ist für die Hinz&Künztler Daniel,<br />

Markus, Viktor und Olaf (von links) wahrgeworden: Sie bilden eine von<br />

fünf WGs im neuen Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus, in einer Wohnung lebt eine<br />

Familie. Schon im September vergangenen Jahres sind wir von den alten<br />

Räumlichkeiten in das neue Haus in der Minenstraße in St. Georg<br />

umge zogen. Dort sind neben der Geschäftsstelle auch Wohnungen für<br />

unsere Verkäu fer:innen entstanden. Begleitet von Sozialarbeiter Jonas<br />

Gengnagel sind die Hinz&Künztler:innen seitdem nach und nach in<br />

die Wohnungen eingezogen – seit Januar sind alle belegt. Jede:r hat<br />

ein eigenes Zimmer, Küche und Wohnzimmer teilen sich die WGs. LG<br />


Rubrik<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Gemeinsam gegen<br />

Leerstand<br />

In Berlin haben Obdachlose gemeinsam mit Aktivist:innen ein leer<br />

stehendes Haus besetzt – und so kurzfristig Wohnraum für Menschen<br />

ohne Zuhause geschaffen. Mindestens bis April dürfen sie bleiben.<br />

P<br />

insel sitzt auf ihrem karierten<br />

Sofa und ist glücklich. Zu ihren<br />

Füßen hat es sich ihr Hund<br />

Omiro gemütlich gemacht.<br />

Seit einigen Tagen nennt die 32-Jährige<br />

eine kleine Zweizimmerwohnung in<br />

Berlin-Mitte ihr Zuhause. Jahrelang lebte<br />

sie auf der Straße oder bei Bekannten.<br />

Jetzt hat sie endlich Ruhe und<br />

Privatsphäre. Kann die Tür hinter sich<br />

schließen. Vor allem aber sei es die<br />

Erfahrung, sich die Wohnung selbst erstritten<br />

zu haben, die sie beflügelt: „Das<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: FLORIAN BOILLOT<br />

Gefühl ist kaum in Worte zu packen.“<br />

Gemeinsam mit anderen Obdachlosen<br />

und Aktivist:innen hat sie das Haus, in<br />

dem ihre neue Wohnung liegt, besetzt.<br />

Jahrelang stand es so gut wie leer.<br />

Ganz praktisch etwas gegen den<br />

Leerstand in der Stadt tun. Aus diesem<br />

Grund haben sich vor rund zwei Jahren<br />

politische Aktivist:innen und Obdachlose<br />

in Berlin zusammengeschlossen.<br />

Das Besondere: Sie arbeiten gemeinsam<br />

und auf Augenhöhe. „Die Idee<br />

war: Nicht Aktivist:innen machen das<br />

6<br />

für andere, sondern wir machen das zusammen<br />

und erkämpfen uns das Haus<br />

gemeinsam“, ergänzt Valentina (Name<br />

geändert), eine der Aktivist:innen, die<br />

sich auf das Sofa neben Pinsel gesellt<br />

hat: „Das hat gut funktioniert.“ Pinsel<br />

ergänzt: „Wir sind zusammen auf Platten<br />

und in Obdachlosenheime gegangen<br />

und haben Bescheid gesagt, was wir<br />

hier vorhaben.“<br />

Anfangs lief es zwar auch holprig,<br />

schließlich seien doch recht unterschiedliche<br />

Charaktere aufeinander-


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rubrik<br />

getroffen. Trotzdem feiert die Gruppe<br />

jetzt ihren größten Erfolg: Die Obdachlosen<br />

dürfen bis auf Weiteres bleiben.<br />

Das hat der zuständige Bezirk Berlin-<br />

Mitte mit dem Eigentümer vereinbart.<br />

Vor einigen Monaten sah das noch anders<br />

aus. Damals hatten sie das Haus in<br />

der Habersaathstraße schon einmal<br />

besetzt, wurden aber direkt wieder<br />

geräumt.<br />

Zu DDR-Zeiten diente der fünfstöckige,<br />

graue Plattenbau der naheliegenden<br />

Charité als Schwesternwohnheim.<br />

Als in Berlin 2006 die Kassen leer und<br />

Privatisierungen im Trend waren, verkaufte<br />

die Stadt unter dem damaligen<br />

SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin das<br />

Haus für zwei Millionen Euro an einen<br />

privaten Investor. 2018 verkaufte der es<br />

an den heutigen Eigentümer weiter.<br />

Laut Medienberichten zum zehnfachen<br />

Preis. Frei werdende Wohnungen lässt<br />

der heutige Eigentümer offensichtlich<br />

leer stehen, nur in einigen wenigen der<br />

rund 100 Wohnungen leben noch alteingesessene<br />

Mieter:innen.<br />

An dem Haus zeigen sich die Absurditäten<br />

des Wohnungsmarktes. Erst<br />

2008 wurde es energetisch saniert. Auf<br />

dem Dach befindet sich sogar eine<br />

Fotovoltaik-Anlage, um das Haus mit<br />

Energie zu versorgen, berichten die<br />

Beset zer :innen. In den leer stehenden<br />

7<br />

Wohnungen funktionieren Strom, Heizung<br />

und Wasser. Sogar möbliert und<br />

mit Fernsehern ausgestattet sind einige<br />

der Apartments. Trotzdem lohnt es sich<br />

für den Eigentümer offensichtlich, die<br />

Endlich ein Rückzugsort:<br />

Bewohnerin Pinsel<br />

mit ihrem Hund Omiro


Pinsel und Aktivistin<br />

Valentina im neuen<br />

Wohnzimmer (oben).<br />

Unten: Valentina vor<br />

dem besetzten Haus<br />

Wohnungen nicht zu vermieten und<br />

stattdessen darauf zu spekulieren, das<br />

Haus abreißen zu können. Wohl um<br />

Luxusapartments an gleicher Stelle<br />

zu errichten. Gegenüber Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

äußert er sich nicht, doch in Berliner<br />

Medien ist der Plan seit Jahren Thema.<br />

Einzig am Widerstand des Bezirks<br />

8<br />

scheiterte er bislang. Der erteilt nämlich<br />

keine Abrissgenehmigung. Allerdings ist<br />

es dem Bezirk bislang auch nicht gelungen,<br />

den Leerstand zu beenden. Das<br />

haben nun die Besetzer:innen geschafft.<br />

Zeit, sich von den Strapazen auf<br />

der Straße auszuruhen, bleibt Pinsel<br />

und den anderen Bewohner:innen bisher<br />

kaum. Es gibt einiges zu tun im<br />

frisch bezogenen Haus: Zimmer müssen<br />

zugeteilt werden. Ein Gemeinschaftsraum<br />

wird hergerichtet. Einige<br />

Bewoh ner:innen planen zudem, eine<br />

Fahrradwerkstatt aufzubauen. Pinsel<br />

denkt da rüber nach, eine Mediationsgruppe<br />

zu gründen – um mögliche


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Konflikte im Haus gar nicht erst hochkochen<br />

zu lassen. Auch das sogenannte<br />

Kiezbüro, eine zur Hauszentrale umgewandelte<br />

Einzimmerwohnung im<br />

Hochparterre, ist rund um die Uhr besetzt.<br />

Die Bewohner:innen sollen jederzeit<br />

eine:n Ansprechpartner:in haben.<br />

Dort herrscht reges Treiben. Drei<br />

Männer, allesamt frischgebackene Hausbewohner,<br />

schauen gerade eingetroffene<br />

Essensspenden durch: Mehrere Kisten<br />

mit Brötchen hat jemand vorbeigebracht,<br />

jetzt stapeln die sich neben Mandarinen<br />

und anderen Nahrungsmitteln.<br />

Vor dem Haus fahren derweil immer<br />

wieder Autos vor. Aus ganz Berlin<br />

und sogar darüber hinaus kommen<br />

Menschen mit Spenden. Gerade parkt<br />

ein junger Mann seinen Wagen und<br />

bringt Decken und eine Kaffeemaschine.<br />

Er habe im Fernsehen von dem Projekt<br />

erfahren und sich direkt ein paar<br />

Sachen geschnappt. „Vor ein paar Tagen<br />

kam jemand von einem Messeverleih<br />

aus Essen mit seinem Lkw angefahren<br />

und hat Küchen vorbeigebracht“,<br />

erzählt Aktivistin Valentina. Ein Hertha-BSC-Fanclub<br />

habe Rauchmelder<br />

für das gesamte Gebäude gespendet.<br />

Und was sagt die Nachbarschaft<br />

über die Zugezogenen? „Wir hatten<br />

eine Kundgebung zum Einzug. Da<br />

kamen Nachbar:innen und haben spontan<br />

gesprochen, haben sich bedankt<br />

und sich sehr gefreut, dass hier endlich<br />

wieder Leben in der Straße ist“, sagt<br />

Valentina. Die verbliebenen Mieter:innen<br />

würden sich ebenfalls über die neuen<br />

Bewoh ner:innen freuen und mit<br />

anpacken. Und auch Pinsel hat das<br />

Gefühl, gut aufgenommen zu werden.<br />

Maßnahme<br />

gegen Leerstand:<br />

Die<br />

Habersaathstraße<br />

40–48<br />

ist besetzt.<br />

Stadtgespräch<br />

Professionelle Unterstützung in der<br />

neuen Wohnung bekommen die<br />

Bewoh ner:innen durch einen sozialen<br />

Träger, der mit ins Haus eingezogen<br />

ist und den die Gruppe gemeinsam<br />

mit dem Bezirksamt ausgesucht hat.<br />

Mitarbeiter:innen von „Neue Chance<br />

Berlin“ sind in einem Büro im Haus für<br />

die Bewohner:innen erreichbar und<br />

beraten sie, wenn sie das wollen. Der<br />

Träger ist neben der Habersaathstraße<br />

auch am Berliner Housing-First-<br />

Modellprojekt beteiligt. „Für uns war<br />

wichtig, dass die Menschen hier selbstbestimmt<br />

leben können“, sagt Aktivistin<br />

Valentina: „Dass es zwar Unterstützungsangebote<br />

gibt, die aber nicht<br />

verpflichtend sind.“<br />

Wie es in Zukunft weitergeht in der<br />

Habersaathstraße, ist momentan noch<br />

völlig offen. Bezirk und Eigentümer<br />

verhandeln über das weitere Vorgehen<br />

und streiten vor Gericht über den Abriss.<br />

Nach Angaben des Bezirks können<br />

die Obdachlosen mindestens bis Mitte<br />

April bleiben.<br />

Und dann? Für Valentina steht fest:<br />

„Das Ding muss wieder fit gemacht<br />

werden und mit den Leuten, die hier<br />

jetzt wohnen, weiter bewohnt werden.<br />

Es kann nicht sein, dass das Haus abgerissen<br />

wird“, findet sie. „Das wird der<br />

nächste Kampf sein, den wir führen<br />

müssen.“ • Lukas Gilbert war beeindruckt<br />

davon, wie die<br />

Zusammenarbeit auf<br />

Augenhöhe Obdachlose<br />

und Aktivist:innen beflügelt.<br />

lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

ANKER<br />

DES<br />

LEBENS<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen<br />

Menschen Halt. Eine Art<br />

Anker für diejenigen, deren<br />

Leben aus dem Ruder<br />

gelaufen ist. Möchten Sie<br />

uns dabei unterstützen und<br />

gleichzeitig den Menschen,<br />

die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und<br />

Arbeit gefunden haben, helfen?<br />

Dann hinterlassen Sie etwas<br />

Bleibendes – berücksichtigen<br />

Sie uns in Ihrem Testament!<br />

Als Testamentsspender:in<br />

wird Ihr Name auf Wunsch<br />

auf unseren Gedenk-Anker<br />

in der Hafencity graviert.<br />

Ein maritimes Symbol für<br />

den Halt, den Sie den sozial<br />

Benachteiligten mit Ihrer<br />

Spende geben.<br />

Wünschen Sie ein<br />

persönliches Gespräch?<br />

Kontaktieren Sie unseren<br />

Geschäfts führer Jörn Sturm.<br />

Tel.: 040/32 10 84 03 oder<br />

E-Mail: joern.sturm@hinzundkunzt.de<br />

9


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Die unendliche<br />

Geschichte<br />

An einem leer stehenden Altbau in Bergedorf beißen sich Stadt<br />

und Justiz die Zähne aus. Dabei könnten hier in zentraler Lage<br />

mehrere Familien ein neues Zuhause finden.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

10


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Das Eckhaus an der<br />

Alten Holstenstraße und<br />

dem Reetwerder verfällt<br />

seit fast vier Jahren.<br />

Blick vom Bahnübergang in die Alte Holstenstraße im Jahr 1935. Vorne links:<br />

das heute leer stehende Geschäfts- und Wohnhaus an der Ecke zum Reetwerder<br />

FOTO S. 11 OBEN: WWW.HAMBURG-BILDARCHIV.DE<br />

Wir haben damals alles<br />

verloren. Möbel, Kleidung<br />

und die Spielsachen<br />

meiner Kinder.<br />

Alles“, sagt Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer<br />

Dorel. Genervt winkt er mit der Hand<br />

ab. An die Umstände, unter denen er<br />

seine alte Wohnung in Bergedorf verlor,<br />

möchte er am liebsten nicht mehr zurückdenken.<br />

Nur zwei Tüten mit den<br />

wichtigsten Unterlagen habe er nach<br />

einem Kabelbrand aus dem Gebäude<br />

retten können. Das wurde nach der<br />

überraschenden Räumung umgehend<br />

versiegelt. Dorel und seine Familie landeten<br />

in einer städtischen Wohnunterkunft.<br />

Die Hoffnung, vom Hab und<br />

Gut je etwas wiederzusehen oder eine<br />

Entschädigung zu erhalten, hat der gebürtige<br />

Rumäne längst aufgegeben.<br />

Das alles passierte im Mai 2018.<br />

Seitdem ist es still geworden im und um<br />

den Reetwerder 3. Dabei war der Altbau<br />

einst ein schmuckes Wohn- und<br />

Geschäftshaus. Doch sowohl der Eigentümerin<br />

als auch der Vermieterin war<br />

das offensichtlich egal. Sie hatten einen<br />

Weg gefunden, gut zu verdienen, ohne<br />

sich um die Immobilie zu kümmern:<br />

Viel zu viele, meist aus Rumänien stammende,<br />

Menschen lebten dort und zahlten<br />

horrende Mieten pro Zimmer. Das<br />

zumindest sind die Vorwürfe vor Gericht.<br />

Verfahren wegen Mietwuchers<br />

sind anhängig. Zudem versucht die<br />

Stadt, die Kosten der Ersatzunterbringung<br />

einzuklagen. 160.000 Euro fordert<br />

allein das Jobcenter von der Vermieterin<br />

zurück.<br />

Das Gebäude wiederum gilt seit<br />

dem Kabelbrand als unbewohnbar.<br />

Deswegen falle es auch nicht unter das<br />

Wohnraumschutzgesetz, argumentiert<br />

der Bezirk. Er sieht keinen Handlungsspielraum.<br />

Ein Leerstand, der kein<br />

Leerstand ist? Nach dem Gesetz ist<br />

diese Kuriosität möglich. Die baulichen<br />

Mängel im Reetwerder 3 führen dazu,<br />

dass Wohnraum in diesem Fall nicht<br />

zweckentfremdet wird, sondern nach<br />

Behördenlogik gar nicht existiert.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Leserin Friederike<br />

ärgert das. Als Nachbarin beobachtet<br />

sie seit Jahren den Leerstand. Vergangenen<br />

Sommer wandte sie sich an die<br />

Redaktion, als sie Entrümpelungsarbeiten<br />

im Haus beobachtete. Für einen<br />

Moment habe sie gehofft, dass neue<br />

Nachbar:innen einziehen. Aber dann<br />

gingen die Arbeiten nicht weiter. „Ich<br />

dachte wirklich, dass endlich mit der<br />

Sanierung begonnen wird“, sagt sie.<br />

Auch den Bezirk wurmt der Leerstand<br />

in prominenter Lage. „Es wäre in<br />

unserem Interesse, wenn dort wieder<br />

Menschen wohnen könnten“, heißt es<br />

aus dem Bergedorfer Rathaus. Warum<br />

nach knapp vier Jahren immer noch<br />

nicht saniert wird, kann Rechtsanwalt<br />

Marc Meyer von „Mieter helfen Mietern“<br />

nicht nachvollziehen.<br />

Der 60-Jährige ist Experte: Seit<br />

Jahren zeigt er Leerstände in Hamburg<br />

an. Er brachte beispielsweise den Stein<br />

ins Rollen, als ein internationaler<br />

Immo bilienhändler in der Jarrestadt<br />

und in Winterhude rund 100 Wohnungen<br />

leer stehen ließ. Nach Medienberichten<br />

– unter anderem auch von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> – griff das Bezirksamt<br />

durch und verhängte Bußgelder. Jetzt<br />

teilte das Amt auf Anfrage mit, dass<br />

11


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

das „Unternehmen seine Geschäftsaktivitäten<br />

in Hamburg nunmehr aufgegeben<br />

und seinen Bestand an ein<br />

Unternehmen verkauft hat, in dessen<br />

Interesse langfristige Mietverhältnisse<br />

liegen“.<br />

Neue Eigentümer:innen, das wäre<br />

sicherlich auch für das Haus am Reetwerder<br />

die beste Lösung. Daran dürfte<br />

auch der Bezirk Interesse haben,<br />

schließlich sucht der seit Jahren geeignete<br />

Räume für eine Tagesaufenthaltsstätte<br />

für Obdachlose. Im Reetwerder 3<br />

wäre Platz: Neben viel Wohnraum bietet<br />

die Immobilie auch rund 500 Quadratmeter<br />

Gewerbefläche. Anwalt<br />

Meyer hegt große Sympathie für das<br />

Vorgehen der Besetzer:innen eines seit<br />

Jahren leer stehenden Hauses in Berlin<br />

(siehe Seite 6). Am Haus im Reetwerder 3<br />

wären die Sicherheitsmängel derzeit<br />

aber wohl zu groß.<br />

Dass die beseitigt werden, liegt offenbar<br />

nicht mehr in der Hand der<br />

Hauseigentümerin. Eine Zwangsverwaltung<br />

wurde vor dreieinhalb Jahren<br />

durch die Bank eingesetzt, sogar eine<br />

Zwangsversteigerung steht im Raum.<br />

Für den Bezirk ein Hemmnis. Denn<br />

Zwang auf eine Zwangsverwaltung<br />

auszuüben, das sei nun mal nicht möglich,<br />

heißt es aus dem Rathaus.<br />

Leerstand in Hamburg<br />

Seit 40 Jahren besteht in Hamburg ein Zweckentfremdungsverbot für Wohnraum.<br />

Wenn Wohnungen unbegründet leer stehen, drohen hohe Bußgelder. Inzwischen<br />

beträgt die Leerstandsquote nur noch 0,5 Prozent. „Einzelfälle des ungerechtfertigten<br />

