Spectrum_01_2022
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KRITIKEN
No Crying
ie erste Szene verrät, dass The French Dispatch
D ein Wes Anderson Film ist. Die Szene ist in
einem einzigen Take gefilmt worden: ein Kellner
steigt mit einem vollen Tablett Treppen hinauf,
verschwindet tänzerisch hinter Türen und taucht
hinter anderen wieder auf. Schliesslich erreicht er
das Büro, in dem die Redaktion des Magazins «The
French Dispatch» ihren verstorbenen Chefredakteur
betrauert. In diesem Büro hängt das Schild
«No Crying» («Nicht Weinen») über der Tür und
es bildet den Knotenpunkt für die verschiedenen
Geschichten, die uns die exzentrischen Figuren im
Verlaufe des Films erzählen.
Der Tod des Chefredakteurs gibt den anwesenden
Journalist*innen die Gelegenheit ihre besten Artikel
noch einmal zu erzählen. Ihre Erzählungen heben
sich vom typisch bunten Stil des Filmemachers ab,
sind sie doch alle in schwarz-weiss gehalten. In drei
kurzen Sequenzen erzählen sie uns von einem mörderischen
Künstler, einer gewagten Studierendenrevolution
und einem giftmischenden Polizeikoch.
Die Geschichten spielen alle in der erfundenen
französischen Stadt Ennui-sur-Blasé in einer Zeit,
die vage an die 70er Jahre erinnert. Trotz der Unglaublichkeit
der Geschichten gelingt es Anderson,
Realität und Fiktion so zu verweben, dass ich mich
bei dem Gedanken ertappe, ob es den psychisch
kranken Künstler Moses Rosenthaler tatsächlich
gegeben hat. Natürlich nicht, aber vielleicht? Vielleicht
gab es einen Studenten wie Zeffirelli? Einer,
der in der Badewanne sein revolutionäres Manifest
zu Ende schrieb und mit seinen Kommiliton*innen
rief: «Les enfants sont grognons!»
Mit witzigen Sprüchen und eigentümlichen Gestalten
gelingt es Anderson uns zum Schmunzeln
zu bringen. Bewegung, Ton und Farbe sind perfekt
aufeinander abgestimmt. Der Cast ist umfassend
und reicht von Owen Wilson über die Französin
Léa Seydoux bis hin zu Timothée Chalamet. Wie
in The Grand Budapest Hotel oder The Darjeeling Limited
entführt uns eine Starbesetzung in eine farbenfrohe
Theaterwelt, zugleich magisch und banal.
Trotz allem cineastischen Zauber erinnert uns der
Film jeden Moment daran, dass diese Welt explizit
künstlich ist. Dass unsere Reaktion zur Kunst mitdazugehört.
Es ist kein anspruchsloser Film, den
man während dem Kochen im Hintergrund laufen
lassen kann. Um der Geschwindigkeit des Dialogs,
der Vielfalt der Geschichten und dem subtilen
Humor gerecht zu werden, lohnt es sich, den Film
in aller Ruhe an einem regnerischen Nachmittag
in Ennui-sur-Blasé oder Fribourg-sur-Sarine zu
schauen.
Alyna Reading
The French Dispatch
Regie: Wes Anderson
2021
107 min
Friede, Freude, magische Kerze
isneys neuster Animationsfilm, Encanto, startete
am 25. November 2021 in den Schweizer
D
Kinos. Der bunte Streifen, dessen Titel übrigens so
etwas wie Charme oder Verzauberung bedeutet,
erzählt die Geschichte von Mirabel und ihrer zauberhaften
Familie Madrigal. Mirabel ist das einzige
Mitglied der kolumbianischen Familie, welches als
Kind keine übernatürlichen Kräfte erhielt. Die Familie
ist nämlich im Besitz einer magischen Kerze,
dem Encanto, welcher seit Generationen jedem
Familienmitglied eine magische Fähigkeit verleiht.
Mirabel ist jedoch auch die Einzige, die bemerkt,
dass sich dem Haus der fantastischen Familie ein
Unglück nähert. Sie versucht tatkräftig, das Mysterium
herauszufinden und abzuwenden.
Encanto präsentiert sich wie jeder klassischer Disney
Film: Wir werden mit viel Farbe, Emotion und
Musik in die Welt der Figuren eingeführt. Passend
zur kulturellen Darstellung einer kleinen kolumbianischen
Stadt wird moderne Musik mit lateinamerikanischen
Rhythmen kombiniert, die wie
immer zum Mitsingen und Tanzen animiert. Die
große Stärke dieses Animationsfilms liegt im Versuch,
lateinamerikanische Kultur, Geschichte und
gleichzeitig erfrischend neue Figuren darzustellen:
eine Familie voller starker, magischer Frauen. Die
Geschichte stellt eine neue Art von Konflikt dar,
bei dem kein böser, von aussen kommender Feind
bekämpft wird. Der Feind der Harmonie ist diesmal,
auf realistische Weise, die Kommunikation
und Erwartungshaltung innerhalb der Familie. So
gefährdet diese den Zauber der gesamten Gemeinschaft.
Encantos Konzept und Umsetzung machen Spaß
und unterhalten nicht nur Kinder, jedoch finden
sich auch Aspekte, die meiner Verzauberung im
Weg standen. Die Familie besteht aus unzähligen
Figuren mit verschiedenen Kräften, von denen einige
kaum zur Geschichte und eher zu Verwirrung
beitragen und einige Handlungslücken und ein
gehetztes Tempo offenlegen. Der Höhepunkt der
Geschichte kommt fast am Ende des Films und ist
ziemlich voraussehbar, weswegen er etwas weniger
aufregend und überzeugend wirkt. Vor allem wenn
man an die allumfassenden und aufregenden Geschehnisse
in anderen Filmen wie Moana, Tangled
oder Frozen zurückdenkt. Hier wird der realistische
Konflikt der Spannung zum Verhängnis.
Alles in allem ist Encanto ein Disneyfilm, der vor allem
von der fantastischen Animation und der sympathischen
Protagonistin lebt, den man sich jedoch
seit dem 24. Dezember auch gerne auf Disney+ von
zu Hause aus anschauen kann.
Mara Lynette Wehofsky
Encanto
Regie: Jared Bush & Byron
Howard
2021
109 min
28 spectrum 02.22