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naturgucker Nr. 58

DAS MAGAZIN ZUR VOGEL- UND NATURBEOBACHTUNG Wir zeigen Ihnen die Natur von ihrer schönsten Seite! Blättern Sie durch unser aktuelles Heft, und werfen Sie einen Blick auf die Vielfalt, die Sie umgibt. Alle zwei Monate finden Sie bei uns packende Fotos, Reportagen und Berichte über Vögel, seltene Pflanzen, Amphibien, Reptilien, Säugetiere oder Insekten wie Libellen und Schmetterlinge.

DAS MAGAZIN ZUR VOGEL- UND NATURBEOBACHTUNG
Wir zeigen Ihnen die Natur von ihrer schönsten Seite! Blättern Sie durch unser aktuelles Heft, und werfen Sie einen Blick auf die Vielfalt, die Sie umgibt. Alle zwei Monate finden Sie bei uns packende Fotos, Reportagen und Berichte über Vögel, seltene Pflanzen, Amphibien, Reptilien, Säugetiere oder Insekten wie Libellen und Schmetterlinge.

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NATURGUCKER <strong>58</strong><br />

Ausgabe <strong>58</strong> Jan. / Feb. 2022 Deutschland 4,50 € | Österreich 4,90 € | Schweiz 5,00 CHF | Italien 5,70 €<br />

Das Magazin zur Vogel- und Naturbeobachtung<br />

Der Distelfink<br />

Schöner Gast<br />

im Wintergarten<br />

Das Grüne Band<br />

Natur pur, statt<br />

Todesstreifen


NATURGUCKER-RÄTSEL<br />

02<br />

Gewinnen Sie mit dem <strong>naturgucker</strong>-<br />

Magazin ! Wenn Sie diese Ausgabe aufmerksam<br />

gelesen haben, können Sie unsere<br />

Frage problemlos beantworten:<br />

»Warum hat Rudolf, the red-nosed<br />

reindeer, eigentlich eine rote Nase?«<br />

Bitte senden Sie Ihre Lösung per E-Mail<br />

an kontakt@bachstelzen-verlag.de oder<br />

per Postkarte an: Bachstelzen Verlag<br />

GbR, Frankenplatz 23, 42107 Wuppertal<br />

Unsere Preise werden unter den richtigen<br />

Antworten verlost, die bis zum 31.<br />

November 2022 eingegangen sind. Der<br />

Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Das können Sie gewinnen:<br />

Ein Naturgucker-Fernglas von Kowa!<br />

Die neue »BD II XD«-Serie besticht durch<br />

ein auffällig großes Sehfeld. Die fünf<br />

Modelle der Serie können zu Recht als<br />

Weitwinkel-Ferngläser bezeichnet werden.<br />

Wir verlosen ein BD II 8x32 XD –<br />

in einer Entfernung von 1.000 Metern<br />

hat es ein Sehfeld von 154 Metern! Die<br />

Linsen bestehen aus ED-Glas (Extra Low<br />

Dispersion) in höchster Qualitätsstufe<br />

mit einem sehr hohen Anteil an Fluorit –<br />

dem aktuell besten Linsenmaterial, um<br />

eine möglichst hohe Lichtdurchlässigkeit<br />

(Transmission) zu erreichen und ein<br />

Bild mit hohem Kontrast bei bestmöglicher<br />

Reduzierung von Farbsäumen zu<br />

gewährleisten. Das robuste Gehäuse besteht<br />

aus einer Magnesiumlegierung mit<br />

einer schützenden Gummiarmierung. Jedes<br />

BD II XD ist vollständig wasserdicht.<br />

kowaproducts.com<br />

Sachbücher aus dem HAUPT Verlag<br />

Der Klimawandel ist das beherrschende<br />

Thema unserer Zeit. Alle Naturfreunde<br />

machen sich Gedanken darüber, wie er<br />

sich begrenzen lässt, doch Fakt ist: Wir<br />

wissen viel zu wenig über Klimaentwicklungen<br />

und ihre Auswirkungen. Das wollen<br />

Christian Pfister und Heinz Wanner<br />

ändern – ein Historiker und ein Klimatologe<br />

haben sich zusammengeschlossen, um<br />

das Phänomen Klimawandel umfassend<br />

zu betrachten. Herausgekommen ist ein<br />

neues Standardwerk zur Klimageschichte,<br />

das zudem aufzeigt, wie es in der Zukunft<br />

weitergehen könnte. Besonders interessant<br />

sind die Zusammenhänge zwischen Klimaveränderungen<br />

und gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen. Wir verlosen »Klima<br />