Wohnungsleerstandes werden wir mit allen Instrumenten des Wohnraumschutzgesetzes<br />

konsequent verfolgen“, teilt die Stadtentwickungsbehörde auf Nachfrage<br />

mit. Trotzdem gibt es Eigentümer:innen, die der Verwaltung geradezu auf der Nase<br />

herum tanzen: 2019 berichtete Hinz&<strong>Kunzt</strong> über einen Leerstand in der Sommerhuder<br />

Straße 4 in Altona. Jahrelang passierte nichts. Erst sieben Tage vor Ablauf der<br />

dreijährigen Baugenehmigung gab der Eigentümer den Baubeginn bekannt.<br />

„Dass sich Eigentümer:innen gegen<br />

Vermietung, Sanierung und Zwangsversteigerung<br />

wehren, ist in diesem<br />

Rechtsstaat trotz bestehender Wohnungsnot<br />

letztlich zähneknirschend<br />

hinzunehmen“, kommentiert Anwalt<br />

Meyer. „Auch das Grundgesetz schützt<br />

Privateigentum, kennt aber leider kein<br />

Grundrecht auf Wohnen.“ Damit sich<br />

die Wiedervermietung dennoch nicht<br />

zu arg in die Länge zieht, sei jetzt ein<br />

konsequentes und schneidiges Vorgehen<br />

der Behörden erforderlich.<br />

Darüber hinaus laufen auch die<br />

Verfahren gegen die Vermieterin. Ein<br />

Hoffnungsschimmer? Eher nicht. Laut<br />

Staatsanwaltschaft ist ein Ende nicht<br />

absehbar. Es habe „immer wieder erhebliche<br />

Zeit in Anspruch genommen“,<br />

von anderen Behörden notwendige<br />

Unterlagen zu erhalten, erklärt eine<br />

Sprecherin auf Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Nachfrage.<br />

Akten „konnten teilweise nicht oder erst<br />

mit erheblicher Verzögerung zur Verfügung<br />

gestellt werden“. Zudem sei offen,<br />

„mit welchem Ergebnis die Ermittlungen<br />

abgeschlossen werden können“.<br />

Damals seien sie froh gewesen, ein<br />

Dach über dem Kopf zu haben, sagt<br />

Dorel. Sich rechtlich gegen die Abzocke<br />

zu wehren, wäre ihm nie in den Sinn<br />

gekommen. Dass jetzt, nach so langer<br />

Zeit, noch jemand in das Haus zurückkehrt,<br />

könne er sich nicht vorstellen.<br />

Dank der Hilfe von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

fanden Dorel und seine Familie inzwischen<br />

ein neues Zuhause. Dort fühlt er<br />

sich endlich pudelwohl. Dass sein altes<br />

Wohnhaus immer noch leer steht, will<br />

aber auch ihm nicht in den Kopf. Etwa<br />

zehn Familien könnten dort problemlos<br />

leben. „Es ist ein schönes Haus“, sagt<br />

Dorel. •<br />

jonas.füllner@hinzundkunzt.de<br />

Leichte Sprache:<br />

Nachbarin Friederike im Gespräch mit Redakteur Jonas Füllner.<br />

Es gibt den Text<br />

auch in Leichter<br />

Sprache.<br />

Scannen Sie<br />

den QR-Code<br />

mit dem Handy.<br />

Dann klicken Sie auf den Link.<br />

Der Text in Leichter Sprache öffnet<br />

sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />

Webseite www.hinzundkunzt.de und<br />

suchen dort nach „Leichte Sprache“.<br />

www.huklink.de/<strong>348</strong>-leichte-sprache<br />

12


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Stadtgespräch<br />

Beratung<br />

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Sorgt für Ärger: Ein Zaun<br />

gegen Obdachlose<br />

Streit um einen Zaun<br />

Auf St. Pauli soll ein Zaun Obdachlose vom<br />

Gelände eines Gymnasiums fernhalten.<br />

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A<br />

nwohnerin Isabelle Koppelkamp<br />

ist fassungslos. Mitte Januar<br />

hätten Bauarbeiter damit begonnen,<br />

einen Zaun um einen<br />

Vorbau in der Wohlwillstraße zu bauen,<br />

unter dem sich regelmäßig Obdachlose<br />

aufgehalten haben. Dabei handele es sich<br />

bei dem Stück Gehweg um eine der wenigen<br />

überdachten Flächen auf St. Pauli.<br />

Der Platz liegt auf dem Gelände des<br />

dortigen Gymnasiums. Schulleiter Frank<br />

Berend schildert seine Sicht im Gespräch<br />

mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Seit er 2020 mit seiner<br />

Schule die Räumlichkeiten der ehemaligen<br />

Handelsschule bezogen hat, hätte er mit<br />

den Obdachlosen zu tun gehabt – sie aber<br />

toleriert. Die Lage habe sich aber zugespitzt,<br />

insbesondere weil offen Drogen konsumiert<br />

worden seien. In einem Fall sei es<br />

zu einem Angriff auf den Hausmeister<br />

gekommen. Berend sieht sich vor einem<br />

Dilemma: „Der Zaun ist eine Entscheidung,<br />

die ich nicht gerne treffe.“ Im Sinne der<br />

Schüler:innen und Mitarbeiter:innen habe<br />

er sich aber nicht anders zu helfen gewusst.<br />

Während Obdachlosigkeit und offener<br />

Drogenkonsum auf ganz St. Pauli zunehmen,<br />

fehle es an Anlaufstellen und Hilfsangeboten,<br />

beklagt Berend. „Würde die<br />

TEXT: LUKAS GILBERT; FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

13<br />

Politik da mehr Mittel bereitstellen, käme<br />

ich nicht in die Situation, die Menschen<br />

wieder einmal weiterschicken zu müssen.“<br />

„Ein Zaun kann nie eine Lösung sein<br />

und ist ein schlimmes Signal. Obdachlose<br />

zu vertreiben – das geht nicht“, sagt<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.<br />

In dem Zaun sieht er aber auch<br />

einen Hilferuf. „Die Verelendung der Menschen<br />

auf den Straßen nimmt zu. Das führt<br />

immer öfter zu Konflikten. Kein Wunder.“<br />

Er sieht die politisch Verantwortlichen in<br />

der Pflicht, sich dem anzunehmen. Dafür<br />

müssten alle Beteiligten an einen Tisch.<br />

Außerdem müsse die Stadt dezentrale Unterkünfte<br />

schaffen, die so ausgestaltet sind,<br />

dass die Menschen diese auch annehmen.<br />

Gemeinsam an einem Tisch sitzen einige<br />

Beteiligte nun zumindest. Wenige Tage<br />

nachdem der Zaun aufgestellt und von<br />

Unbekannten wieder teilweise demontiert<br />

wurde, trafen sich Schulleiter Berend,<br />

Anwoh ner:innen und Stephan Karrenbauer,<br />

um über den Umgang mit der zunehmenden<br />

Verelendung auf St. Paulis Straßen<br />

zu sprechen. Weitere Gespräche sollen<br />

folgen. Was dabei herauskommt: offen. •<br />

lukas.gilbert@hinzundkunzt.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Zahlen des Monats<br />

Initiative<br />

Helfen<br />

statt Einsperren<br />

149<br />

Menschen hat die Berliner Initiative „Freiheitsfonds“ seit Anfang Dezember bis zum Redaktionsschluss<br />

dieser Ausgabe (20. Januar, die Red.) aus dem Gefängnis geholt. Die Inhaftierten saßen eine<br />

sogenannte Ersatz freiheitsstrafe ab, weil sie wiederholt ohne Fahrschein in Bus oder Bahn<br />

erwischt worden waren und anschließende Geldbußen nicht bezahlen konnten. Weil sie das für<br />

unsinnig hält, sammelte die Initiative bislang mehr als 160.000 Euro Spenden ein und konnte<br />

damit die Geldbußen von 149 Betroffenen übernehmen.<br />

Ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn zu fahren gilt in Deutschland als Straftat. Grundlage dafür<br />

ist Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs, „Erschleichen von Leistungen“ – ein 1935 eingeführter<br />

Straftatbestand, mit dem die Nazis einen damals gängigen Automatenbetrug stoppen wollten.<br />

Bestraft wird heutzutage allerdings kein klassischer Betrug, argumentieren die Initiator:innen vom<br />

Freiheitsfonds. Wer kein Geld für ein Ticket habe, der könne auch keine höhere Strafe zahlen.<br />

Im Zuge einer gemeinsamen Recherche des „ZDF Magazin Royale“ des Fernsehsatirikers<br />

Jan Böhmermann und der Onlineplattform „FragdenStaat“ förderte der Freiheitsfonds zutage,<br />

dass im Juli 2021 geschätzt 850 Menschen bundesweit eine derartige Strafe absaßen – aktuellere<br />

und genaue Daten liegen nicht vor. Die Initiative verweist zudem auf eine Studie, der zufolge fast<br />

ausschließlich Menschen mit wenig Geld hinter Gittern landen: 87 Prozent der Inhaftierten<br />

waren arbeitslos, mehr als jede:r Siebte hatte keinen festen Wohnsitz. Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Recherchen<br />

zeigen: Weil die Hansestadt aufgrund von Corona Ersatzfreiheitsstrafen aufschiebt, saßen<br />

Mitte Januar nur noch neun Menschen wegen „Erschleichen von Leistungen“ hinter Gittern.<br />

Drei Menschen hatte der Freiheitsfond zuvor aus der Justizvollzugsanstalt „freigekauft“. Von den<br />

verbliebenen neun Insassen waren sieben obdachlos.<br />

Die Absurdität: Ersatzfreiheitsstrafen kommen die Allgemeinheit teuer zu stehen. „Ein Tag Haft<br />

kostet den Steuerzahler um die 150 Euro, von den volkswirtschaftlichen Folgen bei Verlust der<br />

Wohnung oder Arbeit infolge einer Haftstrafe ganz zu schweigen“, kritisierte bereits 2018<br />

Hamburgs damaliger Justizsenator Till Steffen. Der Grünen-Politiker hatte sich zum Ziel gesetzt,<br />

das Fahren ohne Ticket lediglich als Ordnungswidrigkeit zu behandeln. Sein Vorstoß zur bundesweiten<br />

Gesetzesänderung scheiterte damals allerdings am Widerstand der Großen Koalition.<br />

Beim HVV hingegen gehört „Schwarzfahren“ inzwischen der Vergangenheit an. Weil sich<br />

vermehrt Menschen an dem Begriff störten, suchte der Verkehrsverbund vergangenen Sommer<br />

nach Alternativen – allerdings nur bei der Wortwahl: Am Bußgeld fürs „Fahren ohne Fahrschein“<br />

hält das Unternehmen weiterhin fest. •<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Weitere Informationen zur Initiative: www.freiheitsfonds.de<br />

15


Fliegen lernen<br />

Ich kann an zwei Händen abzählen, wie viele gute Träume ich in<br />

30 Jahren hatte. Das waren zwei Stück: ein Sextraum und einmal<br />

bin ich geflogen. Da hatte ich das Gefühl, ich will nie wieder<br />

aufwachen. Das war schöner als Sex. Das war schöner als alles …<br />

Ich lag auf dem Bauch, Arme nach hinten. Ich war vielleicht<br />

einen Meter hoch. Ich musste erst lernen, wie ich fliege. Dann hab<br />

ich’s gecheckt und es gab dieses Gefühl von – wow – ich hab die<br />

Kontrolle. Es war wie echt.<br />

Eigentlich versuche ich seit 20 Jahren, meine Träume zu<br />

unterdrücken. Denn seitdem ich vielleicht fünf Jahre alt bin, habe<br />

ich Albträume. Mich verfolgen irgendwelche Schattenwesen.<br />

Es geht immer um Leben und Tod, ich bin auf der Flucht, es ist<br />

immer Horror. Würdest du schlafen wollen, wenn du jedes Mal<br />

schweißgebadet aufwachst mit Angst? Deshalb hasse ich’s zu<br />

schlafen. Ich will – nicht – schlafen!<br />

Wenn ich einen Joint rauche oder so, träume ich nicht mehr.<br />

Ich weiß zwar, dass es nicht das Problem löst, aber es behebt es<br />

für eine Zeit.<br />

Auf der Straße habe ich gar nicht geträumt. Ich hab neben<br />

Ratten geschlafen, in Kellern … Da betäubst du dich, bis du weg-<br />

fällst und am nächsten Morgen aufwachst.<br />

Lenny, 30, hat zum Glück nur ganz kurz auf der<br />

•<br />

Straße gelebt.


Wovon<br />

träumst du?<br />

Mauricio Bustamante hat Obdachlose gefragt,<br />

wovon sie im Schlaf träumen. Die surrealen Welten<br />

hat der Fotograf in Bilder gegossen.<br />

INTERVIEWS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

TEXT: ANNETTE WOYWODE


Wärme und blanke Panik<br />

Vor sechs Monaten habe ich meine Wohnung<br />

verloren. Seitdem habe ich diesen Traum:<br />

Ich spüre eine liebevolle Umarmung von hinten,<br />

ich merk auch die Wärme, am Po, an den Beinen,<br />

so wie Löffelchenstellung. Aber dann werde ich<br />

auf einmal … werde ich auf einmal zugedrückt.<br />

Das ist sehr seltsam. Ich bekomme Angst, da<br />

ist Gewalt. Da kommt eine Hand, und die drückt<br />

mir den Mund zu und ich gerate in Panik. Es ist<br />

beides gleichzeitig: Von hinten ist wirklich Wärme,<br />

Geborgenheit. Von vorne kommt mit Karacho<br />

die Gewalt, sodass ich Erstickungsängste kriege.<br />

Und dann wache ich auf, meistens habe ich mich<br />

dann schon gewälzt, und ein Mal hab ich auch<br />

geweint, weil der Traum wirklich sehr heftig war.<br />

Die Wärme war auf jeden Fall weiblich.<br />

Bei der Kälte bin ich mir nicht sicher. Das kann<br />

auch ein Dämon sein.<br />

Ich weiß nicht, wie ich den Traum zuordnen soll.<br />

Mir ist in der Hinsicht nie was passiert, aber ab und<br />

zu habe ich das Gefühl, dass das vielleicht aus der<br />

Kindheit kommt. Das ist so meine Spekulation.<br />

Swen, 47, lebt inzwischen seit eineinhalb Jahren<br />

•<br />

auf der Straße.


Eine Wohnung und großer Stolz<br />

Als ich noch in Berlin Platte gemacht habe, habe ich geträumt, ich hätte eine Wohnung. Meine Freunde sind da. Wir haben Party<br />

gemacht, und alle haben gratuliert, dass ich habe geschafft so was. Meine damalige Freundin war auch dabei. Sie sagte: „Du hast gute<br />

Wohnung und du hast verdient.“ Ich bin richtig stolz auf mich gewesen. In dem Traum kam auch Monti vor. Der Hund gehört einem<br />

Jungen, mit dem ich in Berlin Platte gemacht habe. Der Hund ist so wie mein Schicksal. Er verfolgt mich. Gute und schlechte Dinge<br />

passieren, und er ist immer dabei. Leider bin ich dann plötzlich aufgewacht – und war wieder in meinem Albtraum. Auf der Platte.<br />

•<br />

Viktor, 45, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> in Poppenbüttel und ist gerade in eine WG im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus eingezogen.<br />

Geldsegen und warme Milch<br />

Ich hab viele Probleme mit Geld. Im Traum wurde mein Omahund krank<br />

und musste zum Tierarzt. Deswegen wollte ich mir von einem Kumpel<br />

5 Euro leihen. Er hat sie mir gegeben. Gerade wollte ich erzählen, warum<br />

ich diese 5 Euro brauche, da sehe ich, dass in einem Zimmer auf dem<br />

Fuß boden 5 Euro liegen. Die hab ich mir genommen. Dann sehe ich:<br />

Da liegen überall 50-Euro- und 10-Euro-Scheine! Ich habe gesagt:<br />

„Janek, nimm schnell alles, was du schaffst!“ Ich hab mir vier oder fünf<br />

Scheine genommen. Er auch. Aber da lag noch mehr. Ich hab mich umgeguckt,<br />

ich wollte aufpassen, vielleicht hatte jemand das Geld verloren<br />

und sucht danach, sodass wir es gleich hätten zurückgeben müssen.<br />

Da waren auch 500-Euro-Scheine. Ich habe Janek das Geld gezeigt und<br />

gesagt: „Das ist deins!“ Aber er wollte nicht. Ich habe noch mal gesagt:<br />

„Das ist deins! Du hast mir 5 Euro geliehen und mir geholfen, das habe<br />

ich nicht vergessen, darum bin ich auch da für dich.“<br />

Dann waren wir bei ihm zu Hause und wollten ein Glas Milch trinken.<br />

Frische Milch von der Kuh. Noch warm. Aber die Milch war schon kaputt<br />

und stank ohne Ende. Da haben wir uns vorgestellt, dass jemand kommt<br />

und sofort den ekligen Geruch riecht. Wir haben so Spaß gehabt! Ja. Wir<br />

haben gelacht.<br />

Als ich aufgewacht bin, dachte ich, ich hätte zehn Stunden geschlafen.<br />

Aber es waren nicht mehr als 20 Minuten.<br />

Piotr war beim Fotoshooting 28 Jahre alt. Er<br />

•<br />

hat mehr als<br />

14 Jahre auf der Straße gelebt und ist dort inzwischen verstorben.<br />

19


D<br />

ie Idee entstand bei einem Fototermin für<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Damals wollten der Künstler<br />

Michael Batz und Hinz&Künztler:innen mit<br />

einer Lichtinstallation in der Hamburger<br />

Innenstadt die Not obdachloser Menschen in den Fokus<br />

rücken (siehe H&K Nr. 313, März 2019). Ein Teilnehmer –<br />

Norbert – berichtete, wie anstrengend es sei, die Nächte im<br />

Freien zu überstehen. Die Kälte setze ihm zu, immer wieder<br />

würden Menschen an der Platte vorbeikommen, er habe<br />

ständig Angst überfallen zu werden. Der Fotograf Mauricio<br />

Bustamante fragte den Mann: „Träumst du anders, seitdem<br />

du auf der Straße schläfst?“ Darauf wusste Norbert keine<br />

Antwort. Er konnte sich an keinen Traum erinnern. Er fühle<br />

sich ständig kaputt und übermüdet, so als würde er gar nicht<br />

schlafen. Die Unruhe raube ihm den Schlaf.<br />

Seitdem stellte Mauricio Obdachlosen die Frage nach<br />

ihren Träumen immer mal wieder. Manche kehrten ihr<br />

Innerstes nach außen und ließen den Fotografen teilhaben an<br />

ihrer Angst, sich dem Schlaf hinzugeben. Sie erzählten von<br />

Albträumen, aber auch von traumhaften Glücksmomenten.<br />

Mauricio überlegte, wie er die Träume der Menschen<br />

visualisieren könnte, und er begann, aus jeder Erzählung<br />

eine fantasiereiche Projektion zu entwickeln. Seine Protagonisten<br />

bat er anschließend in sein Studio. Dort fotografierte<br />

er sie vor der Lichtcollage und ließ sie so mit ihrer Traumwelt<br />

verschmelzen.<br />

20


Unser Rat<br />

zählt.<br />

879 79-0<br />

Beim Strohhause 20<br />

Mieterverein zu Hamburg<br />

im Deutschen Mieterbund<br />

20097 Hamburg<br />

Fan werden<br />

mieterverein-hamburg.de<br />

Trauern<br />

ist<br />

heilsam.<br />

Herz, Wolf<br />

und ein langer Weg<br />

In meinem Traum bin ich einen Weg langgegangen.<br />

Der Mond hat geschienen und ist irgendwann zu<br />

einem Herz geworden. Plötzlich hat sich ein Wolf<br />

gezeigt. Ein Comicwolf, in Weiß-Grau. Ich hab nur den<br />

Kopf gesehen. Und über allem ist ein riesiger Regen-<br />

bogen erschienen. Wo das gewesen sein könnte,<br />

kann ich nicht sagen. Dann bin ich aufgewacht.<br />

Ich hatte ein richtig gutes Gefühl! Dieser Traum hat<br />

mich positiv durch den Tag gebracht. Normalerweise<br />

kann ich mich an Träume gar nicht erinnern.<br />

Patrick, 39, hat gelegentlich Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkauft,<br />

•<br />

war aber lange nicht mehr im Vertrieb.<br />

trostwerk.de<br />

andere bestattungen<br />

040 43 27 44 11<br />

Frauen konnte Mauricio nicht für sein Fotoprojekt<br />

gewinnen. „Ich bin ein Mann. Das Thema ist zu intim<br />

und privat“, glaubt der 55-Jährige. Wer von einem<br />

Traum erzählt, müsse ihm vertrauen – und zusätzlich<br />

bereit sein, das Fotostudio zu besuchen.<br />

Wie elementar es ist, einen sicheren und ruhigen<br />

Ort zum Schlafen zu haben – das wurde Mauricio<br />

Bustamante durch sein Traumprojekt einmal mehr<br />

bewusst.<br />

Hinz&Künztler Norbert, der ihn auf die Idee<br />

dazu gebracht hatte, ist inzwischen verstorben. •<br />

annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />

21<br />

WIR SIND VON HIER.<br />

BIZ BURALIYIZ.<br />

TÜRKISCH-DEUTSCHES LEBEN 1990.<br />

Fotografien von Ergun Çağatay<br />

TÜRK-ALMAN YAŞAMI 1990.<br />

Ergun Çağatay Fotoğrafları<br />

04.02. – 06.06.<strong>2022</strong><br />

shmh.de


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Meldungen<br />

Politik & Soziales<br />

Omikron-Welle erreicht städtische Unterkünfte<br />

Weiterhin Impfungen für Obdachlose<br />

Obdachlose mit und ohne Papiere haben weiter jeden Mittwoch die Möglichkeit,<br />

sich gegen Corona impfen zu lassen. 2900 Erstimpfungen zählte die Sozialbehörde<br />

allein in der Tagesaufenthaltsstätte Markthalle, hinzu kamen 260 Zweit- und<br />

650 Auffrischungs- oder Optimierungsimpfungen (Stand 20.1.). Letztere gewinnen<br />

an Bedeutung, da viele Obdachlose vergangenes Jahr mit dem Vakzin von<br />

Johnson & Johnson geimpft worden sind. Dieses sollte mit nur einer Dosis vollständigen<br />

Schutz vor einer Corona-Infektion bieten. Doch seit Kurzem gelten Betroffene<br />

ohne zusätzliche Impfung mit einem mRNA-Impfstoff nicht mehr als vollständig<br />

geimpft. Derweil sorgt die vierte Coronawelle auch in den städtischen<br />

Unterkünften für Unruhe: Mitte Januar waren 35 Nutzer:innen des Winternotprogramms<br />

infiziert, in allen Unterkünften für Wohnungslose lag die Zahl der<br />

Infizierten bei insgesamt 558. JOF/UJO<br />

•<br />

Obdachloser tot unter Brücke aufgefunden<br />

Wieder starb ein Mensch auf der Straße<br />

Anfang Januar ist erneut ein Obdachloser auf der Straße in Hamburg verstorben.<br />

Eine Anwohnerin hatte den Mann leblos unter der Eisenbahnbrücke am Schulterblatt<br />

entdeckt. Rettungskräfte konnten nur noch den Tod des 54-Jährigen<br />

feststellen, so die Polizei. Laut Obduktion ist er an einer Lungenentzündung<br />

verstorben. „Alle Menschen brauchen ein festes Dach über dem Kopf“, sagt<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. „Niemand hat es verdient,<br />

auf der Straße zu sterben.“ Nach Angaben des städ tischen Unterkunftsbetreibers<br />

Fördern & Wohnen nutzten Mitte Januar rund 550 Menschen das Winternotprogramm.<br />

Bei der letzten offiziellen Zählung wurden in Hamburg aber fast 2000<br />

Obdachlose erfasst. Mit anderen Worten: Die meisten Betroffenen nutzen das<br />

Angebot nicht. Fachleute fordern deshalb seit Jahren kleinere Unterkünfte und<br />

mehr Einzelzimmer. Derzeit stehen drei Großunterkünfte bereit, in denen die<br />

Menschen sich mit bis zu drei anderen das Zimmer teilen müssen. JOF/UJO<br />

•<br />

Spendenaktion<br />

Gerichtsbeschluss<br />

Hotelzimmer statt Straße!<br />

Vorbildlicher FC St. Pauli: 75.000<br />

Euro hat der Verein bei seiner Aktion<br />

„Zimmer statt Straße“ gesammelt.<br />

Die Spenden fließen an fünf Hilfsorganisationen,<br />

die obdach- und<br />

wohnungslose Menschen in Hotels<br />

unterbringen. „Den Betroffenen so<br />

eine Zwischenstation zu bieten, kann –<br />

anders als Zäune und Verdrängung –<br />

ein wirksames Mittel gegen Obdachlosigkeit<br />

sein“, so der Club. Genau<br />

das haben vergleichbare Projekte<br />

im vergangenen Winter gezeigt. LG<br />

•<br />

Kein Knast für Knöllchen<br />

Mehr als 7300 Euro Bußgeld: Das<br />

verlangte die Stadt Dortmund von<br />

einem Obdachlosen wegen Bettelns<br />

und Verstößen gegen die Coronaverordnung.<br />

Weil der Mann nicht<br />

zahlte, wollte die Stadt Erzwingungshaft<br />

anordnen lassen. Das wies das<br />

Amtsgericht Dortmund zurück. Der<br />

Obdachlose – ein drogenkranker<br />

Rollstuhlfahrer – sei nicht zahlungsunwillig,<br />

sondern habe nicht das<br />

Geld, die Bußen zu bezahlen. UJO<br />

•<br />

Wortlaut Gerichtsbeschluss: t1p.de/dney<br />

Mindestlohn-Erhöhung<br />

12 Euro schon ab Oktober?<br />

Die von der SPD versprochene Mindestlohnerhöhung<br />

kommt: Ab Oktober<br />

soll die Lohnuntergrenze auf<br />

12 Euro brutto die Stunde steigen, so<br />

ein Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums.<br />

Damit würden rund<br />

6,2 Millionen Geringverdienende<br />

mehr Lohn bekommen als zuvor.<br />

Derzeit liegt die Lohnuntergrenze<br />

in Deutschland bei 9,82 Euro, ab<br />

Juli steigt sie auf 10,45 Euro. Laut<br />

Gesetzentwurf fließen mit den steigenden<br />

Löhnen 700 Millionen Euro<br />

zusätzlich in die Sozialkassen. Auf<br />

Arbeitgeber:innen kämen 1,63 Milliarden<br />

Euro höhere Kosten zu. Die<br />

nächste Mindestlohn-Erhöhung<br />

ist dem Gesetzentwurf zufolge für<br />

Anfang 2024 geplant. UJO<br />

•<br />

Einkommensverteilung<br />

Die Schere geht auseinander<br />

Weltweit sind mehr als 160 Millionen<br />

Menschen zusätzlich seit Beginn der<br />

Coronapandemie in Armut gerutscht.<br />

Derweil haben die Reichsten ihr<br />

Vermögen verdoppelt. Das sind die<br />

Ergebnisse einer neuen Studie der<br />

Hilfsorganisation Oxfam. Auch in<br />

Deutschland habe die „sehr starke<br />

Konzentration der Vermögen“ zugenommen.<br />

Gleichzeitig gelten hierzulande<br />

13 Millionen Menschen als<br />

arm – ein Höchststand. Der Sozialverband<br />

Deutschland fordert eine<br />

einmalige Vermögensabgabe, um<br />

die Kluft zu verringern und Corona-<br />

Mehrausgaben zu stemmen. „Um<br />

den Sozialstaat zu stärken und zu<br />

finanzieren, müssen große Unternehmen,<br />

Digitalkonzerne und sehr reiche<br />

Menschen mehr bezahlen.“ UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

FOTO: ISTOCK/ALVAREZ<br />

22


Arbeit im<br />

Wandel<br />

35 Jahre lang brav den Job machen?<br />

Das ist die Arbeitswelt von gestern!<br />

Doch wie könnten Alternativen<br />

aus sehen? Uwe Lübbermann (S. 24)<br />

lebt mit Premium-Cola den Kollektiv-<br />

Spirit. Ein Hotel in Hamburg bietet<br />

die Viertagewoche bei vollem Lohn<br />

(S. 28). Der Pädagoge Felix Quadflieg<br />

erklärt, warum Müßiggang unterschätzt<br />

wird (S. 32). Dazu: Zahlen zum Thema<br />

Arbeit (S. 30).


Provokateur und<br />

Angsthase<br />

Uwe Lübbermann will die Wirtschaft verbiegen. Mit Cola.<br />

Unter anderem. Seine Vision ist längst zu seiner Mission geworden.<br />

TEXT: REGINE MARXEN<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF (OBEN), PHILIPP MEUSER<br />