und Gesellschaft in Europa«<br />

zweimal. Erschienen ist es im<br />

Haupt Verlag. haupt.ch<br />

Ein Futterhaus<br />

für den Balkon<br />

Jetzt kommt die Zeit, in der viele<br />

Wildvögel unsere Unterstützung<br />

brauchen. Als Dankeschön<br />

lassen sie sich hervorragend<br />

beobachten, wenn sie sich<br />

am Futterhäuschen zum Picken aufhalten.<br />

Wir verlosen ein schönes Holzhaus der<br />

Claus GmbH für den Balkon! Es<br />

schützt das Futter vor Nässe und<br />

kann direkt an der Wand befestigt<br />

werden. Die ersten Gäste werden<br />

sicherlich bald kommen. Denn<br />

eine hochwertige Futtermischung<br />

gibt's dazu. Damit keine Schalenreste,<br />

Beeren oder Fette zurückbleiben<br />

und Saaten nicht keimen,<br />

steckt darin ein hoher Anteil an bereits<br />

geschälten und gebrochenen<br />

Kernen und verschiedenen Saaten.<br />

und verschiedenen Saaten.<br />

claus-futter.com<br />

Igel-Erlebnisbuch<br />

In unseren Rezensionen<br />

stellen wir dieses Mal das<br />

Erlebnisbuch Igel von Christine<br />

Weidenweber vor. Darin<br />

finden Sie viele Informationen<br />

und Anleitungen, um den eigenen<br />

Garten in ein Igelparadies zu verwandeln,<br />

unter anderem mit Tipps zu Igelfutter<br />

und Schutzhütte. Wir verlosen eine<br />

Ausgabe aus der Claus Edition.<br />

RÄTSELAUFLÖSUNG AUS DER LETZTEN AUSGABE<br />

In Ausgabe 57 hatten wir Sie gefragt:<br />

»Was ist mit dem Herdenverdünnungseffekt<br />

gemeint?« In der Natur gibt es dafür<br />

viele Beispiele: Tiere schließen sich<br />

zu Herden oder Schwärmen zusammen,<br />

um sich besser vor Feinden schützen zu<br />

können – Raubtieren fällt es schwerer,<br />

ein einzelnes Beutetier in einer Gruppe<br />

anzuvisieren. Dieses Phänomen nutzen<br />

auch die Seebären, um Angriffen von<br />

Haien zu entgehen.<br />

Gewonnen haben: Ursula Will aus<br />

Harrislee sieht künftig klarer – mit<br />

dem Naturbeobachter-Fernglas von<br />

Kowa. Bernd Henning aus Stipsdorf<br />

und Maren Schnell aus Friedrichsdorf<br />

erfahren in dem Band »Der Rotmilan«<br />

vom Haupt Verlags mehr über den schönen<br />

Greifvogel. Werner Hartkamp aus<br />

Rietberg erhält ein Futterhaus für den<br />

Balkon inklusive Futtermischung, beides<br />

von Claus GmbH.