24


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Arbeit<br />

Uwe Lübbermann lebt<br />

Kapitalismus anders.<br />

K<br />

ann Limo die Welt verbessern?<br />

Uwe Lübbermann<br />

meint: ja. Vor rund 20 Jahren<br />

hat er das Getränke-<br />

Unternehmen „Premium Cola“ gegründet.<br />

Der Cola folgten schnell weitere<br />

Drinks. So weit, so normal. Wäre da<br />

nicht die Tatsache, dass der Betrieb als<br />

Kollektiv agiert – und so ziemlich alle<br />

gängigen Spielregeln des Arbeitslebens<br />

auf den Kopf stellt. „Die Wirtschaft ist<br />

in meinen Augen unnormal“, sagt der<br />

45-jährige Lübbermann. „Sie dient nur<br />

der Umverteilung von Besitz von Arm<br />

zu Reich.“ Das Premium-Kollektiv soll<br />

beweisen: Kapitalismus könne auch anders<br />

funktionieren.<br />

Zum Kollektiv gehören, nach seiner<br />

Aussage, rund 180 stimmberechtigte<br />

Mitglieder. Alle nehmen Einfluss auf<br />

unter nehmerische Gesamtentscheidungen.<br />

Die werden grundsätzlich konsensdemokratisch<br />

gefällt, über ein Board im<br />

Internet. Jeder und jede Mitarbeitende<br />

erhält einen einheitlichen Stundenlohn<br />

von 18 Euro mit Option auf Zuschläge,<br />

beispielsweise für Menschen mit Kindern.<br />

Arbeitsort und -zeit werden<br />

eigenständig bestimmt. Das gilt auch<br />

für Uwe Lübbermann, der die Rolle<br />

des zentralen Moderators einnimmt.<br />

Viele würden ihn „Chef“ nennen.<br />

Wer das tut, wird von ihm sofort korrigiert.<br />

„Ich bin kein Chef“, sagt er. „Ich<br />

leite von meiner Rolle her nicht das<br />

Recht ab, über andere zu bestimmen.“<br />

Er ist allerdings eine Kontrollinstanz<br />

im Kollektiv, hält die Markenrechte<br />

und hat die Hoheit über Konten und<br />

Zahlungen. Auf dem Papier ist Uwe<br />

Lübbermann Geschäftsführer. Er darf<br />

in einer Notsituation, wie etwa einem<br />

Produktrückruf oder in einer Pattsituation,<br />

in der dem Kollektiv Entscheidungsunfähigkeit<br />

droht, Entscheidungen<br />

alleine fällen. Dreimal, sagt<br />

er, habe er das Recht bisher genutzt.<br />

Selbst Corona habe das Kollektiv bis<br />

jetzt gut überstanden.<br />

Für Sonja Löser, Diplompädagogin<br />

und Coachin aus Hamburg, ist das keine<br />

Überraschung. Sie berät ehrenamtlich<br />

Kollektive und erklärt: „Wenn es<br />

dem Kollektiv darum geht, nachhaltige<br />

Produkte oder Dienstleistungen anzubieten,<br />

die nicht dazu beitragen die Welt<br />

noch kaputter zu machen, als sie ohnehin<br />

schon ist, fühlt sich das gut an.“ Das<br />

erhöhe die Motivation weiterzumachen,<br />

kreativ zu bleiben, auch in Krisen.<br />

Das liest sich schön. Zu schön.<br />

Natürlich gibt es Reibung. Wer ein<br />

Kollektiv gründe, erklären Andrea<br />

Rohrberg und Dorothea Herrmann in<br />

ihrem Buch „Hinter den Kulissen –<br />

kleiner Leitfaden für kollektiv geführte<br />

25<br />

Cola, Festivals und Arabien<br />

Uwe Lübbermann ist in der Nähe von<br />

Münster aufgewachsen, hat Werbekaufmann<br />

gelernt und Wirtschaftspsychologie<br />

an der Universität Lüneburg<br />

studiert. 2001 stieg er in die Getränkebranche<br />

ein und gründete das kollektiv<br />

geführte Unternehmen Premium Cola in<br />

Hamburg. Er ist außerdem als Berater,<br />

Referent und Trainer für Unternehmen<br />

und Organisationen tätig. Zu seinen<br />

Referenzen zählen das Fusionfestival<br />

ebenso wie die Regierung der<br />

Vereinigten Arabischen Emirate.<br />

Mehr Infos unter www.luebbermann.com<br />

Organisationen“, entscheide sich für<br />

einen Weg der Abhängigkeit, des Aufeinanderangewiesenseins<br />

– und zwar<br />

auf Dauer. Wie in jeder Beziehung<br />

kann das auch mal an die Substanz<br />

gehen. Zumal sich, sagt Sonja Löser, in<br />

Kollektiven informelle Machtstrukturen<br />

und Hierarchien entwickeln, die immer<br />

wieder reflektiert und abgebaut werden<br />

müssten. „Das ist die Kunst daran.“<br />

Auch im Premium-Kollektiv habe<br />

es in letzter Zeit einigen Streit gegeben,<br />

sagt Lübbermann. Das würde an ihm<br />

zehren. Sewil Anderson, die seit Anfang<br />

2021 Teil des Kollektivs ist, erinnert sich<br />

daran. „Es ging um alte Unstimmigkeiten,<br />

um liegen gebliebene Aufgaben“,<br />

sagt sie. Ein Mediator wurde zugeschaltet.<br />

„Ich habe Uwe in dieser Zeit sehr<br />

gesprächsbereit und beharrlich erlebt.“<br />

Beharrlich sein kann Lübbermann.<br />

Er arbeitet fokussiert, allerdings nicht<br />

zwingend im Team. Das schreibt er<br />

selbst in seinem Buch „Wirtschaft<br />

hacken“: Uwe Lübbermann funktioniert<br />

demnach am besten, wenn er<br />

alleine konzentriert Lösungen für ein<br />

Problem sucht.<br />

Warum hält er trotzdem ausgerechnet<br />

am Wir im Kollektiv fest? „Ganz<br />

einfach: Ich bin ein Sturkopf. Ich glaube<br />

daran, dass Premium Cola es schafft,<br />

die Wirtschaft zu hacken.“ Wer mit<br />

dem Kollektiv arbeite, werde auto matisch<br />

Teil seines Systems. „Dadurch verbiegen<br />

wir die Wirtschaft von innen.“


Gemeinsam geht’s besser:<br />

Lübbermann (rechts) mit<br />

Premium-Kollektivist:innen<br />

Ihm sei bewusst, dass das Grenzen habe.<br />

„Aber für mich ist das Premium-Kollektiv<br />

ein Beispiel, das es auf die Spitze<br />

treibt – und dadurch andere dazu motivieren<br />

kann, sich zu bewegen.“<br />

Ihn treibt aber noch etwas anderes:<br />

„Ich bin ein Angsthase.“ Uwe Lübbermann<br />

sagt das frei heraus. „Er gilt bei<br />

einigen Kollektivist:innen als Bedenken<br />

träger“, sagt auch Sewil Anderson.<br />

„Manchmal nehme ich ihn auch als zu<br />

vorsichtig wahr, gerade in der Coronazeit.<br />

Aber ich finde es dann auch wieder<br />

gut, weil er vorausschauend denkt und<br />

so Fehler, die Geld und Zeit kosten, gar<br />

nicht entstehen.“<br />

Ja, Uwe Lübbermann geht gerne<br />

auf Nummer sicher. In seinem Buch<br />

schildert der Wahl-Hamburger die von<br />

Armut geprägte Kindheit nahe Münster.<br />

Geblieben aus dieser Zeit sei ihm<br />

die Angst vor dem sozialen Abstieg und<br />

ein Sicherheitsbedürfnis, das gerade<br />

durch die kollektive Arbeit gestillt werde.<br />

„Ist doch logisch: Schaffe ich ein<br />

Klima des Respekts und der Freundlichkeit,<br />

erreiche ich, dass die anderen<br />

„Uwe ist<br />

ein ungemein<br />

freundlicher<br />

Mann.“<br />

FAHAD AL MOSA<br />

auch respektvoll mit mir umgehen.<br />

Wenn ich ein Klima der Angst schaffe<br />

und des Machterhalts, muss ich Angst<br />

haben, dass mir jemand etwas wegnehmen<br />

will.“<br />

Das Premium-Kollektiv ist die<br />

Keimzelle seiner Vision. Parallel aber<br />

arbeitet der 45-Jährige an einem weiteren<br />

Projekt: für seine Altersvor sorge<br />

26<br />

und „weil sich am Wohnungsmarkt<br />

besonders deutlich zeigt, wie unfair das<br />

System ist.“ Vor drei Jahren hat er am<br />

Wandsbeker Markt eine Immobilie mit<br />

zehn Mietparteien erworben. Und auch<br />

dort macht er vieles anders.<br />

Der 25-jährige Mieter Fahad al<br />

Mosa lebt dort in einer Dreizimmerwohnung.<br />

„Uwe ist ein ungemein<br />

freundlicher Mann“, sagt er heute. So<br />

entspannt war die Beziehung zwischen<br />

den beiden Männern nicht immer. Als<br />

sich al Mosa nach dem Auszug von<br />

Freunden bei Lübbermann um deren<br />

Wohnung bewarb, bekam er erst ein<br />

„Nein“ zur Antwort. „Er dachte, ich<br />

würde zu viel trinken und Ärger machen.“<br />

Andere Freunde hätten erfolgreich<br />

vermittelt. „Inzwischen kommen<br />

wir sehr gut aus. Egal was ihn nervt, er<br />

lächelt immer.“<br />

Das ist nicht unwichtig, denn<br />

Lübber mann hat Pläne mit seinen


Arbeit<br />

Jedes Leben ist der Rede wert!<br />

Mieter:innen und für das Haus. An dessen Stelle soll<br />

ein Wohn- und Geschäftskomplex entstehen, der<br />

allen Bewohner:innen flexible Mitspracherechte bieten<br />

soll – zu fairen Bedingungen. Das heißt: „Wir reden<br />

über die Miete und das, was in der Bilanz für die<br />

Gesamtheit der Bewohnerschaft aufgeht“, erläutert<br />

Uwe Lübbermann. „Wer mehr verdient, zahlt mehr<br />

Miete. Wer weniger verdient, weniger.“<br />

Zwischen sechs und neun Euro pro Quadratmeter<br />

würden die Mieten liegen, so Fahad al Mosa.<br />

Das habe Uwe mit ihnen besprochen. Von Beginn an<br />

seien er und die anderen Bewohner:innen in das<br />

Projekt miteinbe zogen worden. „Unsere Wünsche<br />

und Anmerkungen sind in die Pläne eingeflossen. Er<br />

hält mich telefonisch und per Mail immer auf dem<br />

neuesten Stand.“<br />

Der Bauvorantrag für das geplante Gebäude<br />

liegt laut Bauherr zur Genehmigung bei den Behörden.<br />

Ein harter Brocken sei der für die Stadtplaner,<br />

denn er habe alles ausgereizt, was rechtlich ginge –<br />

und ein wenig mehr. Ein Beispiel: „Ich möchte sieben<br />

Stockwerke, obwohl nur sechs erlaubt sind.“ Uwe<br />

Lübbermann sagt es grinsend, ein freundlicher<br />

Provokateur. Er hat sichtlich Spaß an der Rolle.<br />

Aber was erreicht er wirklich mit einem einzelnen<br />

Projekt wie diesem? Auch das Kollektiv müsste,<br />

räumt er ein, lauter nach außen sein, schlagkräftiger<br />

werden, um mehr zu bewegen. Das große Ganze zu<br />

verändern, indem man sich einschleust in das<br />

System, „es hackt“, wie er es nennt, ist eine kleinteilige,<br />

zeitaufwendige Arbeit.<br />

Uwe Lübbermann gibt zu, dass er inzwischen<br />

Phasen der Ermattung erlebt. Aufbauen würden ihn<br />

dann Bilder aus der Zukunft wie dieses: „Ich fahre<br />

mit einem Klappstuhl in der Hand zum Wandsbeker<br />

Markt, das neue Haus steht. Ich setze mich auf die<br />

Straßenseite gegenüber, winke. Aus den Fenstern<br />

winken mir alle Mieterinnen und Mieter zurück. Wir<br />

haben uns dafür verabredet. Das wird ein großer<br />

Moment.“ •<br />

Ausbildung Trauerrede.<br />

Leben aus der Endlichkeitsperspektive<br />

Die nächste Ausbildung bei Annette Rosenfeld<br />

beginnt im April <strong>2022</strong>.<br />

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Anders wirtschaften<br />

Das Buch „Wirtschaft hacken“ von Uwe Lübbermann<br />

ist im Büchner Verlag erschienen (18 Euro). Es ist<br />

zudem als epub sowie kostenlos als PDF oder als<br />

ePDF (13,99 Euro) und auch als Hörbuch erhältlich.<br />

Weiterer Buchtipp: Andrea Rohrberg und Dorothea<br />

Herrmann: „Hinter den Kulissen – kleiner Leitfaden<br />

für kollektiv geführte Organisationen“<br />

(Vandenhoeck & Ruprecht 2019)<br />

27<br />

KONFLIKTE<br />

DIE AUSSTELLUNG<br />

03.11.2021 – 08.05.<strong>2022</strong><br />

shmh.de<br />

Stiftung Historische Museen Hamburg,<br />

Museum der Arbeit<br />

Wiesendamm 3, 22305 Hamburg


Arbeit<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Personalmanagerin<br />

Melanie Argast<br />

Modell für<br />

die Zukunft?<br />

Eine Stunde mehr Arbeit pro Tag. Dafür eine Viertagewoche –<br />

fürs gleiche Geld! So will eine Hotelkette neues Personal gewinnen.<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

FOTO: IMKE LASS<br />

M<br />

elanie Argast ist begeistert.<br />

Sie arbeite schon<br />

lange in der Hotellerie<br />

und trotz mancher Überstunde<br />

mit Freude, sagt die 31-jährige<br />

Personalmanagerin der Hotelkette<br />

„25hours“. „Aber ein zusätzlicher freier<br />

Tag ist ein enormer Mehrwert, gerade<br />

wenn man wie ich ein kleines Kind hat.“<br />

Ist die Viertagewoche ein Weg,<br />

mehr Menschen für einen Job in der<br />

Hotellerie zu gewinnen? Antworten soll<br />

ein Modellversuch liefern, der bis Ende<br />

dieses Monats in den Hamburger<br />

25hours-Hotels läuft. Die Idee: Statt<br />

wie bisher an fünf Tagen acht Stunden<br />

arbeiten die Angestellten vier Tage à<br />

neun Stunden – bei gleichem Lohn.<br />

Die vier Stunden, die sie weniger<br />

leisten, wandern idealerweise als Minusstunden<br />

auf ein Arbeitszeitkonto. Fallen<br />

Überstunden an, werden sie mit diesen<br />

28<br />

verrechnet. Das Ziel sei jedoch, Mehrarbeit<br />

zu verhindern und die Konten<br />

nach einem Jahr auf null zu setzen, sagt<br />

Melanie Argast. Gelingt das, müssen<br />

die Hotelangestellten künftig gut 200<br />

Stunden jährlich weniger arbeiten –<br />

und gewinnen einen freien Tag pro<br />

Woche.<br />

Die Zwischenbilanz fällt ermutigend<br />

aus, so die Personalmanagerin:<br />

80 Prozent der Vollzeitkräfte haben sich


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Arbeit<br />

testweise für die Viertagewoche entschieden.<br />

Und bislang seien keine<br />

Überstunden angefallen. Klar, manche<br />

müssen sich an die längeren Arbeitstage<br />

erst einmal gewöhnen, berichtet sie.<br />

„Ein zusätzlicher<br />

freier Tag<br />

ist ein enormer<br />

Mehrwert.“<br />

MELANIE ARGAST<br />

Aber die positiven Rückmeldungen<br />

über wiegen: „Das ist ja wie ein geschenkter<br />

freier Tag.“<br />

Mit dem neuen Modell hofft die<br />

Hotelkette auch, mehr Menschen für<br />

einen Job im Gastgewerbe zu ge winnen.<br />

Immerhin zwölf der 20 freien Stellen in<br />

den Hamburger 25hours-Hotels konnten<br />

dank der attraktiveren Arbeitszeiten<br />

bis Anfang Januar besetzt werden, so<br />

Melanie Argast. Vor allem Küchenund<br />

Reinigungskräfte fehlten aber<br />

noch. „Selbst ein kompletter Quereinstieg<br />

ist möglich.“ Die Haltung der<br />

Personalmanagerin in dieser Frage ist<br />

aber bereits eindeutig: „Ich hoffe, dass<br />

das Modell bei uns Standard wird.“<br />

Sollte das nicht geschehen, müssten<br />

alle zur Fünftagewoche zurückkehren –<br />

ein nur schwer vorstellbares Szenario.<br />

25hours wäre die erste Hotelkette<br />

in Deutschland, die Vollzeitkräften dauerhaft<br />

eine Viertagewoche ermöglicht.<br />

Und vermutlich nicht die letzte: Laut<br />

Hotel- und Gaststättenverband haben<br />

allein 2020 rund 325.000 Beschäftigte<br />

der Branche den Rücken gekehrt.<br />

V erantwortlich dafür sind nicht nur die<br />

Folgen von Corona. Auch un attraktive<br />

Arbeitszeiten, Schichtdienste (ein Hotel<br />

muss sieben Tage die Woche rund<br />

um die Uhr besetzt sein) und niedrige<br />

Löhne tragen dazu bei.<br />

Nach dem Hamburger Tarifvertrag<br />

sind Monatsgehälter von lediglich 1725<br />

Euro brutto für Ungelernte möglich.<br />

Das sind nicht mal 10 Euro die Stunde.<br />

Und nicht jedes Hotel hält sich an den<br />

Tarif. Bei den 25hours-Hotels verdient<br />

niemand weniger als 1800 Euro brutto<br />

im Monat, sagt Melanie Argast. Ihre<br />

Erwartung an die Branche ist eindeutig:<br />

„Langfristig müssen sich die Löhne der<br />

Inflation und den Mietpreisen auf<br />

jeden Fall anpassen.“<br />

Auf Jobsuche?<br />

Jobsuchende können sich unter<br />

Telefon 040 / 257 777 813 melden<br />

oder per E-Mail unter<br />

margast@25hours-hotels.com<br />

Die Hotelkette hofft auch darauf, dass<br />

mit dem neuen Modell die Produktivität<br />

der Angestellten steigt. Studien aus<br />

Skandinavien legten das nahe. Solche<br />

Effekte seien aber schwer zu messen,<br />

räumt die Personalmanagerin ein. Fest<br />

steht: Erst einmal steigen die Kosten,<br />

denn die Hotels brauchen mehr Personal.<br />

Aber: „Wenn das Front Office<br />

(Rezeption, die Red.) eine längere Übergabezeit<br />

hat, können die Kolleg:innen<br />

vielleicht auch noch mal durch die<br />

Lobby wischen, was sonst der outgesourcte<br />

Reinigungsdienst macht –<br />

mit der Folge, dass andere Kosten so<br />

reduziert werden.“ •<br />

Ulrich Jonas glaubt, dass die<br />

Hotellerie um bessere Löhne<br />

und Arbeitsbedingungen<br />

schon sehr bald nicht mehr<br />

herumkommen wird.<br />

ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Kommt von der Elbe.<br />

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Arbeit<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Gestern, heute,<br />

morgen<br />

Wie sich der Wandel der Arbeit in Zahlen zeigt.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS.DE<br />

Digitalisierung, veränderte Rollenbilder, Arbeits-<br />

kämpfe oder Globalisierung – die Arbeitswelt ist<br />

permanent im Wandel. Einen unerwarteten Schub<br />

bekommt dieser Wandel durch die Coronapan demie.<br />

Wir haben einige zentrale Zahlen und Fakten<br />

zusammen gestellt, die veränderte Strukturen und<br />

Bedingungen der vergangenen Jahre verdeutlichen<br />

und wagen einen Blick in die Zukunft. •<br />

Männer<br />

1991 78,4 %<br />

2020 79,1 %<br />

Frauen<br />

1991 57,0 %<br />

2020 71,9 %<br />

Erwerbstätigkeit von Frauen<br />

und Männern in Deutschland<br />

Obwohl heute deutlich mehr Frauen berufstätig sind<br />

als zu Beginn der 1990er-Jahre, bleibt die Arbeit von<br />

Männern und Frauen ungleich verteilt. Während nur<br />

10,1 Prozent der erwerbstätigen Männer 2020 in Teilzeit<br />

gear beitet haben, waren es bei den Frauen 48 Prozent.<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt 2021/Eurostat 2021<br />

18,4<br />

der Jobs in Deutschland<br />

sind laut OECD akut durch<br />

Automatisierung gefährdet.<br />

Jobs kommen, Jobs gehen<br />

Das Arbeitsministerium prognostiziert, dass unter Berücksichtigung einer<br />

sinkenden Beschäftigtenzahl bis 2040 rund 3,6 Millionen Arbeitsplätze<br />

wegfallen – aber auch genauso viele neue entstehen. Nach Einschätzung<br />

der OECD sind durch zunehmende Automatisierung vor allem Jobs<br />

von gering qualifizierten Arbeitnehmer:innen gefährdet, während neue<br />

Jobs für Hochqualifizierte entstehen. Um das auszugleichen, empfiehlt<br />

die Organisation eine Ausweitung der Erwachsenenbildung.<br />

Quelle: OECD 2019/Arbeitsministerium 2021


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Arbeit<br />

Vor dem ersten Lockdown<br />

2020 arbeiteten 4 % der<br />

deutschen Arbeitnehmer:innen<br />

im Homeoffice.<br />

Im Januar 2021 waren es 24 %<br />

und damit jede:r vierte<br />

Arbeitnehmer:in.<br />

Arbeit von zu Hause<br />

Wie die Coronapandemie die Arbeitswelt<br />

verändert hat, zeigen Zahlen aus der Hamburger<br />

Verwaltung. In der Wissenschaftsbehörde arbeiteten<br />

zwischenzeitlich 100 Prozent der Beschäftigten von<br />

zu Hause. Dafür, dass auch in Zukunft nicht Schluss<br />

ist mit der Arbeit am heimischen Schreibtisch, setzt<br />

sich Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ein.<br />

Er will einen Anspruch auf Homeoffice gesetzlich<br />

festlegen. Nur bei zwingenden Gründen sollen<br />

Arbeitgeber:innen das verwehren dürfen.<br />

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung 2021/Bürgerschaftsdrucksache 2021<br />

9,7der deutschen Arbeitnehmer:innen<br />

arbeiten mehr als 48 Stunden pro Woche.<br />

Langes Arbeiten macht krank!<br />

Eine Analyse von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Internationaler Arbeitsorganisation (ILO)<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass zu langes Arbeiten krank macht. Demnach setzen sich Menschen,<br />

die mehr als 35–40 Stunden die Woche arbeiten, einem erhöhten Risiko aus. 2016 seien laut der<br />

Studie 745.000 Menschen weltweit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben, weil sie zu<br />

viel gearbeitet haben. Besonders häufig seien Männer betroffen. Lange Arbeitszeiten sehen die<br />

Organisationen als den Risikofaktor mit der größten berufsbedingten Krankheitslast.<br />

Quelle: WHO/ILO 2021<br />

1990 hatten 2 %<br />

der deutschen Erwerbstätigen<br />

einen Zweitjob.<br />

2019 lag der Anteil schon<br />

bei 5,4 % beziehungsweise bei<br />

2,9 Millionen Menschen.<br />

Höherer Anteil in Hamburg<br />

Noch höher als der Bundesschnitt liegt der Zweitjob-Anteil<br />

in Hamburg. In der Hansestadt gehen fast 80.000 Menschen<br />

aller Altersklassen und damit 7,8 % einem Zweitjob nach –<br />

bei Weitem nicht nur Geringqualifizierte. Die große Mehrheit<br />

der Menschen, die in Hamburg einen Zweitjob ausüben, haben<br />

einen Berufs- oder (Fach-)Hochschulabschluss. Reinigungsjobs<br />

sind mit einem Anteil von mehr als 20 Prozent mit Abstand die<br />

häufigsten Zweitjobs.<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt <strong>2022</strong>/Bundesagentur für Arbeit<br />

31


Felix Quadflieg arbeitet<br />

als Entwicklungsbegleiter<br />

mit Kindern – schon die<br />

spüren Leistungsdruck.


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Arbeit<br />

„Wer nicht will, sollte<br />

nicht arbeiten müssen“<br />

Der Pädagoge Felix Quadflieg hat vor 25 Jahren einen Verein<br />

zur Förderung des Müßiggangs gegründet. Ein Gespräch<br />

über Arbeit und Muße – und warum es für letztere nicht mehr<br />

Selbstoptimierung, sondern vor allem Solidarität braucht.<br />

TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />

FOTO: KAY MICHALAK<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr Quadflieg, wir führen<br />

dieses Gespräch am ersten Montag<br />

des Jahres, viele Menschen starten<br />

heute mit Vorsätzen in ihre Arbeitswoche.<br />

Haben Sie auch einen?<br />

Eigentlich nicht.<br />

Sind Sie so zufrieden?<br />

Das ist natürlich relativ. Aber ja, ich bin<br />

ganz zufrieden mit meinem Leben und<br />

was den Aspekt der Arbeit darin angeht.<br />

Ich konnte mir das zum Glück so<br />

einrichten, dass ich mit so wenig Arbeit<br />

wie nötig möglichst gut über die<br />

Runden komme. Und meine Arbeit<br />

macht mir Spaß.<br />

Das finde ich überraschend. Immerhin<br />

haben Sie neben ihrem Beruf einen<br />

Verein gegründet, der sich „Otium“<br />

nennt, was sich mit „Ruhe vor Berufstätigkeit“<br />

übersetzen lässt. Ihr Ziel ist<br />

die „Förderung des Müßiggangs“.<br />

Wie passt das mit Spaß an der Arbeit<br />

zusammen?<br />

Arbeit und Muße sind kein Widerspruch.<br />

Oft wird das so gesehen: Unter<br />

der Arbeit leidet man, weil man sie machen<br />

muss. Und zum Müßiggehen<br />

bleibt nur die Freizeit. So sieht unser<br />

Verein das nicht. In unserer Gesellschaft<br />

ist es natürlich oft schwierig,<br />

Arbeit mit einer Haltung von Muße zu<br />

verrichten. Weil Arbeit für uns an das<br />

eigene Selbstwertgefühl gekoppelt ist<br />

und wir auch andere über deren Tätigkeit<br />

bewerten.<br />

„Müßiggang<br />

klingt lustig,<br />

ist aber eine<br />

hochpolitische<br />

Angelegenheit.“<br />

Sind Sie frei von solchen Bewertungen?<br />

Nein, auch ich lebe ja in einer Gesellschaft,<br />

die mir einen Rahmen<br />

vorgibt. Schön ist aber, dass ich die<br />

Erfahrung gemacht habe: Meine Arbeit<br />

ist nicht alles.<br />

Der Schriftsteller Siegfried Lenz<br />

beschrieb Müßiggang mal als<br />

„aktives Nichtstun“. Was bedeutet<br />

Müßiggang für Sie?<br />

Also „aktives Nichtstun“ gefällt mir.<br />

Aber in dem Sinne, dass man sich –<br />

man kann ja nicht wirklich nichts tun,<br />

man lebt und atmet ja – von diesem<br />

eifrigen, täglichen Rumgewusel abwendet<br />

und Dinge bewusst unterlässt.<br />

33<br />

Das heißt, Müßiggang ist eigentlich nur<br />

eine persönliche Geisteshaltung?<br />

Natürlich kann jeder erst mal sein Verhalten<br />

hinterfragen, ja. Aber in meinem<br />

Verständnis ist Müßiggang eine hochpolitische<br />

Angelegenheit. Das Wort<br />

kommt immer so ein bisschen lustig<br />

daher, aber es bedarf einer ernsthaften<br />

Diskussion.<br />

Aus einer politischen Diskussion<br />

heraus haben Sie auch Ihren Verein<br />

gegründet.<br />

Das war 1998, als es in Frankreich sehr<br />

lautstarke und militante Proteste von<br />

Arbeitslosen gab. Die wollten sogar<br />

die Börse stürmen, richtig was verändern.<br />

Die Proteste schwappten nach<br />

Deutschland über, und hier wollten wir<br />

etwas mitmischen. In Deutschland hat<br />

sich aber herausgestellt, dass es vor<br />

allem darum ging zu sagen: Wir wollen<br />

Arbeit, wir wollen Arbeit. Und nicht<br />

darum, die Arbeit an sich und den<br />

Arbeitszwang, in dem man lebt, infrage<br />

zu stellen.<br />

Haben Sie das Gefühl, dass sich<br />

diese Haltung gewandelt hat?<br />

Ich denke schon. Ende der 1990er-Jahre<br />

sind wir öfter mit Aussagen konfrontiert<br />

worden wie: „Ihr könnt doch nicht<br />

auf Kosten anderer leben!“ Oder mit


Arbeit<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Ausdrücken wie „Schmarotzer“ oder<br />