Liebe Leserinnen<br />

und liebe Leser !<br />

Klimaschutz ist wichtig und wahrscheinlich<br />

auch überlebenswichtig<br />

für uns und eine Vielzahl an Lebewesen<br />

dieses Planeten. Die Rettung unserer<br />

schon jetzt überhitzten Erde ist unsere<br />

größte Herausforderung. Zu Recht wird<br />

hier sehr viel Geld investiert, um erneuerbare<br />

Energieformen zu pushen und so den<br />

Kohlenstoffdioxid-Ausstoß zu senken. Das<br />

alles macht allerdings nur dann Sinn, wenn<br />

dann auch noch etwas da ist, was schützenswert<br />

ist. Wir sind nämlich dabei, einen<br />

Großteil der Biodiversität der Erde in bislang<br />

ungeahnten Ausmaßen zu zerstören.<br />

Wir rotten global zahllose Tier- Pflanzenund<br />

Pilzarten aus – viele von ihnen sind uns<br />

vielleicht noch gar nicht bekannt. Wälder<br />

werden gerodet, Wiesen zubetoniert, mit<br />

Monokulturen praktisch unbewohnbar gemacht,<br />

in Dünger erstickt, Flüsse, Seen und<br />

Meere mit Plastikmüll und anderem Dreck<br />

vergiftet.<br />

Deswegen sollte uns der Schutz dessen,<br />

was in Jahrhunderten der komplett<br />

rücksichtslosen Industrialisierung noch<br />

nicht völlig ausgerottet wurde, genauso<br />

wichtig sein wie auf fossile Brennstoffe<br />

zu verzichten. Die öffentliche Diskussion<br />

wird derzeit vom Thema Klimawandel beherrscht,<br />

es ist unserer aller Aufgabe, dass<br />

dabei die nötigen Veränderungen im Kleinen<br />

und Großen nicht vergessen werden.<br />

Einen schönen Winter wünscht Ihnen<br />

Robert Lücke<br />

Herausgeber<br />

10<br />

JAHRE<br />

GARANTIE<br />

MEHR<br />

SEHEN<br />

BD II XD<br />

Eine neue und überzeugende Serie von Weitwinkelferngläsern<br />

Die herausragende optische Eigenschaft der neuen BDII-XD Ferngläser ist das<br />

unglaublich große Sichtfeld.<br />

Nutzen Sie den Vorteil von Weitwinkelferngläsern und finden Sie Ihr Motiv schnell<br />

und einfach.<br />

Durch die qualitativ sehr hochwertigen Kowa XD Linsen bleiben auch keine Wünsche<br />

hinsichtlich Schärfe und Kontrast offen.<br />

Der minimale Fokussierabstand von nur 1,3m der 32er Modelle erlaubt komfortables<br />

und entspanntes Beobachten von nahen Motiven, wie z.B. Insekten oder Blumen.<br />

Kowas BDII-XD Ferngläser setzen neue Maßstäbe in ihrer Klasse.<br />

WEITWINKEL<br />

ISO 14132-2 Internationaler Standard<br />

Video Prospekt<br />

6.5 x 32<br />

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Fichtenstrasse 123 | 40233 Düsseldorf<br />

T: 0211-542184-00 | E-mail: scope@kowaoptimed.com | www.kowaoptic.com


INHALT<br />

INHALT<br />

36 48<br />

02 NATURGUCKER-RÄTSEL<br />

06 NATUR-SPAZIERGANG<br />

06 Buntes Leben im Koog<br />

08 NATUR-SAISON<br />

08 Winterharte Überlebenskünstler<br />

21<br />

12 NATURSCHUTZ<br />

12 Das Gründe Band –<br />

Vom Todesstreifen zur Lebensader<br />

18 NATUR-WISSEN<br />

18 Rentiere – Rudolphine mit der roten Nase<br />

22 Stieglitze – Bunt, hübsch & bedroht<br />

26 Sechsbeinige Flugkünstler –<br />

Natürliche Mini-Helikopter<br />

31 Der Wiedehopf – Vogel des Jahres 2022<br />

04<br />

27<br />

30 LESERSEITEN<br />

30 Ihre Briefe & Mails<br />

32 NATUR-REISE<br />

32 Spaniens große Adler<br />

36 Sri Lanka – Paradies auf der grünen Insel<br />

42 NATUR-BESTIMMUNG<br />

42 Baumfalke oder Wanderfalke?<br />

46 REZENSIONEN<br />

46 Lesestoff für Naturfreunde<br />

43 18<br />

47 NATURGUCKER.DE<br />

47 Was der NABU Insekten-Sommer 2021<br />

gezeigt hat<br />

48 NATUR-KIND<br />

48 Eichhörnchen – Glückliche Klettermaxe<br />

50 KLEINANZEIGEN & VORSCHAU<br />

Titelbild: Stieglitze / Marc Hamblin, naturepl.com


39<br />

IMPRESSUM<br />

VERLAG<br />

Bachstelzen Verlag GbR<br />

Frankenplatz 23<br />

42107 Wuppertal<br />

www.<strong>naturgucker</strong>-magazin.de<br />

10<br />

09<br />

15<br />

HERAUSGEBER<br />

Robert Lücke ( V.i.S.d.P.)<br />

robert.luecke@<strong>naturgucker</strong>-magazin.de<br />

REDAKTION<br />

Julia Klinkusch, Nicole Lücke,<br />

Robert Lücke, Dieter Schneider, Sebastian Teichmann<br />

redaktion@<strong>naturgucker</strong>-magazin.de<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Anke Benstem, Henk Boogard, Jürgen Borris,<br />

Stefan Bosch, Harald Bott, Roy de Haas, Theo Douma,<br />

Alain Ghignone, Marc Hamblin, Martin Kraft, Stefan<br />

Leimer, Wil Leurs, Ralph Martin, Ingrid Michel, Rainer<br />

Müller, Daniele Occhiato, Arie Ouwerkerk Andreas<br />

Schäfferling, Ute Schimmelpfennig, Christopher Schmidt,<br />

Gaby Schulemann-Maier, Menno van Duijn,<br />

Markus Varesvuo, Winfried Wisniewski<br />

GRAFIKDESIGN<br />

Christiane Püschel | pueschels.com<br />

ABOSERVICE<br />

T + 49 (0) 202 30 63 66<br />

abo@<strong>naturgucker</strong>-magazin.de<br />

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Bachstelzen Verlag GbR<br />