so. Heutzutage gibt es mehr Verständnis.<br />

Das liegt vielleicht daran, weil die<br />

Verdichtung von Arbeit zugenommen<br />

hat und immer mehr Menschen merken:<br />

Muss dieses Zwangsverhältnis<br />

mein Leben sein?<br />

„Alle haben das<br />

Gefühl, immer<br />

mehr leisten zu<br />

müssen in immer<br />

weniger Zeit.“<br />

Was arbeiten Sie selbst – und wie viel?<br />

Ich bin selbstständig, deswegen kann<br />

ich nicht exakt sagen, wie viele Stunden<br />

ich in der Woche arbeite. Ich bin Entwicklungsbegleiter<br />

und arbeite mit Kindern,<br />

die von Schulen und durch das<br />

Jugendamt an uns vermittelt werden.<br />

Kinder, deren Verhalten in der Schule<br />

beispielsweise auffällt.<br />

Bei Kindern, die zu uns kommen, ist<br />

Leistungsdruck in der Schule oft mit<br />

Widerstand und einer Art Traurigkeit<br />

verbunden. Bei uns bekommen sie erst<br />

mal einen Freiraum, in dem sie nichts<br />

leisten müssen und lernen, wie sie sich<br />

entfalten können.<br />

Wie bringt man das einem Kind bei?<br />

Kindern muss man das eigentlich gar<br />

nicht beibringen. Oft ist es eine Herausforderung<br />

für uns Erwachsene zu sehen:<br />

Warum verhält sich das Kind so und<br />

was braucht es? Wenn ich vorschlage,<br />

dass wir ein Bild zusammen malen<br />

könnten, antworten viele: „Ich kann<br />

nicht malen.“ Das ist doch traurig, weil<br />

sich schon das Kind danach richtet, wie<br />

ein Bild auszusehen hat. Manche wollen<br />

dann ein Lineal, damit es ganz exakt<br />

wird. Manche werden wütend, wenn sie<br />

es nicht hinbekommen. Der Prozess ist,<br />

die Kinder frei zu machen von diesem<br />

Druck, damit sie Dinge wieder aus der<br />

eigenen Lust heraus machen.<br />

Was ist anders, wenn Sie mit<br />

Erwachsenen über Arbeit sprechen?<br />

Viele haben schon Erfahrungen<br />

gemacht, die mitunter an existenzielle<br />

Sorgen gebunden sind.<br />

Wenn es um das alltägliche Überleben<br />

geht – wie bei vielen prekär Beschäftigten<br />

zum Beispiel –, hat die Angst viel<br />

größere Andockpunkte. Natürlich ist es<br />

dann nicht mehr so leicht zu sagen: Ich<br />

guck einfach mal. Das ist aber auch der<br />

Effekt unserer Erfolgsgesellschaft: Alle<br />

haben das Gefühl, immer mehr in immer<br />

weniger Zeit leisten zu müssen.<br />

Das erschöpft, macht krank, und man<br />

ist weniger in der Lage, Abstand von<br />

der eigenen Arbeit zu finden.<br />

Das heißt aber auch, dass Müßiggang<br />

in unserer Gesellschaft denjenigen<br />

vorbehalten ist, die ihn sich leisten<br />

können.<br />

Ja und nein. Wer nicht jeden Cent umdrehen<br />

muss, hat natürlich mehr Möglichkeiten,<br />

einfach mal nichts zu tun<br />

und sich Dingen zu widmen, die unproduktiv<br />

sind: ein Buch zu lesen oder einfach<br />

in die Luft zu gucken.<br />

Gleichzeitig hat das Potenzial zum<br />

Müßiggang aber jeder Mensch, weil<br />

jeder die Erfahrung in seinem Leben<br />

schon gemacht hat. Kind zu sein ist<br />

eigentlich ständiges Müßiggehen: entdecken,<br />

spielerisch lernen, Erfahrungen<br />

sammeln und sich in überraschende<br />

Situationen begeben. In die Leistungsorientiertheit<br />

wächst man erst hinein.<br />

Es ist in der Regel aber auch schwer,<br />

ihr zu entgehen. Kann es Müßiggang<br />

überhaupt für alle geben?<br />

Wenn es heißt, eine demokratische Gesellschaft<br />

ist eine gerechte Gesellschaft,<br />

34<br />

und dann sieht man unsere Einkommens-<br />

und Vermögensunterschiede,<br />

muss man natürlich fragen: Was ist<br />

denn daran gerecht? Gerecht wäre,<br />

wenn alle die Möglichkeit hätten, in Sicherheit<br />

und Ruhe leben zu können.<br />

Man könnte zum Beispiel sagen, dass<br />

niemand mehr als einen bestimmten<br />

Betrag im Monat braucht. Und dass<br />

der Rest denen zugutekäme, die weniger<br />

erwirtschaften können oder wollen.<br />

Wer nicht will, sollte nicht arbeiten<br />

müssen.<br />

Damit fordern Sie ein hohes Maß<br />

an Umverteilung und Solidarität.<br />

Ja, nach meinem Empfinden verkümmert<br />

die Notwendigkeit von Solidarität<br />

immer mehr. Es gibt viele unterstützende<br />

und solidarische Menschen, aber es<br />

ist nicht der Konsens, das tragende<br />

Prinzip. Für mich geht es darum, dass<br />

wir eine Basis schaffen, in der alle Menschen<br />

gut leben können. Gesellschaftlich<br />

verträglich dürfte ja eigentlich nicht<br />

sein, dass es exorbitante Vermögen gibt.<br />

Genauso sollte auch Müßiggang kein<br />

Privileg von wenigen sein. •<br />

Anna-Elisa Jakob kann bei<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> sinnhafte Arbeit<br />

verbinden mit privater Lust<br />

auf Müßiggang. Tägliches<br />

Gewusel liebt sie trotzdem!<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Verein zur Förderung<br />

des Müßiggangs:<br />

Vor 30 Jahren gründete Felix Quadflieg<br />

gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten<br />

den Verein „Otium – zur Förderung des<br />

Müßiggangs“ in Bremen. Seitdem veranstalten<br />

dessen Mitglieder regelmäßig<br />

Lesungen und besuchen Schulklassen,<br />

um mit ihnen über Arbeit und die Kunst<br />

des Nicht-Arbeitens zu diskutieren.<br />

Mehr Infos unter www.otium-ev.de


Wie klingt<br />

Hamburg?<br />

Schüler:innenwettbewerb von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> und AUDIYOU<br />

Wie klingt für euch Hamburg?<br />

Welche Menschen und Orte gehören dazu?<br />

Wir sind gespannt darauf, was für Persönlichkeiten,<br />

Geschichten oder auch Klänge ihr findet.<br />

Macht unsere Stadt hörbar!<br />

Gestaltet aus den Ideen einen Hörbeitrag, egal<br />

in welcher Form. Das kann eine kleine Geschichte,<br />

eine Reportage, ein Hörspiel, ein Song, ein Interview<br />

oder etwas anderes sein. Hauptsache, es ist hörbar<br />

und nicht länger als vier Minuten.<br />

Wir sind gespannt darauf! Aus allen Einsendungen<br />

wählt eine Expert:innen-Jury ihre Favoriten und<br />

stellt diese bei einer großen Abschlussveranstaltung<br />

für alle Teilnehmer:innen im Juni <strong>2022</strong> vor.<br />

Dabei gibt es viele Preise zu gewinnen.<br />

Für Lehrer:innen läuft am 15. <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

ein Workshop, in dem die einfachen<br />

Grundlagen der Technik vermittelt und<br />

Fragen beantwortet werden.<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Einsendeschluss:<br />

2. Juni <strong>2022</strong><br />

Mehr Informationen, Teilnahmebedingungen<br />

und das Anmeldeformular gibt es<br />

unter hinzundkunzt@audiyou.de oder<br />

bei Stephanie Landa, Tel. 040 – 46 07 15 38.


„Unding“<br />

und<br />

Hoffnungsträger<br />

Ein Plastikstuhl ist das meistverkaufte<br />

Möbelstück aller Zeiten. Hierzulande gilt er<br />

als hässlich. Anderswo ist er unersetzlich,<br />

wie die Dokumentation „Monobloc“ zeigt.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTOS: BORIS MAHLAU, HAUKE WENDLER UND MARCO GRUNDT


40 Plastikstühle stapeln sich im<br />

Vitra Design Museum in Weil am<br />

Rhein, eingerahmt von teuren<br />

Designerstühlen. 2017 widmete<br />

das Museum dem „Monobloc“<br />

eine eigene Ausstellung.


38


Fotostrecke<br />

Stuhl als Rolli:<br />

„Ich freue mich sehr über den<br />

Stuhl. Vorher musste ich über den<br />

Boden robben. Das war sehr<br />

schwer. Jetzt kann ich überall hin.“<br />

Annet Nnabulime ist eine von rund<br />

einer Million Menschen in Uganda,<br />

die einen Rollstuhl brauchen. Doch<br />

nur die wenigsten können sich das<br />

teure Hilfsmittel leisten. Der<br />

Durchschnittsverdienst liegt bei<br />

einem Dollar pro Tag. Die Sozialorganisation<br />

Free Wheelchair Mission<br />

bietet mit dem „Gen 1“ eine<br />

preisgünstige und dennoch haltbare<br />

Alternative. Seit 2001 konnten<br />

so 1,2 Millionen Roll stühle<br />

verteilt werden, bis 2025 sollen<br />

es 2 Millionen sein.<br />

H<br />

auke Wendler hat in den<br />

vergangenen fünf Jahren<br />

in viele fragende Gesichter<br />

geguckt. „Es hieß immer:<br />

‚Man kann doch nicht einen 90-minütigen<br />

Film über einen Plastikstuhl machen!‘“,<br />

sagt der Hamburger Dokumentarfilmer.<br />

Dass „Monobloc“ nun doch in<br />

den Kinos startet, hat viel mit der Hartnäckigkeit<br />

des 54-Jährigen und ein wenig<br />

wohl auch mit der Faszination des<br />

Hässlichen zu tun, die von diesem Plastikstuhl<br />

ausgeht. Bei uns ab 5,99 Euro<br />

im Baumarkt zu haben, ist der aus<br />

einem Guss gefertigte Monobloc das<br />

meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten.<br />

Weltweit soll es eine Milliarde Stück<br />

geben. Hierzulande gilt der Stuhl als<br />

banales Wegwerfprodukt: billig, unästhetisch,<br />

noch dazu umweltschädigend.<br />

„Aus unserer Sicht ist der Plastikstuhl<br />

automatisch böse“, sagt Wendler.<br />

Das hat er oft gehört, als er in Hamburg<br />

eine Straßenumfrage gestartet hat. Mit<br />

einem Megafon in der Hand lockte er<br />

Passant:innen an der Kehrwiederspitze<br />

an und interviewte sie im Inneren eines<br />

Lkw. Dabei saßen sie auf einem Monobloc.<br />

Was sie denn von Plastikstühlen<br />

halten würden? Die Antworten nahezu<br />

unisono: gar nichts. Einer zertrümmerte<br />

den Stuhl spontan. Die Dinger seien<br />

blöd, von schlechter Qualität und man<br />

könne sie nicht recyceln. „Natürlich ist<br />

Plastik ein total problematischer Rohstoff“,<br />

sagt Wendler. „Nur: Unsere Welt<br />

ist heute extrem kompliziert, mit einfachen<br />

Antworten kommt man nicht<br />

weiter. Das gilt auch für diesen Stuhl.“<br />

Bei der Recherche, die Wendler und<br />

sein Team von Hamburg aus auf fünf<br />

Kontinente führte, änderte sich seine<br />

eigene Sichtweise auf den Plastikstuhl<br />

radikal. Der Wendepunkt kam in Uganda.<br />

Das afrikanische Land mit knapp<br />

47 Millionen Einwohner:innen hat in<br />

den vergangenen zwei Jahrzehnten große<br />

wirtschaftliche Fortschritte gemacht.<br />

Dennoch leben bis heute rund 40 Prozent<br />

der Menschen unter der Armutsgrenze.<br />

Betroffen sind vor allem die<br />

Bewohner:innen auf dem Land. So wie<br />

Annet Nnabulime. Die 56-Jährige lebt<br />

mit ihrer Familie in einer Lehmhütte.<br />

Fünf Jahre lang hat die gehbehinderte<br />

Frau auf ihren Rollstuhl gewartet. Aber<br />

39<br />

keinen, wie Europäer:innen ihn kennen.<br />

Der „Gen 1“ ist gefertigt aus Stahlrohr,<br />

Mountainbike-Reifen, als Sitzfläche<br />

dient ein Plastikstuhl. Kosten: nur<br />

20 Dollar. Erfunden hat ihn ein amerikanischer<br />

Ingenieur. Kritiker:innen argumentieren,<br />

es sei zynisch, die von<br />

Armut betroffenen Menschen mit so<br />

einem Billigstuhl abzuspeisen. Im Film<br />

sagt ein Pfarrer aus Uganda dazu:<br />

„Würdest du lieber auf den 2000-Dollar-Stuhl<br />

warten, den du dir nie leisten<br />

kannst, oder würdest du lieber erst mal<br />

vom Boden hochkommen wollen?“<br />

„Was am Ende<br />

zählt, ist,<br />

dass man sitzt.“<br />

HAUKE WENDLER<br />

In Neu-Delhi trifft Wendler zudem auf<br />

einen Unternehmer, der ihm vorrechnet,<br />

dass die weltweite Nachfrage nach<br />

günstigen Stühlen nur mit Plastik umweltverträglich<br />

zu erfüllen ist: „Indiens<br />

Vegetation ist arm an Wäldern. Würde<br />

man bei der Herstellung Holz verarbeiten,<br />

würden wir unsere eigenen<br />

Ressourcen schnell vernichten.“ Der<br />

Monobloc wird aus Polypropylen hergestellt,<br />

das keine Weichmacher enthält<br />

und bis zu 100 Prozent wiederverwertbar<br />

ist. Wendler: „Aus diesem Stuhl,<br />

der bei uns als Wegwerfprodukt gilt,<br />

wird dort mehrfach ein neuer Stuhl<br />

gemacht. Am Ende des Downcyclings<br />

wird ein Blumenkasten daraus.“<br />

Und manchmal landet er sogar im<br />

Museum: 2017 stapelten sich bei<br />

„Monobloc – ein Stuhl für die Welt“<br />

40 Plastikstühle im Vitra Design Museum<br />

in Weil am Rhein inmitten anderer<br />

berühmter Exponate von Designerstühlen.<br />

„Ich möchte diese Stühle nicht<br />

bei mir im Wohnzimmer stehen haben“,<br />

sagt Hauke Wendler lachend,<br />

„aber letztlich ist es ja nicht der Punkt,<br />

an dem sich entscheidet, ob ich ein<br />

glückliches und zufriedenes Leben habe.<br />

Denn was am Ende zählt, ist nicht der<br />

Stuhl, sondern dass man sitzt.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de


40<br />

Sicherer Platz:<br />

Am letzten Drehtag trafen die<br />

Dokumentarfilmer auf diese<br />

beiden Fischhändler in Fortaleza/<br />

Brasilien. Es regnete in Strömen,<br />

der halbe Fischmarkt stand bereits<br />

unter Wasser. „Mir gefällt an<br />

dem Bild, wie ernst und würdevoll<br />

die zwei auf ihren Plastikstühlen<br />

sitzen“, sagt Hauke Wendler.


Fotostrecke<br />

Warten auf Kundschaft:<br />

Dieser Schlüsseldienst befindet sich im brasilianischen<br />

Fortaleza, der mit 2,7 Millionen Einwohner:innen fünftgrößten<br />

Stadt des Landes. Auf kleinstem Raum bietet<br />

der Verkäufer hier seine Waren und Dienstleistungen an.<br />

Den weißen Plastikstuhl, auf dem der Mann geduldig<br />

auf Kundschaft wartet, holt er jeden Morgen aus seiner<br />

Verkaufsbude, abends schließt er ihn dort wieder ein.<br />

Hauke Wendler und sein Team kamen täglich vorbei.<br />

Ihr Hotel lag gleich um die Ecke. „Der Mann war einfach<br />

toll. Der saß da ganz viel herum, hatte gar nicht so<br />

viele Kunden, war aber die ganze Zeit gut gelaunt“,<br />

sagt Wendler. Eine Haltung, die der Dokumentarfilmer<br />

in Deutschland manchmal vermisst.<br />

Repariertes Lieblingsstück:<br />

In Mpigi, rund 40 Kilometer von Ugandas Hauptstadt Kampala<br />

entfernt, hat diese lokale Holzhändlerin ihr Unternehmen. Die Chefin<br />

hat 14 Angestellte und einen Lieblingsstuhl aus Plastik. Sie besitzt<br />

ihn schon sehr lange, hegt und pflegt ihn, obwohl das gute Stück<br />

mittlerweile lädiert ist: Auf der Sitzfläche hat es einen kleinen Riss,<br />

denn die Frau ist von ihrer Statur her eigentlich etwas zu groß für den<br />

Stuhl. Doch statt ihn wegzuwerfen, nähte sie den Riss mit Nadel und<br />

starkem Faden wieder zu. „Das sieht man in Afrika häufiger mal, dass<br />

Stühle geflickt werden. Oder wenn ein Bein abbricht, dann wird als<br />

Ersatz ein Holzpflock dran befestigt“, erzählt Hauke Wendler.<br />

41


42<br />

Kleine Pause am See:<br />

Dieses Pärchen hat sich auf zwei<br />

Plastikstühlen vor einer Imbiss bude<br />

nahe des Hohendeicher Sees in<br />

Ochsenwerder niedergelassen,<br />

um eine Zigarette zu rauchen. Sie<br />

kommen in ihren Neoprenanzügen<br />

direkt vom Strand, wo sie ihrem<br />

Hobby nachgegangen sind: mit<br />

Metalldetektoren nach verlorenem<br />

Schmuck suchen.