Frankenplatz 23<br />

42107 Wuppertal<br />

T + 49 (0) 202 30 63 66<br />

anzeigen@bachstelzen-verlag.de<br />

PARTNER<br />

www.<strong>naturgucker</strong>.de<br />

www.birdnet.de<br />

www.birdingtours.de<br />

www.dumanaturreisen.de<br />

Es gelten die Anzeigenkonditionen 2021. Alle Rechte<br />

vorbehalten. Das Magazin und alle enthaltenen Beiträge sind<br />

urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich<br />

zugelassenen Fälle ist eine Verwertung, auch auszugsweise,<br />

ohne Einwilligung des Hausgebers nicht gestattet. Für unverlangt<br />

eingesandtes Text und Bildmaterial wird keine Haftung<br />

übernommen.<br />

FACHBEIRAT<br />

FeldOrnithologie | Prof. Dr. Martin Kraft<br />

Vogelzug | Prof. Dr. Peter Berthold<br />

Physiologie der Vögel | Prof. Dr. Roland Prinzinger<br />

FeldEntomologie | Horst Schlüter<br />

Libellen | Hartwig Stobbe<br />

Allgemeine Botanik, Falter | Dieter Schneider<br />

Orchideen | Dr. Manfred Hennecke<br />

Naturschutzverbände | Maik Sommerhage<br />

Botanik, Pflanzenkunde, Pilze | Dr. Rita Lüder<br />

Fotografie | Bruno Dittrich<br />

ISSN 21955646<br />

Wir zeigen<br />

Ihnen die Natur<br />

VON IHRER<br />

SCHÖNSTEN<br />

SEITE !<br />

Lernen Sie unser Magazin kennen,<br />

und werfen Sie einen Blick auf die Vielfalt,<br />

die Sie umgibt. Alle zwei Monate finden<br />

Sie bei uns packende Fotos, Reportagen und<br />

Berichte über Vögel, seltene Pflanzen,<br />

Amphibien, Reptilien, Säugetiere oder<br />

Insekten wie Libellen und Schmetterlinge.<br />

Natürlich stellen wir für Sie auch praktische<br />

Tipps zum Beobachten und Bestimmen<br />

zusammen, um Sie auf Ihrer Entdeckungsreise<br />

durch die Natur zu begleiten.<br />

Als Abo 24 Euro im Jahr innerhalb<br />

Deutschlands (inkl. Porto – ohne<br />

Vertragsbindung )<br />

Bestellung online unter:<br />

www.<strong>naturgucker</strong>-magazin.de/abo<br />

oder per Postkarte an:<br />

Bachstelzen Verlag GbR,<br />

Frankenplatz 23, 42107 Wuppertal<br />

WWW.NATURGUCKER-MAGAZIN.DE


NATUR-SPAZIERGANG<br />

Buntes Leben im Koog<br />

Ein Tag kurz der hinter Küste offenbart farbenprächtige und einzigartige Momente.<br />

Von Christopher Schmidt (Bilder und Text).<br />

06<br />

Das Erste, was ich bei der Fahrt<br />

über den Nordseedeich erblicke,<br />

ist ein Schwarm kleiner Vögel,<br />

der aus der Hochstaudenflur auffliegt und<br />

finkentypisch ein kurzes Stück später landet.<br />

Es sind nicht viele Vögel, insgesamt<br />

vier Individuen, die auf die Spitze eines<br />

Sauerampfers fliegen. Und noch während<br />

ich ihnen nachschaue, frage ich mich, weswegen<br />

so schnell zu erkennen ist, dass es<br />

Finken sind und keine Pieper oder Ammern,<br />

die dort ihren kurzen Ortswechsel<br />

vornehmen. Es ist wohl die Kombination<br />

aus vielen Faktoren: die kompakte Gestalt,<br />

der unruhige Flug mit den schnellen Wendungen,<br />

die unvorhersehbare Flugbahn<br />

des Schwarms, der dichte Zusammenhalt<br />

dieses kleinen Trupps.<br />

Vermutlich gibt es noch viel mehr<br />

Elemente, die sich gar nicht so sehr in das<br />

Bewusstsein drängen, sodass es zu einer<br />

Vorbestimmung kommt. Wäre ich nicht<br />

im Auto, würden ihre Rufe sicher sehr<br />

viel schneller verraten, worum es sich tatsächlich<br />

handelt. Zuerst denke ich an Berghänflinge,<br />

die für die Köge, wie das dem<br />

Meer abgetrotzte und eingedeichte Land<br />

genannt wird, um diese Jahreszeit typisch<br />

sind, aber deren Flugmuster erkenne ich<br />

nicht. Stattdessen präsentieren sich vier<br />

Birkenzeisige mit ihren roten Abzeichen<br />

an Stirn und Brust, ihrem schwarzen<br />

Kinnfleck und ihrer auffälligen Streifung<br />

nicht weit entfernt von der Straße,<br />

die durch den Koog führt. Akrobatisch<br />

sind sie damit beschäftigt, die Samen<br />

des Sauerampfers zu fressen, bevor ein<br />

vorbeifliegender Sperber mir noch mehr<br />

Gelegenheit gibt, den Flug der Finken zu<br />

studieren. Es ist eines der Jahre, in denen<br />

Birkenzeisige besonders häufig sind, und<br />

das gehäufte Auftreten deutete sich schon<br />

ab August an, als Trupps unterschiedlicher<br />

Größe überall über Norddeutschland zu<br />

sehen und zu hören waren. Eine gute Gelegenheit,<br />

um die verschiedenen, subtilen<br />

Gefiederunterschiede zu studieren, die<br />

verraten können, zu welcher Art, Unterart<br />

oder zu welchem Alter die Vögel gehören.<br />

SCHÖNE FARBKLECKSE<br />

Es ist ansonsten ein ruhiger Tag im Koog.<br />

Schöne Brandgänse kreieren Farbkleckse<br />

auf der noch dezenten Färbung des<br />

Wattbodens, Brachvögel und Goldregenpfeifer<br />

im Schlichtkleid verschmelzen<br />

dagegen mit ihrer Umgebung aus altem<br />

Queller, Schlickgras und Salzmelde. Kleine<br />

Trupps von Pfeifenten, große Mengen<br />

an Nonnen- und Blässgänsen beleben<br />

überschwemmte Wiesenbereiche, und<br />

über dem Vorland gaukelt eine weibliche<br />

Kornweihe über Lahnungen, Salzwiesen<br />

und einen Silberreiher.<br />

BESONDERES LICHT<br />

Der Abend des langen Tages voller Beobachtungen<br />

präsentiert sich windstill und<br />

in intensivstem Licht. Die Landschaft, die<br />

Pflanzen, vor allem die Vögel, nehmen Farben<br />

an, die kein Bestimmungsbuch zeigen<br />

könnte oder würde.<br />

Alles wird gelber, leuchtender, bonbonfarbener,<br />

unwirklicher. Jeweils ein<br />

Pärchen schöner Krickenten und Löffelenten<br />

fängt dieses Licht perfekt ein<br />

und zeigt, um was es bei der Naturbeobachtung<br />

in ganz Besonderem geht:<br />

zu erleben, wie Jahreszeit, Tageszeit,<br />

Wind, Wetter und das Licht immer wieder<br />

einzigartige Momente erschaffen.<br />

Alle Rechte an Text und Bildern<br />

bei Christopher Schmidt.


NATUR-SPAZIERGANG<br />

07


NATUR-SAISON<br />

08<br />

Winterharte<br />

ÜBERLEBENS-<br />

KÜNSTLER<br />

Von Flüchtlingen, Langschläfern und anderen Spezialisten<br />

berichtet Dieter Schneider.