Die<br />

Großuhrwerkstatt<br />

Bent Borwitzky<br />

Uhrmachermeister<br />

Telefon: 040/298 34 274<br />

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Wand- und Standuhren<br />

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Auszeit von der Arbeit:<br />

Der junge Mann ruht sich in Ugandas Hauptstadt Kampala<br />

(1,4 Millionen Einwohner:innen) kurz auf einem Plastikstuhl aus.<br />

„Er hat sich ,The Duke‘ genannt, der Lord. An seinen Fingern<br />

trug er zahlreiche Ringe. Ihm fehlten alle vier Schneidezähne.<br />

Das sah nach einer klassischen Schlägerei aus“, erinnert sich<br />

Hauke Wendler an die Begegnung. Der „Duke“ arbeitet als<br />

Träger auf dem einheimischen Markt und verrichtet dort täglich<br />

harte körperliche Arbeit. Da ist eine kurze Auszeit im Sitzen<br />

höchst willkommen. Sobald der nächste Wagen auf den Markt<br />

rollt, muss er schon wieder aufstehen und ausladen.<br />

Hauke Wendler<br />

ist Dokumentarfilmer und Produzent und lebt<br />

in Hamburg. 2006 gründete er mit Carsten<br />

Rau die „Pier 53 Filmproduktion“. Ihre Dokus<br />

(„Deportation Class“, „Willkommen auf<br />

Deutsch“) wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet.<br />

Monobloc läuft seit 27.1. in den<br />

Kinos. Fotobuch zum Film: „Monobloc“, 192 Seiten, Hatje Cantz,<br />

22 Euro. Podcast zum Film: www.huklink.de/podcast-monobloc<br />

43


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Professorin Sandra Meister hat Studierende bei der Analyse des<br />

Onlineshops von Hinz&<strong>Kunzt</strong> begleitet.<br />

Gute Waren, gut verpackt<br />

Wie kann der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Shop noch fairer handeln? Hamburger Studierende haben<br />

das Angebot im Fair Trade Hochschulwettbewerb unter die Lupe genommen.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: IMKE LASS<br />

44<br />

Halbe Sachen sind nichts für<br />

Professorin Sandra Meister.<br />

„Ich bin Berufsenthusiastin“,<br />

sagt die 48-Jährige<br />

und lacht. „Ich brenne schnell für Themen<br />

– und Hinz&<strong>Kunzt</strong> liegt mir sehr<br />

am Herzen.“ Deshalb freute sich die<br />

Marketingexpertin der Akademie für<br />

Mode & Design (AMD) besonders, dass<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> Kooperationspartner für<br />

ihre Student:innen im Hamburger Fair<br />

Trade Hochschulwettbewerb wurde.<br />

Keine leichte Aufgabe für die Zweitsemester.<br />

„Sie mussten sich ganz schön<br />

an die Decke strecken“, sagt Sandra<br />

Meister. „Normalerweise mache ich so<br />

etwas erst im 6. Semester.“<br />

Die Aufgabe: das Potenzial fair produzierter<br />

Produkte für unseren Onlineshop<br />

analysieren. „Normalerweise heißt<br />

das: Wie viel Umsatz wird gemacht?<br />

Wer kauft ein?“, sagt Sandra Meister.<br />

Diese Daten stehen bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

aber nicht im Vordergrund. Eine Analyse<br />

zu den Käufer:innen liegt nicht vor.<br />

Die 17 Studierenden konnten stattdessen<br />

einen Teil des Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreises<br />

befragen. Ein Ergebnis: Sondermagazine<br />

sind besonders gefragt.<br />

Wichtig ist den Nutzer:innen, dass die<br />

Waren fair produziert und gehandelt<br />

sind, Regionalität hat einen hohen Stellenwert,<br />

ebenso gute Qualität. Das alles<br />

bietet der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Shop bereits:<br />

vom Quijote-Kaffee bis zur Schürze aus<br />

recyceltem Meeresplastik.<br />

Unter den Kooperationspart ner:innen<br />

war Hinz&<strong>Kunzt</strong> das einzige soziale<br />

Projekt, eine zusätzliche Herausforderung<br />

für die Student:innen: „Die<br />

Restriktionen bei der Bespielung des<br />

Shops sind gravierend“, findet Sandra<br />

Meister und zählt auf: „Es gibt kein großes<br />

Lager, die Waren dürfen nicht zerbrechlich<br />

und müssen gut verpackt<br />

sein.“ Auch Alkohol sei bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

ein No-Go. Zu viele Verkäufer:innen<br />

kämpfen mit Alkoholproblemen: „Dafür<br />

mussten die Studierenden erst einmal<br />

sensibilisiert werden.“ Auch dass in<br />

einem sozialen Projekt nicht Gewinnmaximierung<br />

die Richtschnur ist, war<br />

für die Studierenden neu.<br />

Für die, von den Freundeskreis-<br />

Mitgliedern genannten, besonders interessanten<br />

Rubriken „Küche“, „Textilien“<br />

und „Deko“ machten die Studie-


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

renden konkrete Vorschläge: Neue<br />

Schürzen, Geschirrtücher, Kerzen und<br />

eine Schale und Salatbesteck sind dabei,<br />

alles nachhaltig und fair produziert.<br />

Sich gleichzeitig mit dem Thema<br />

Obdachlosigkeit auseinanderzusetzen,<br />

war für viele Studierende neu, berichtet<br />

Sandra Meister. Auch deshalb schätzt<br />

sie die Idee des Hochschulwettbewerbs.<br />

„Ich finde, der Wettbewerb schafft ein<br />

Bewusstsein für die soziale Schieflage,<br />

grundsätzlich und weltweit.“ Für die<br />

Student:innen sei der direkte Input<br />

durch Unternehmen oder Projekte in<br />

einem Realprojekt besonders wichtig.<br />

„Wenn ich feststelle, dass sie anfangen,<br />

sich für das Thema zu begeistern, kann<br />

ich einen Haken dranmachen“, sagt sie<br />

zufrieden.<br />

Für Hinz&<strong>Kunzt</strong> war die Aktion<br />

jedenfalls eine Bereicherung. Wir sind<br />

Freunde<br />

Teil eines großen Netzwerkes aus<br />

Firmen und Universitäten geworden,<br />

freut sich Fundraiserin Gabriele Koch:<br />

„Wir haben Kontakt hergestellt zu sehr<br />

jungen Menschen und ihnen unsere<br />

Arbeitsweise vorstellen können. Viele<br />

wären sonst nicht mit Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

in Berührung gekommen.“ Die Kapazitäten<br />

für Veränderungen seien zwar<br />

begrenzt, sagt Gabriele Koch. Aber:<br />

„Sicher werden wir darüber nachdenken,<br />

weitere Produkte aufzunehmen<br />

und vielleicht eine neue Sortierung vorzunehmen.“<br />

•<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Mehr Infos zum Hamburger<br />

Fair Trade Hochschulwettbewerb:<br />

www.fairtradestadt-hamburg.de<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler:innen/Student:innen/<br />

Senior:innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im <strong>Februar</strong> des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Wir danken allen unseren Spender:innen,<br />

die uns im Januar unterstützt haben,<br />

sowie allen Mitgliedern im Freundeskreis von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Wir freuen uns gleichermaßen<br />

über kleine und große Beträge!<br />

Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />

Facebook: ein großes Dankeschön!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• wk it services<br />

• die Hamburger Tafel • Obstmonster GmbH<br />

• Hanseatic Help<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• die Hamburger Kunsthalle<br />

• die St. Pauli Coffee GmbH für Spenden<br />

aus dem Verkauf des Kaffees „Clochard“<br />

• die Landeszentrale für Politische Bildung<br />

Hamburg und die Agentur alphabeta,<br />

die uns geholfen haben, die 8. Auflage<br />

des Kinderbuchs „Ein mittel schönes Leben“<br />

auf den Weg zu bringen.<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Jürgen Allemeyer • Luise Armonies<br />

• André Bagehorn • Katharina Bartsch<br />

Dankeschön<br />

• Firma Behnken, Becker + Partner GbR<br />

• Meike Boldt • Mathias Bonk<br />

• Achim Brenner • Pia Dabelstein<br />

• Anke Dircks • Carsten Dohse<br />

• Sabine Främbs • Tanja Friedemann<br />

• Steffen Geertz • Sabine Geisberger<br />

• Peter Greifenberg<br />

• Sandra und Markus Hahn • Ute Harren<br />

• Jonathan Hass • Torsten Hönisch<br />

• Jens Martin Hoyer • Berit Jessen<br />

• Ute Kenkel • Ute und Jürgen Kielmann<br />

• Thomas Kleiner • Alexander Kleinke<br />

• Rudolf Krank • Nicoline Krup<br />

• Martina Kruse • Hans-Joachim Lau<br />

• Michael Malert • Sabine Meurer<br />

• Rolf Meyer-Kawohl • Birte Müller<br />

• Anna Pillich • Klaus Reese<br />

• Lisa Reudenbach • Gudrun Rinninsland<br />

• Ramona Runge • Ruth Sanio-Metafides<br />

• Ingrid Schmidt • Barbara Schneble<br />

• Christine Schöppl • Ann-Kathrin Sieß<br />

• Michael Steigleder • Dirk Syllwasschy<br />

• Petra von Hoffen • Wiebke von Seth<br />

• Susan Wittke • Heiko Wongel<br />

• Astrid Zander<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

IBAN<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

45<br />

HK <strong>348</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Was unsere Leser:innen meinen<br />

„Der Krieg gegen Drogen ist längst verloren“<br />

„Die Prohibition beenden!“<br />

H&K online und diese Ausgabe S. 13,<br />

„Streit um Zaun gegen Obdachlose“<br />

Ich bin polytox süchtig, stabil subs tituiert<br />

und trocken. Im Leben wäre<br />

ich nicht auf die Idee gekommen, vor<br />

Schülern meinen Stoff zu spritzen.<br />

Hier haben Staat, Land und Stadt zu<br />

handeln und nicht ein wahrscheinlich<br />

eh schon überforderter Schulleiter.<br />

Was der Staat endlich umsetzen muss:<br />

Housing First konsequent umsetzen,<br />

Obdachlosenhilfe ausbauen, Randgruppen<br />

nicht weiter ausschließen,<br />

also bessere finanzielle Hilfen, Drogenkonsumräume<br />

installieren, Substitution<br />

ausbauen etc. Und vor allem auch die<br />

Prohibition beenden – der Krieg gegen<br />

Drogen ist längst verloren! Solche<br />

Zustände sind untragbar. <br />

<br />

BASTIAN A. VIA FACEBOOK<br />

„Lieber Kalle“<br />

H&K online und S. 22, „Schulterblatt:<br />

Obdachloser tot unter der Brücke gefunden“<br />

Ich bin absolut nicht gläubig – wünsche<br />

ihm aber so sehr, dass er nun an einem<br />

wunderschönen Ort ist … Ruhe in<br />

Frieden, lieber „Kalle“. CARMEN TUSZEWSKI<br />

„Ehrliche und klare Worte“<br />

H&K allgemein<br />

Ich bin noch immer sehr berührt von<br />

dem Stadtrundgang (mit Chris, siehe<br />

Anzeige unten, die Red.). Es waren deine<br />

ehrlichen und klaren Worte, deine<br />

Offenheit und dennoch die vielen<br />

Lacher.<br />

<br />

„Licht der Hoffnung“<br />

H&K 347, Titelbild „Auf zu neuen Ufern!“<br />

Danke für dieses gigantische Titelbild.<br />

Es strahlt aus, was Kunden und sogar<br />

ALEXANDRA BÜSSER<br />

Nichtkäufer anspricht. Wenn der<br />

Himmel, die Wolken und das tiefe<br />

dunkle Meer so harmonisch vereint<br />

sind, wird der nächste Sturm, die raue<br />

See kommen – doch das Licht der<br />

Hoffnung strahlt. HINZ&KÜNZTLER GERRIT<br />

Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />

Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />

an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />

Wir trauern um<br />

Piotr „Jan“ Iwanek<br />

17. Dezember 1950 – 30. November 2021<br />

Piotr ist bei einem Freund<br />

in der Wohnung verstorben.<br />

Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

Wollen Sie<br />

Hamburgs City<br />

einmal mit<br />

anderen Augen<br />

sehen? Abseits<br />

der glänzenden<br />

Fassaden zeigen wir<br />

Orte, die in keinem<br />

Reiseführer stehen:<br />

Bahnhofsmission<br />

statt Rathaus und<br />

Tagesaufenthaltsstätte<br />

statt Alster.<br />

Sie können mit<br />

unserem Stadtführer<br />

Chris zu Fuß auf<br />

Tour gehen, einzeln<br />

oder als Gruppe<br />

bis 25 Personen.<br />

Auch ein digitaler<br />

Rundgang ist<br />

möglich. Das ist fast<br />

genauso spannend.<br />

Offener Rundgang am Sonntag, 13.2. und 27.2.22, jeweils 15 Uhr<br />

Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />

www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />

Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />

Telefon: 040/32 10 84 04<br />

Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />

pro Person<br />

100Jahre<br />

Wenn die Welt<br />

auf einmal<br />

stillsteht.<br />

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Trauerfall – jederzeit.<br />

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040 - 24 84 00<br />

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<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Gelungene Improvisation: Regisseur Jan Georg Schütte arbeitet ohne Drehbuch und Proben (S. 48).<br />

Wohlige Erinnerung: Mit Autor Anselm Neft auf eine Tasse heiße Schokolade (S. 56).<br />

Neue Hoffnung: Hinz&Künztler Chamkauer versucht, mit dem Verkäuferlohn der Familie zu helfen (S. 58).<br />

Die Nachricht erwischt „Harper Regan“<br />

(Schauspielerin Anika Mauer) eiskalt: Ihr Vater<br />

liegt im Sterben. Überstürzt verlässt sie Mann<br />

und Tochter und macht sich auf die Reise.<br />

Doch bei der Ankunft ist ihr Vater schon tot.<br />

Harper droht den Boden unter den Füßen<br />

zu verlieren. Doch sie entdeckt auch neue<br />

Eigenschaften an sich, wagt für sie<br />

ungewöhnliche Bekanntschaften. Nach der<br />

Rückkehr zur Familie ist sie eine andere.<br />

Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-<br />

Platz 1, bis 20.2., unterschiedliche Uhrzeiten,<br />

22–44 Euro. Die Vorstellung am Sa, 12.02.,<br />

19.30 Uhr, wird mit Gebärdensprache und einer<br />

Einführung eine Stunde vor Vorstellungsbeginn<br />

angeboten.Weitere Infos:<br />

www.ernst-deutsch-theater.de<br />

FOTO: TIMMO SCHREIBER


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

„Ich war voll der<br />

Nischenheini“<br />

Autor, Schauspieler, Regisseur und ein Mann<br />

voller Überraschungen: Jan Georg Schütte hat<br />

Improvisation im Fernsehen salonfähig gemacht.<br />

Manchmal wundert er sich selbst,<br />

wie weit er damit schon gekommen ist.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />

Das hat er nun davon: Jan<br />

Georg Schütte gilt seit<br />

seinen Fernseherfolgen<br />

„Altersglühen – Speed<br />

Dating für Senioren“<br />

(2014), „Wellness für Paare“ (2016)<br />

und zuletzt „Kranitz – Bei Trennung<br />

Geld zurück“ (2021) als der Fachmann<br />

für Improvisation im deutschen TV. Er<br />

arbeitet ohne Drehbuch, ohne Texte,<br />

ohne Proben. Schütte drückt seinen<br />

Schauspieler:innen vor Drehbeginn<br />

dafür ein umfangreiches Booklet<br />

in die Hand. Darin: biografische<br />

Daten und Rollenprofile der Figuren.<br />

Der Rest: Improvisationstalent. Man<br />

kann den Mann mutig nennen. Oder<br />

halsbrecherisch.<br />

So einer ist privat sicher auch ein<br />

Gefahrensucher, könnte man meinen.<br />

Beim Fotoshooting fragt man ihn<br />

jedenfalls unverblümt, ob er nicht mal<br />

kurz auf das Kletternetz am Spielplatz<br />

steigen will. Kurz improvisieren. Der<br />

59-Jährige zögert nicht. „Ist ganz<br />

gemütlich hier oben“, sagt er, als er eine<br />

Position gefunden hat, in der er schaukelt,<br />

als läge er in einer Hängematte.<br />

Als Symbol taugt das allerdings<br />

nicht. Schüttes Berufsweg war eher<br />

unbequem, wie er beim Gang durch die<br />

Neue Mitte Altona erzählt. Geboren in<br />

Oldenburg, will er nach dem Zivildienst<br />

Schauspieler werden, kassiert jedoch bei<br />

den bekannten Schulen nur Absagen.<br />

In Hamburg findet er mit 20 Jahren<br />

einen Privatlehrer. Er lebt auf winzigen<br />

acht Quadratmetern in einem WG-<br />

Zimmer und träumt doch wie ein Riese:<br />

„Ich wollte innerhalb von zehn Jahren<br />

einen Oscar gewinnen“, sagt er. Diesen<br />

Größen wahn benötige man als Schauspieler,<br />

findet er. „Wenn du dir denkst:<br />

‚Ich werde so ganz okay‘, dann brauchst<br />

du diesen Beruf erst gar nicht beginnen.“<br />

Bei einem Workshop in New York<br />

trifft er auf seine Mentorin Susan Batson.<br />

Die Schauspiellehrerin, die heute<br />

internationale Stars wie Nicole Kidman<br />

und Juliette Binoche coacht, glaubt an<br />

sein Talent, sagt ihm aber schon damals,<br />

dass er später einmal Regie führen<br />

wird. Davor müsse er aber 25 Jahre<br />

auf der Bühne stehen. Schütte: „Das<br />

Verrückte: Genau so ist es gekommen.“<br />

Bei einem frischen Minz-Ingwer-<br />

Tee („Ich bin leider kein Kaffee trinker.“)<br />

vor dem Nachbarschaftscafé erzählt<br />

Schütte von seinen Theaterjahren:<br />

Köln, Hannover, das Thalia in Hamburg.<br />

Nicht seine glücklichste Zeit. Es<br />

zieht ihn zum Fernsehen. Seit 1995<br />

sieht man ihn in Serien und Filmen<br />

(unter anderem „Großstadtrevier“ und<br />

„Tatort“), meist in Nebenrollen. Dazwischen<br />

immer wieder Theater. Eines<br />

Tages realisiert er mitten auf der Bühne,<br />

wie unzufrieden er ist: „Ich war von<br />

mir selbst gelangweilt. Alles war<br />

so festgelegt. Das, was eigentlich eine<br />

schöne Geschichte ausmacht, die<br />

Überraschung, habe ich fast gar nicht<br />

mehr gesehen. Da wusste ich, ich muss<br />

grundsätzlich etwas ändern“, sagt er.<br />

48


Ein Mann mit vielen<br />

Talenten: Jan Georg<br />

Schüttes Schaffen ist<br />

breit gefächert.