NATUR-SAISON<br />

Nachdem im vergangenen Jahr an<br />

dieser Stelle über die Überwinterung<br />

der Insekten berichtet<br />

wurde, soll es nun um die Überwinterungstrategien<br />

der einheimischen Landwirbeltiere<br />

gehen. Bei diesen müssen wir<br />

zunächst zwischen solchen unterscheiden,<br />

die ihre Körpertemperatur physiologisch<br />

regulieren können und solchen,<br />

deren Körpertemperatur allein von den<br />

herrschenden Außenbedingungen wie<br />

Lufttemperatur und Sonneneinstrahlung<br />

abhängt. Zu den Ersteren zählen die Säugetiere<br />

und die Vögel, zu den Letzteren die<br />

Reptilien und die Amphibien.<br />

KÄLTE KOSTET ENERGIE<br />

Ganz generell müssen Säuger und Vögel<br />

einen beträchtlichen Anteil der aufgenommenen<br />

Nahrung darauf verwenden,<br />

die Energie zur Aufrechterhaltung ihrer<br />

Körpertemperatur bereitzustellen. Vögel<br />

besitzen keine Strategien zur Energieeinsparung<br />

im Winter, wie wir sie<br />

mit Winterschlaf oder Winterruhe bei<br />

vielen Säugetieren finden. Deshalb sind<br />

sie auch in der nahrungsknappen Winterzeit<br />

auf eine ausreichende Energieversorgung<br />

angewiesen und müssen regelmäßig<br />

und ausreichend fressen, um zu überleben.<br />

Arten, deren Nahrung im Winter<br />

nicht mehr in ausreichender Menge zur<br />

Verfügung seht – etwa solche, die sich<br />

überwiegend von Insekten ernähren –<br />

wandern deshalb als Zugvögel in den<br />

warmen Süden ab, wo der Tisch für sie<br />

hinreichend gedeckt ist. Diejenigen Singvögel,<br />

die im Winter bei uns bleiben, sind<br />

allesamt in der Lage, sich zumindest in<br />

den Wintermonaten ganz überwiegend<br />

vegetarisch zu ernähren. Sie sind dann<br />

zumeist Beeren- und Samenfresser. Ihr<br />

Energie- und somit auch Nahrungsbedarf<br />

ist besonders in der kalten Jahreszeit sehr<br />

hoch, da bei frostigen Außentemperaturen<br />

besonders viel Energie aufgewendet<br />

werden muss, um ihre mit im Schnitt<br />

40 Grad Celsius<br />

recht hohe Körpertemperatur<br />

aufrechtzuerhalten.<br />

möglichst wenig zu bewegen. Im Gegensatz<br />

zu diesen Arten (und zu den Vögeln)<br />

haben aber diverse andere Säugetiere Strategien<br />

entwickelt, um ihren Energiebedarf<br />

im Winter zu senken – im Groben kann<br />

man da zwei Grundprinzipien unterscheiden:<br />

Den Winterschlaf und die Winterruhe,<br />

wobei die Übergänge zwischen diesen<br />

fließend sein können. In beiden Fällen<br />

ziehen sich die Tiere zur Überwinterung<br />

an geschützte Orte zurück. Bei den Fledermäusen<br />

sind das meist frostfreie Höhlen<br />

und Stollen, in denen sich die Tiere<br />

im Herbst teils aus beträchtlichen Entfernungen<br />

einfinden. Alle nicht flugfähigen<br />

Säugetiere überwintern zumeist in vorhandenen<br />

Höhlungen oder selbstgegrabenen<br />

Bauen unter der Erde, wo sie sich<br />

im Herbst üblicherweise ein kuscheliges<br />

Nest eingerichtet haben.<br />

WINTERSCHLAF<br />

Echte Winterschläfer wie die meisten Fledermäuse,<br />

Murmeltiere, Siebenschläfer,<br />

Igel oder der Feldhamster fahren zu Beginn<br />

des Winterschlafs ihre energiezehrenden<br />

Stoffwechselvorgänge drastisch<br />

herunter und fallen in einen Koma-ähnlichen<br />

Zustand, den die Wissenschaft als<br />

Torpor bezeichnet. Dabei sinkt die Kerntemperatur<br />

des Körpers auf wenige Grad<br />

über dem Gefrierpunkt ab, und die Herz-<br />

02 Im Winter steigen Singvögel wie die<br />

Amsel auf vegetarische Ernährung um. /<br />

Menno van Duijn, Agami<br />

‣ 03 Der Siebenschläfer gehört zu den<br />

echten Winterschläfern. / Harald Bott<br />

‣ 04 Igel fallen während des Winterschlafs<br />

in einen komaähnlichen Zustand. /<br />

Roy de Haas, Agami<br />

09<br />

WENIG BEWEGUNG<br />

Ähnliches gilt für viele einheimische Säugetiere,<br />

nämlich für diejenigen, die über<br />

den Winter voll aktiv bleiben, etwa Mäuse,<br />

Wühlmäuse, Feldhasen und Kaninchen,<br />

Marder, Füchse, Rehe, Wildkatzen sowie<br />

Wildschweine. Sie benötigen fortwährend<br />

eine ausreichende Nahrungsversorgung,<br />

um zu überleben. Um wenigstens etwas<br />

Energie einzusparen, können Sie kaum<br />