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Mit spontanen Balanceakten, wie hier am Kletternetz, kennt sich Schütte aus.<br />

2006 führt er erstmals Regie („Swinger<br />

Club“), schreibt zudem Hörspiele. Das<br />

Handwerk dazu bringt er sich selbst<br />

bei. Eine gute Entscheidung, sagt er<br />

rückblickend. „Ich musste dadurch<br />

meinen eigenen Weg entwickeln.“<br />

Seine Arbeit läuft anfangs weithin<br />

unter dem Radar: „Ich war der absolute<br />

Nischenheini“, sagt er. „Meine Kinofilme<br />

haben, wenn es hochkommt,<br />

10.000 Leute gesehen. Wenn sie überhaupt<br />

im Fernsehen liefen, dann um<br />

0.50 Uhr.“ Bis ein öffentlich-rechtlicher<br />

Sender anklopft. „Ich hatte ja auch<br />

Hörspiele gemacht. Für ‚Altersglühen‘<br />

habe ich den Hörspielpreis bekommen,<br />

und dann war es der WDR, der gesagt<br />

hat, ‚Komm, das Ding kann man doch<br />

auch drehen!‘“ Es ist ein gewagtes<br />

Experiment, das mit etablierten Sehgewohnheiten<br />

bricht: Senior:innen<br />

sprechen frei Schnauze über ihre Sehnsüchte<br />

und das zur Primetime um<br />

20.15 Uhr. Schütte: „Die Bedingung<br />

war, dass es sehr prominent besetzt sein<br />

muss, damit die Leute das gucken.“<br />

Schütte fährt nach München zu<br />

Senta Berger. „Sie stand da vor ihrer<br />

Villa in einem Stretch-Wollkleid und<br />

sagte zu mir: ‚Kommen sie doch rein,<br />

Herr Schütte!‘ Dann hat sie mir erst mal<br />

Schnittchen vorgesetzt. Ich beiße gerade<br />

in ein dick mit Remoulade belegtes Brot,<br />

als sie mich auffordert: ‚ Jetzt sagen sie<br />

doch mal, worum es geht!‘ (lacht) Dann<br />

habe ich ihr mit Remoulade auf der<br />

Zunge meine Idee erklärt. Nach einer<br />

längeren Pause hat sie mich angeguckt<br />

und gesagt: ‚ Ja, Herr Schütte, das<br />

können wir machen.‘ Ab da wusste ich,<br />

dass es laufen wird.“<br />

Es läuft. Und wie. „Altersglühen“<br />

räumt sowohl bei Zuschauer:innen als<br />

auch in der Kritik ab, bekommt den<br />

Adolf-Grimme-Preis neben vielen anderen<br />

Ehrungen. Schütte hat jetzt einen<br />

Namen als Regisseur. „Nicht gesalbt,<br />

nicht gestelzt, authentisch“, lobt „Der<br />

Spiegel“ das intime Stelldichein von<br />

Deutschlands Schauspiel-Granden.<br />

Schütte erinnert sich, dass selbst der<br />

gestandene Adorf „anfangs ziemlich<br />

bleich um die Nase war“ beim Drehen.<br />

„So ist es beim ersten Mal. Aber die<br />

Schauspieler:innen haben ja auch die<br />

Möglichkeit, Pausen zu machen. Wer<br />

erschöpft ist, kann sich mal in die Ecke<br />

hocken, wie im Leben. Das sind die Momente,<br />

die ich auch dringend brauche.<br />

Wo jemand mal nicht groß was spielt.“<br />

Schüttes Ziel: so lebensnah wie möglich<br />

agieren. Emotionen zeigen, unverstellt.<br />

Nicht immer gelingt das. „Für<br />

meinen ‚Tatort‘ („Das Team“, 2019,<br />

d. Red.) habe ich ordentlich auf die Fresse<br />

bekommen“, sagt Schütte. Ein Krimi<br />

und ein Ensemble bekannter Kommissare,<br />

die drauflos improvisieren, das<br />

ging für viele so gar nicht zusammen.<br />

Was den Regisseur aber „maßlos“ ärgert,<br />

ist der Vorwurf, dass seine Figuren<br />

holzschnittartig seien: „Die können ja<br />

gar nicht holzschnittartig sein. Ich<br />

schreibe denen ja nicht vor, wie sie zu<br />

gucken und zu handeln haben“, sagt er.<br />

FOTOS UNTEN (VON LINKS): ARD DEGETO/NDR/THOMAS LEIDIG,<br />

ARD DEGETO/GEORGES PAULY, WDR/GEORGES PAULY<br />

Dreimal Schüttes Werk: Dreharbeiten zu „Kranitz“ (links), Szene aus „Das Begräbnis“ (Mitte), Senioren-Sehnsucht in „Altersglühen“ (rechts)<br />

50


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

BARES IS NIX RARES<br />

(CASH – UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER)<br />

KOMÖDIE VON MICHAEL COONEY // 27.2. – 23.4.<strong>2022</strong><br />

Schütte im TV & Honduras-Hilfe:<br />

„Das Begräbnis“ ist noch bis 22.2. immer dienstagabends<br />

in der ARD zu sehen, Start zwischen 22.50 und<br />

23 Uhr. Alle Folgen (6) sind in der Mediathek abrufbar.<br />

Hilfe für Straßenkinder in Honduras:<br />

www.accion-humana.com<br />

Genau so hat er es auch in seiner neuesten Arbeit<br />

fürs Fernsehen gehalten: „Das Begräbnis“ erzählt in<br />

sechs Teilen die Geschichte der Beerdigung des<br />

Patriarchen Wolf-Dieter Meurer. Das Wiedersehen<br />

von geladenen und ungebetenen Gästen führt zu<br />

zahlreichen Konflikten, ist zugleich Familiensaga wie<br />

Ost-West-Geschichte. Gedreht wurde am Schalsee.<br />

Mit dabei ist auch Charly Hübner, eine von Schüttes<br />

Geheimwaffen. Der Regisseur ahnt, was ihm und<br />

anderen Schauspieler:innen an der Zusammenarbeit<br />

gefällt: „Normalerweise ist Schauspiel ja sehr technisch.<br />

Du gehst zu einem fixierten Punkt, guckst irgendwo<br />

hin und sagst deinen Text auf. Die Technik<br />

regiert und die Emotionen folgen.“ Bei ihm sei es anders.<br />

„Es ist wie früher: Als Kind hat man Cowboy<br />

gespielt und dann war man einfach den ganzen Tag<br />

über Cowboy.“<br />

Eine Frage drängt sich auf: Kann der Regisseur<br />

privat auch so gut loslassen wie im Beruf ? Schütte<br />

lächelt: „Ich mache ziemlich viele Pläne.“ Sein<br />

Kalender ist Anfang des Jahres schon prall gefüllt.<br />

Eigentlich wollte er etwas kürzer treten: aus Eigenschutz<br />

– aber die zweite Staffel von „Kranitz“, in der<br />

er nicht nur Regie führt, sondern auch in der Hauptrolle<br />

den hemdsärmeligen Paartherapeuten gibt, ist<br />

schon bestellt. „Ich muss ein bisschen aufpassen mit<br />

meinen Ideen, weil die fast alle umgesetzt werden“,<br />

sagt er fast entschuldigend. Und dann ist da ja auch<br />

noch seine Schirmherrschaft für „Acción Humana“,<br />

einer privaten Hamburger Stiftung, die sich für<br />

Straßenkinder in Honduras einsetzt. Über seine<br />

Schwester ist er auf das Thema aufmerksam geworden.<br />

Sie und ihr Mann unterstützen ein ehemaliges<br />

Straßenkind. „Der ist heute Ingenieur“, sagt Schütte.<br />

Was will er selbst noch erreichen? Jan Georg<br />

Schütte überlegt. „Einen Oscar erträume ich mir<br />

nicht mehr, aber ich hätte Bock, auch mal international<br />

zu arbeiten. Eine neue Fassung von<br />

‚Altersglühen‘ mit Meryl Streep und Robert De<br />

Niro, das wäre schon was.“ •<br />

Simone Deckner kann mit Improvisation<br />

eigentlich nur wenig anfangen. Wer es<br />

aber schafft, Schauspieler:innen so<br />

spielerisch aus ihrer Komfortzone zu holen<br />

wie Jan Georg Schütte, verdient Respekt.<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

51<br />

21.3.<strong>2022</strong> bis 3.4.<strong>2022</strong><br />

Levantehaus Hamburg<br />

SHOPPEN<br />

&<br />

SPENDEN<br />

Hinz&Künztler:innen verkaufen<br />

Vintage-Ware und Einzelstücke<br />

von<br />

Der Erlös geht an Hinz&<strong>Kunzt</strong>, das Hamburger Straßenmagazin<br />

Foto: Sinje Hasheider


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat <strong>Februar</strong>:<br />

zum Hinschauen, Hören<br />

und Wegträumen<br />

Planetarium<br />

Wenn einer seinen Träumen folgt<br />

Das Jugendbuch „Das silberne Segel“<br />

von Wolfram Eicke liefert den Stoff für<br />

diese wahrhaft galaktische Planetariumsshow,<br />

ein Musical unterm Sternenhimmel.<br />

Darin folgt Randolf, ein Waisenkind<br />

im Dreißigjährigen Krieg, einer<br />

alten Prophezeiung und begibt sich auf<br />

eine abenteuerliche Suche über die<br />

Weltmeere. „Den Herzen der Menschen<br />

die Dunkelheit nehmen“, das soll<br />

das silberne Segel können. Doch auch<br />

der Piratenkapitän Eisenfuß ist auf der<br />

Jagd nach diesem Schatz. Uwe Ochsenknecht,<br />

Annett Louisan, Naima, Rolf<br />

Reise zu den Sternen in Fulldome-Technik<br />

Zuckowski und andere Prominente<br />

leihen den animierten Figuren ihre<br />

Stimmen. Schöner Titelsong: „Am<br />

Anfang steht immer ein Traum“. •<br />

Planetarium Hamburg, Linnering 1, Fr, 4.2.,<br />

So, 6.2., Sa, 12.2. und Fr, 18.2., Eintritt<br />

12/7,50 Euro, www.planetarium-hamburg.de<br />

52


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Alternative<br />

Lebensr äume:<br />

Garagen umgestaltet<br />

zu<br />

Fitness tempeln,<br />

Liebesnestern<br />

oder Wachtelfarmen<br />

Konzert, Lesung, Huldigung<br />

Götterdämmerung mit Patti<br />

… Smith. Künstlerin Helene Hegemann<br />

traf die legendäre Musikerin<br />

als Teenager beim Proben, da eröffneten<br />

sich ihr ganz neue Ideenwelten.<br />

Mit Sophie Rois, Marie Rosa Tietjen<br />

und Daniel Zillmann bringt die<br />

inzwischen selbst Berühmte eine<br />

Hommage auf die Bühne. •<br />

Kampnagel, Jarrestr. 20, Sa, 5.2., 20 Uhr,<br />

Eintritt 16/9 Euro, www.kampnagel.de<br />

FOTOS: PLANETARIUM BOCHUM (S. 52), HANNAH HALLERMANN STARTBLOCK 2020 (UNTEN);<br />

FILMSTILL: 2020 MISSINGFILMS – FILMVERLEIH & WELTVERTRIEB<br />

Kino<br />

Wachtelzucht in der Garagensiedlung<br />

In Hamburg gibt’s das wohl noch nicht. Aber um ungewöhnliche Einblicke in<br />

die Lebenswelt anderer Menschen zu bekommen, kann man ja ins Kino gehen.<br />

Beim Dokumentarfilmsalon St. Pauli läuft der Film „Garagenvolk“ von Regisseurin<br />

Natalija Yefimkina, den wir Ihnen aufgrund seiner absurden Kreativität ans<br />

Herz legen. Es geht um Menschen im Norden Russlands, in Städten und Dörfern<br />

hinter dem Polarkreis, und was sie so in ihren Hobbyräumen treiben – wenn die<br />

Nächte lang und kalt sind und die reglementierende Regierung nicht zuguckt.<br />

Wohlgemerkt eine Doku, keine Fiktion. Tragisch, skurril und heiter – hier gibt<br />

es alles, und noch viel mehr scheint möglich. •<br />

B-Movie, Brigittenstraße 5, jeweils am Di, 8.2. und 22.2., 20 Uhr, Eintritt frei,<br />

Spenden willkommen, Karten reservieren auf www.dokumentarfilmsalon.org<br />

Gruppenausstellung<br />

Alles Schöne kommt vom Spiel<br />

Was wären wir Menschen ohne das Spiel? Die Frage liegt der von Jan Kage kuratierten<br />

Ausstellung „Form Spiel“ zugrunde, die vornehmlich plastische Werke von<br />

in Berlin arbeitenden Künstler:innen nach Hamburg bringt. Manchmal kommt<br />

beim Spiel auch etwas Bahnbrechendes<br />

heraus, wie die Erfindung<br />

des Rades: der Form der<br />

Sonne nachgemacht, war etwas<br />

Praktisches zum Transportieren<br />

von Lasten das Resultat. Sieben<br />

Künst ler :innen treiben das Spiel<br />

weiter, setzen die Schönheit<br />

einer Form ihrem Werk voraus<br />

und schauen, was aus Assoziationen<br />

und Farbkonstellationen<br />

werden kann. Zu sehen in den<br />

luftigen Räumen der Galerie in<br />

Rothenburgsort. •<br />

Evelyn Drewes, Brandshofer Deich<br />

52, Fr, 5.2. bis Fr, 18.3., immer Di–Fr<br />

von 14–18 Uhr, Verkaufsausstellung,<br />

Eintritt frei, www.evelyndrewes.de<br />

Das Werk von Hannah Hallermann:<br />

„Startblock“, Kachel und Kohle<br />

Diskussion<br />

Was heißt Sprachsensibilität?<br />

Müssen wir unser Sprechen und<br />

Schreiben verändern, um für mehr<br />

Gerechtigkeit im Umgang miteinander<br />

zu sorgen und Diskriminierungen<br />

zu vermeiden? Darüber reden<br />

die Journalistin Petra Gerster und<br />

die Linguistin Ewa Trutkowski. •<br />

Literaturhaus, Schwanenwik 38,<br />

Di, 22.2.,19.30 Uhr, Eintritt 12/8 Euro,<br />

Streamingticket 5 Euro,<br />

www.literaturhaus-hamburg.de<br />

Kunst<br />

Anita Suhr<br />

Die Werke der weitgehend unbekannten<br />

Hamburger Künstlerin sind<br />

spannende Zeitdokumente. Wegen<br />

„Vorbereitung zum Hochverrat“ war<br />

sie von 1935 bis 1941 in Haft, so im<br />

Frauenschutzhaftlager Moringen und<br />

in den KZs Fuhlsbüttel und Ravensbrück.<br />

Die Stiftung Hamburger Gedenkstätten<br />

zeigt mehr als 30 Werke. •<br />

Forum Alstertal, Kritenbarg 18,<br />

bis So, 27.2., 8–18 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.forum-alstertal.de<br />

Familie<br />

Bento-Box-Workshop<br />

In Japan gehört die Bento Box zum<br />

Alltag vieler Schüler:innen. Sie ist<br />

praktisch und auch optisch ein Genuss.<br />

Im Kinder-Kochkurs im Museum<br />

am Rothenbaum wird die Kunst<br />

der Bento Box praktisch erläutert. •<br />

Markk, Rothenbaumchaussee 64, So,<br />

27.2., 4 Euro (plus Museumseintritt 8,50<br />

Euro für Erw.), www.markk-hamburg.de<br />

53


Wanderung<br />

Expedition Marsch<br />

In und um Hamburg gibt es so manches<br />

Naturhighlight zu entdecken. Der<br />

Regionalpark Wedeler Au zum Beispiel<br />

liegt im Westen Hamburgs und umfasst<br />

12.000 Hektar von der Elbe über die<br />

Marsch bis in die Geest. Ein ideales Ziel<br />

für lange Fahrradausflüge oder Wanderungen.<br />

Letztere bietet auch der Naturschutzbund<br />

Deutschland e. V. (NABU)<br />

an. Jeden Monat führen Expert:innen<br />

vom NABU Halb- und Ganz tages-<br />

Wanderungen in Hamburg und<br />

der näheren Umgebung durch, eine<br />

Ein ladung, die norddeutsche Umwelt<br />

einmal mit den Augen der Fachleute<br />

zu betrachten. Am 19. <strong>Februar</strong> stellt<br />

Ernst Schaumann Naturliebhabenden<br />

die Wedeler Marsch bei einer winterlichen<br />

Wanderung vor. Die Tour ist<br />

neun Kilometer lang, festes Schuhwerk<br />

54<br />

Wedeler Marsch, frostig schön<br />

wird dringend empfohlen. Auch ein<br />

Fernglas kann nicht schaden. •<br />

Wedeler Au, NABU-Vogelstation,<br />

Hetlingen. Hbf. S1 um 9.18 Uhr bis Wedel.<br />

Am Bahnhof Treffen bis 10 Uhr,<br />

Rückkehr nach Wedel 16 Uhr, Sa, 19.2.,<br />

Eintritt frei, gegebenenfalls geteilte<br />

Kosten bei Gruppen-Bahntickets,<br />

Teilnahme nur mit Anmeldung unter<br />

www.huklink.de/nabu-wanderprogramm/


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Kinofilm des Monats<br />

Schule vor der<br />

Leinwand<br />

FOTOS: NABU/FLORIAN BRAUN (S. 54), RIVER CONCERTS GMBH (OBEN), PRIVAT<br />

Konzert und Podcast<br />

„Fabrik“ zum Hören<br />

Historisch<br />

Kann das weg?<br />

Beim Thema Denkmal und Denkmalschutz<br />

scheiden sich mitunter die<br />

Geister. Was für den einen historische<br />

Augenweide und Zeitkunst ist, ist für<br />

den anderen in die Jahre gekommener<br />

Ballast. Die multimediale Wanderausstellung<br />

„Liebe oder Last?! Baustelle<br />

Denkmal“ wirft einen ungewöhnlichen<br />

Blick auf das kontroverse Thema<br />

Denkmalschutz und gibt Antworten<br />

auf viele Fragen, irrtümliche Annahmen<br />

oder gängige Vorurteile. Sechs<br />

interaktive Stationen in Form von<br />

Baugerüsten ergeben eine Baustellen-<br />

Begehung, die sowohl für kleine als<br />

auch große Besucher:innen geeignet<br />

ist. Die Ausstellung ist zweisprachig<br />

kommentiert auf Englisch und<br />

Deutsch. •<br />

Hauptkirche St. Katharinen, Katharinenkirchhof<br />

1, täglich bis So, 27.2., 10–17 Uhr,<br />

Eintritt: frei, www.denkmalschutz.de/<br />

ausstellung<br />

US-Band Nada Surf, seit den<br />

frühen 1990er-Jahren fester<br />

Bestandteil im Indie-Rock-Kosmos<br />

Im <strong>Februar</strong> will die US-Indie-Rock-Band Nada Surf endlich ihr wegen Corona<br />

verschobenes Konzert in der Fabrik nachholen – so der Stand zum Redaktionsschluss.<br />

Wir wissen, man weiß nie, deshalb empfehlen wir zur Steigerung der<br />

Vorfreude oder als Cliffhanger bei erneuter Konzertverlegung die Podcastfolge<br />

mit Nada Surf. Ja, die Fabrik hat einen eigenen Podcast. Stephan Maier stellt<br />

darin die Künstler:innen vor, die in der Ottensener Location auftreten. •<br />

Fabrik, Barnerstaße 36, Do, 17.2., 20 Uhr, Eintritt ab 34,20 Euro, www.fabrik.de<br />

Literatur<br />

Sprachzauberei<br />

Axel Hackes Lesungen brillieren mit<br />

Schlagfertigkeit und Witz. Bereits<br />

seit einigen Jahren widmet sich der<br />

Schriftsteller der Kunst des falsch<br />

verstandenen Wortes. Darum geht es<br />

auch in seinem aktuellen Werk „Im<br />

Bann des Eichelhechts und andere<br />

Geschichten aus Sprachland“, in dem<br />

er aus Verhörtem nicht nur neue<br />

Sprachwelten, sondern gleich ein<br />

neues Land mit eigenen Regeln entwirft.<br />

Das Ergebnis ist urkomisch und<br />

zeigt, wie zauberhaft Sprache ist. •<br />

Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee<br />

39, Mi, 16.2., 20 Uhr, 25/10 Euro,<br />

www.schauspielhaus.de<br />

Über Tipps für März freuen sich<br />

Simone Rickert und Regine Marxen.<br />

Bitte bis zum 10.2. schicken an:<br />

kult@hinzundkunzt.de<br />

Regelmäßige Leser:innen<br />

dieser Kolumne kennen die<br />

Begeisterung des Autors für<br />

das 3001 Kino. Denn zwei- bis<br />

dreimal im Jahr stelle ich hier<br />

Teile des 3001-Programms<br />

vor. Ich gebe zu: Ich bin befangen.<br />

Denn für mich ist das<br />

kleine Kino im Hinterhaus so<br />

etwas wie ein gallisches Dorf<br />

inmitten des sich stark verändernden<br />

Schanzenviertels.<br />

Die Macher :innen sichern<br />

mit viel Kreativität ihr Bestehen<br />

– was aktuell nicht gerade<br />

einfacher geworden ist.<br />

Mit einer tollen Aktion<br />

für Kinder bietet das 3001<br />

nun Grundschulklassen Ablenkung<br />

von schnöder Paukerei.<br />

Vom 21. <strong>Februar</strong> bis zum<br />

4. März können sich Schüler:innen<br />

unter dem Motto<br />

„Rabauken-Kino“ zusammen<br />

mit ihren Lehrer:innen<br />

aus zwölf Filmen ihren Lieblingsfilm<br />

aussuchen und<br />

diesen dann in einer covidkonformen<br />

Privatvorführung<br />

ansehen. Alle Filme sind<br />

unterhaltsam und vertiefen<br />

unterschiedliche auf dem Bildungsplan<br />

stehende Themen.<br />

„Checker Tobi“, die „Olchis<br />

in Schmuddelfing“ oder<br />

der „Der kleine Vampir“ –<br />

die Auswahl ist groß und<br />

behandelt altersgerecht Bereiche<br />

wie Freundschaft, Ausgrenzung,<br />

Toleranz oder<br />

auch erste Liebe. Schließlich<br />

ist das, was für Erstklässler<br />

noch brüllend komisch ist,<br />

für Viertklässler oft schon Babykram.<br />

So wird der Klassenausflug<br />

sicher einer, über den<br />

noch länger geredet wird. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

55


Leselounge<br />

#4<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Auf ein Getränk mit …<br />

Anselm Neft<br />

Der Autor trifft unsere Kolumnistin<br />

Nefeli Kavouras auf eine heiße Schokolade –<br />

wegen der Kindheitserinnerungen.<br />

In einen langen dunklen Mantel gekleidet,<br />

wehte vor etwa drei Jahren Anselm<br />

Neft in mein Leben. Damals wohnte<br />

der in Bonn geborene Autor noch nicht<br />

lange in Hamburg und wurde Teil einer<br />

Schreibgruppe, in der Autor:innen –<br />

und auch ich – über ihre Texte diskutierten.<br />

Es war von Beginn an nicht<br />

möglich, Anselms Fragen auszuweichen,<br />

und neben seiner Souveränität<br />

beim Aufdecken der Textlücken kam<br />

ich mir im Vergleich zu ihm direkt weniger<br />

erwachsen vor.<br />

Mittlerweile führen wir den gemeinsamen<br />

Literaturpodcast „Laxbrunch“,<br />

sehen uns oft und ich kenne durch die<br />

Schreibgruppe viele seiner Textauszüge.<br />

Seine Bücher hatte ich aber noch nicht<br />

FOTOS: IMKE LASS<br />

gelesen. Für diese Kolumne änderte ich<br />

das nun. Sein mittlerweile fünfter Roman<br />

„Späte Kinder“ erschien kürzlich<br />

im Rowohlt Verlag.<br />

Wir treffen uns, auf Anselms Wunsch<br />

hin, im Café Katzentempel, das Heimat<br />

mehrerer Katzen ist – voriges Jahr hatte<br />

er sich während eines Italienurlaubs<br />

urplötzlich in Katzen schockverliebt.<br />

Anselm entscheidet sich für eine heiße<br />

Schokolade mit malerisch schöner<br />

Sahnehaube. Das Getränk steht für ihn<br />

mit einer wohligen Kindheitserinnerung<br />

in Verbindung. Er wollte darin<br />

noch einmal schwelgen. Kein Wunder<br />

also, dass wir schnell auf seine Kindheit<br />

zu sprechen kommen. Damals hegte er<br />

den Traum, später eine Villa am Wald-<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

rand zu be sitzen, dort zurückgezogen<br />

und mit vielen Büchern, einem Diener<br />

und einer Katze zu wohnen. Das, was<br />

er schon als Kind so liebte, sich in<br />

Fantasien zu verlieren, konnte er sich<br />

durch seinen Beruf bewahren.<br />

Auch seine Protagonist:innen in<br />

„Späte Kinder“, Sophia und Thomas,<br />

tauchen in ihre Kindheitserinnerungen<br />

ein. Die Zwillinge treffen sich nach dem<br />

Tod der Mutter in ihrem Elternhaus<br />

wieder und müssen sich mit ihrer Lebensrealität<br />

auseinandersetzen. Der<br />

Roman gleicht einer „Comig of Age“-<br />

Geschichte von Erwachsenen, die<br />

plötzlich der Unerfülltheit der eigenen<br />

Träume und der eigenen Sterblichkeit<br />

gegenüberstehen.<br />

Ich frage Anselm, ob er sich erwachsen<br />

fühlt, er antwortet: „Das habe ich<br />

mich auch oft gefragt. Wann bin ich<br />

eigentlich richtig erwachsen? Wenn ich<br />

den Führerschein habe? Wenn ich 20<br />

bin? Wenn ich 30 bin? Jetzt bin ich bald<br />

50 und …“ – in dem Moment kommt<br />

die Kellnerin, bringt die zweite Fuhre<br />

heiße Schokolade, und ich verpasse<br />

Anselms Antwort. Doch er wiederholt,<br />

was für ihn das Erwachsensein ausmacht:<br />

„Die Verantwortung für das eigene<br />

Leben und die eigenen Gefühle zu<br />

übernehmen und das Beste daraus zu<br />

machen, was in meiner Macht steht.“<br />

Es hat sich während des Treffens<br />

keine Katze zu uns gesellt, vielleicht<br />

war unser Gespräch zu anregend, aber<br />

wir vermissen nichts. Die heiße Schokolade<br />

klebt süß auf meiner Zunge, und<br />

der Autor, der das Kindsein noch in<br />

sich trägt, erzählt mir lachend: „Ich<br />

wollte schon immer ein alter weiser<br />

Mann werden.“ Dann streicht er sich<br />

die Sahne von den Lippen. •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Lesetipp:<br />

„Die geheime<br />

Geschichte“ von<br />

Donna Tartt. Das<br />

Buch hat Anselm<br />

Neft schon viermal<br />

gelesen, ohne genau<br />

zu wissen warum. Es fesselt ihn einfach<br />

so sehr, dass er sich darin verlieren kann.<br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

schiffbarer<br />

Kanal in<br />

Hamburg<br />

Vergeltung,<br />

Rache<br />

extrem<br />

modisch<br />

gekleideter<br />

Mann<br />

Mähgerät<br />

österr.<br />

Spitzenkoch<br />

(Johann)<br />

Südwind<br />

am Gardasee<br />

Weidmannsrevierpächter<br />

Laubbaum,<br />

Birkengewächs<br />

nachgemachtes<br />

Zahlungsmittel<br />

deutscher<br />

Fußballtorwart<br />

(Manuel)<br />

jetzt<br />

zügelloses<br />

Gelage<br />

4<br />

6<br />

8<br />

1<br />

schwed.<br />

Autorin<br />

† 1940<br />

(Selma)<br />

Zusatz<br />

zum<br />

Ackerboden<br />

lateinisch:<br />

im Jahre<br />

5<br />

1<br />

9<br />

2<br />

6<br />

3<br />

2<br />

6<br />

vor<br />

Kurzem<br />

3<br />

3<br />

2<br />

1<br />

3<br />

Beständigkeit<br />

entscheidende<br />

Situation<br />

4<br />

5<br />

4<br />

5<br />

TV-Moderator<br />

(Johannes<br />

B.)<br />

9<br />

4<br />

2<br />

veraltet:<br />

Wechsel<br />

5<br />

7<br />

2<br />

4<br />

3<br />

Entwicklungsstufe<br />

Ureinwohner<br />

Neuguineas<br />

Herbstblume<br />

Zuckerrohrschnaps<br />

Adriainsel<br />

(Kroatien)<br />

Landstück<br />

für den<br />

Kleinanbau<br />

Laubbaum<br />

Ausruf<br />

des Erstaunens<br />

Hinter-<br />

frühere<br />

lassen-<br />

schaft, d. Druckes<br />

Einheit<br />

Nachlass (Abk.)<br />

6<br />

5<br />

8<br />

AR0909-1219_12sudoku<br />

Hautflüglerfamilie<br />

altrömisches<br />

Obergewand<br />

Roman<br />

von Zola<br />

Präsident<br />

kurz für: Russlands<br />

an das (Wladimir)<br />

Einrichter<br />

eines<br />

Musikstücks<br />

Teil des<br />

Gartens<br />

ausgestorbener<br />

Feuerld.-<br />

Indianer<br />

unbest.<br />

weibl.<br />

franz.<br />

Artikel<br />

griech.<br />

Vorsilbe:<br />

darauf,<br />

darüber<br />

die Unwahrheit<br />

sagen<br />

die Landwirtschaft<br />

betreff.<br />

einsame<br />

Gegend<br />

griech.<br />

Vorsilbe:<br />

auf,<br />

hinauf<br />

Füllen Sie das Gitter<br />

so aus, dass die Zahlen<br />

von 1 bis 9 nur je einmal<br />

in jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 28. <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />

zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von<br />

drei Taschenbüchern „Die Stumme Tänzerin“ von Helga Glaesener<br />

(Rowohlt Verlag).<br />

Das Lösungswort des Dezember-Kreuzwort rätsels war: Ankerkette.<br />

Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: <strong>348</strong> 579 621.<br />

6<br />

9<br />

7<br />

9<br />

4<br />

7<br />

8<br />

8<br />

4<br />

9<br />

1<br />

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2 121912 – raetselservice.de<br />

10<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Annette Woywode (abi, CvD; V.i.S.d.P. für den Titel,<br />

Gut&Schön, die Fotostrecken, Freunde, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult)<br />

Jonas Füllner (jof, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats, Momentaufnahme)<br />

Lukas Gilbert (lg, V.i.S.d.P. für den Schwerpunkt Arbeit),<br />

Ulrich Jonas (ujo), Benjamin Laufer (bela),<br />

Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Jochen Harberg (joc),<br />

Anna-Elisa Jakob (aej), Nefeli Kavouras (mnk),<br />

Misha Leuschen (leu), Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 27 vom 1. Januar <strong>2022</strong><br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />

Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />

Sigi Pachan, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />

Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Leichte Sprache capito Hamburg, www.capito-hamburg.de<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />

vom 15.3.2021 für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />

von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />

unterstützen die Verkäufer:innen.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 4. Quartal 2021:<br />

72.333 Exemplare<br />

57


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

Von der Hand<br />

in den Mund<br />

Chamkauer, 43, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> in Steilshoop.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER; FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Noch vor einem dreiviertel Jahr schlief<br />

Hinz&Künztler Chamkauer im Freien.<br />

„It was a hard time“, sagt der Inder, der<br />

ein Mischmasch aus Deutsch und Englisch<br />

spricht. Ein anderer Obdachloser<br />

habe ihn schließlich auf Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

aufmerksam gemacht. Ein Glücksgriff.<br />

„Ich liebe meine Arbeit“, sagt Chamkauer<br />

und lächelt.<br />

Er kramt sein Telefon hervor, wischt<br />

über den Bildschirm und startet ein<br />

selbstgedrehtes Video. Die Kamera<br />

schwenkt über einen Supermarkt-Parkplatz.<br />

„Dort gibt es essen. Dort Berliner“,<br />

sagt Chamkauer und zeigt aufgeregt<br />

auf zwei Imbisswagen. Jetzt sieht man<br />

den Supermarkt. Chamkauer stoppt das<br />

Video, zoomt ins Bild und zeigt mit dem<br />

Finger auf den Eingang. „Und da stehe<br />

ich“, sagt der 43-Jährige. Seine Stimme<br />

klingt so stolz, als würde er gerade ein<br />

neues Auto vorführen.<br />

Für den Hinz&Künztler ist das, was<br />

er dort präsentiert, sogar größer. Der<br />

Magazinverkauf hat ihm, der sich mit<br />

Gelegenheitsjobs in Restaurants durchschlug,<br />

Türen geöffnet. Zuvor landete<br />

Chamkauer immer wieder auf der Straße,<br />

wenn er mal wieder kein Geld erhielt.<br />

Einen Arbeitsvertrag besaß er nie.<br />

Mit dem Verkauf des Magazins verdient<br />

er jetzt regelmäßig Geld. Nicht<br />

viel, aber er kann eine kleine Zimmermiete<br />

zahlen. Wenn Geld übrig ist,<br />

schickt Chamkauer es an die Familie.<br />

Seine Frau und sein inzwischen elfjähriger<br />

Sohn leben in der Grenzregion<br />

zu Pakistan. Ein „Pulverfass“ laut Bun­<br />

desamt für Migration. Kämpfe zwischen<br />

Militär und Separatist:innen gehören zur<br />

Tagesordnung, bestätigt auch Chamkauer,<br />

der der religiösen Minderheit der<br />

Sikhs angehört. Die Regierung reagiere<br />

mit Ausgangssperren und Straßenblockaden.<br />

„Ein großes Problem“, so<br />

Chamkauer. Als Bauer habe er seine Erzeugnisse<br />

nicht mehr verkaufen können.<br />

Manchmal hätten sie nur von dem gelebt,<br />

was vor dem Haus wuchs. „Eating,<br />

finish“, sagt Chamkauer und verdeutlicht<br />

mit einer Armbewegung, wie er von<br />

der Hand in den Mund lebte.<br />

Seine Hoffnung hieß deswegen vor<br />

fünf Jahren Europa. Seine Mutter und<br />

sein Bruder würden sich jetzt um die Familie<br />

kümmern, sagt der Hinz&Künztler,<br />

der nur noch per Post Kontakt in die<br />

Heimat halten kann. Eine Folge des andauernden<br />

Grenzkonflikts: Die Regierung<br />

hat Internet- und Telefonleitungen<br />

gekappt, um die Kommunikationswege<br />

der Separatist:innen in der Region zu<br />

blockieren.<br />

Es hätte nicht viel gefehlt und Chamkauers<br />

Traum von einem besseren Leben<br />

wäre auf Hamburgs Straße zerplatzt.<br />

Das habe ihm sehr zu schaffen gemacht,<br />

sagt er. Dank Hinz&<strong>Kunzt</strong> schöpft<br />

er nun neue Hoffnung. Auch darauf,<br />

langfristig in Deutschland bleiben zu<br />

dürfen. Allerdings: Bislang besitzt er nur<br />

eine Duldung. Seine Chancen auf ein<br />

Bleiberecht stehen schlecht. Chamkauer<br />

ist trotzdem zuversichtlich. Sein Wunsch?<br />

„Ich würde gerne meine Frau und<br />

meinen Sohn zu mir nach Deutschland<br />

holen“, sagt er und strahlt über das<br />

ganze Gesicht.<br />

•<br />

jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

Chamkauer und alle anderen<br />

Hinz&Künztler:innen erkennt man<br />

am Verkaufsausweis.<br />

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58


KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH,<br />

www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />

Tel. 040 – 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />

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Preis: 7 Euro<br />

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Malabar/Indien, 100 g,<br />

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In Kooperation mit dem<br />

Spicy’s Gewürzmuseum,<br />

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Büchel OHG.<br />

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Preis: 7,50 Euro<br />

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Braunschweig-Lüneburg. Ca. 200 g,<br />

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Abgefüllt vom Deutschen Salzmuseum<br />

Lüneburg. www.salzmuseum.de,<br />

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Ätherische Öle: Salbei, Litsea cubeba u. a.<br />

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Preis: je 6 Euro

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