mehr tun, als sich an geschützten Orten


NATUR-SAISON<br />

05 Die Nachtigall ist ein Zugvogel und<br />

überwintert in Afrika. / Ralph Martin, Agami<br />

06 Amphibien wie die Erdkröte<br />

verbringen den Winter in einer Kältestarre./<br />

Theo Douma, Agami<br />

10<br />

schlagfrequenz sinkt auf ein Minimum. So<br />

fällt etwa beim Feldhamster die Körpertemperatur<br />

auf zwei bis drei Grad Celsius,<br />

die Atemfrequenz beträgt nur noch etwa<br />

einen Atemzug pro Minute und der Herzschlag<br />

reduziert sich auf durchschnittlich<br />

fünf Schläge pro Minute. Obwohl mit<br />

derart minimaler Stoffwechselleistung<br />

der Energieverbrauch der Winterschläfer<br />

nur noch extrem gering ist, wird dennoch<br />

Energie benötigt. Um diese bereitzustellen,<br />

fressen sich die meisten Arten in<br />

Spätsommer und Herbst dicke Fettpolster<br />

an, von denen ihr Körper dann während<br />

des Winterschlafs zehren kann. Übrigens<br />

werden die Torpor-Phasen bei allen Winterschläfern<br />

in regelmäßigen Abständen<br />

von meist drei bis vier Wochen unterbrochen.<br />

In diesen kurzen Wachphasen<br />

können die Tiere Harn und Kot absetzen,<br />

manche Arten wie der Feldhamster nehmen<br />

auch aus eigens zu diesem Zwecke<br />

angelegten Futtervorräten Nahrung auf,<br />

bevor sie dann in die nächste mehrwöchige<br />

Torpor-Periode fallen.<br />

WINTERRUHE<br />

Bei den Formen der Winterruhe wird der<br />

Stoffwechsel bei Weitem nicht so drastisch<br />

reduziert wie beim Winterschlaf. Sie ist<br />

daher eher mit einem normalen Schlafzustand<br />

zu vergleichen und spart längst nicht<br />

so viel Energie ein wie der echte Winterschlaf.<br />

Auch gibt es bei der Winterruhe<br />

deutlich häufiger Wachphasen, in denen<br />

die Tiere aktiv werden und von angelegten<br />

Futtervorräten fressen oder auf Nahrungssuche<br />

gehen. Als typische winterruhende<br />

Arten wären etwa Eichhörnchen und<br />

Dachs sowie die Neozoen Marderhund<br />

und Waschbär zu nennen. Aber auch der<br />

Winterschlaf des Braunbären ist genau<br />

genommen eher eine Winterruhe, denn<br />

die Körpertemperatur der Bären sinkt<br />

nur leicht um wenige Grad und die Tiere<br />

werden öfter mal wach. Interessanterweise<br />

haben Wissenschaftler vor wenigen Jahren<br />

auch beim Rothirsch eine Art Winterruhe<br />

nachgewiesen. Sie konnten zeigen, dass<br />

die Tiere im Winter an geschützten Orten<br />

längere Ruhephasen einlegen, während<br />

derer sie ihren Stoffwechsel so weit herunterfahren,<br />

dass die Körpertemperatur<br />

bis auf 15 Grad sinkt und das Herz statt<br />

60 bis 70 Mal in der Minute nur noch 30<br />

bis 40 Mal schlägt.<br />

Allen diesen Formen ist gemeinsam,<br />

dass die Tiere, seien sie im Winterschlaf<br />

oder in der Winterruhe, grundsätzlich jederzeit<br />

erweckbar sind. Das schnelle Aufheizen<br />

der Körper kostet die Tiere aber<br />

immense Mengen an Energiereserven,<br />

sodass ihre Fettreserven bei häufigeren<br />

Störungen nicht mehr für eine erfolgreiche<br />

Überwinterung ausreichen und die<br />

Tiere dann den Beginn des Frühlings oft<br />

nicht mehr erleben. Ganz anders verhält<br />

es sich dagegen bei unseren Amphibien<br />

und Reptilien, die ihre Körpertemperatur


nicht regulieren können – sie sind aus der<br />

Kältestarre grundsätzlich nicht erweckbar,<br />

sofern man ihnen nicht künstlich von<br />

außen Wärme zuführt. Auch müssen die<br />

wechselwarmen Wirbeltiere im Winter<br />

so gut wie keine Energie investieren, um<br />

eine bestimmte Körpertemperatur aufrechtzuerhalten,<br />

und dementsprechend<br />

brauchen sie weder dicke Fettpolster noch<br />

irgendwelche Nahrungsvorräte. Sie fallen<br />

ähnlich vielen wirbellosen Tieren, wie<br />

Schnecken, Insekten und Spinnen, bei sinkenden<br />

Außentemperaturen in eine Kältestarre,<br />

sobald die Temperaturen unter<br />

ein artspezifisches, kritisches Minimum<br />

heruntergehen. Unterhalb dieses Minimums<br />

sind ihnen keine Aktivitäten mehr<br />

möglich. Sie sitzen dann bewegungsunfähig<br />

und mit offenen Augen sowie kaum<br />

noch messbarer Herzschlag- und Atemfrequenz<br />

in ihren Verstecken und werden<br />

erst dann wieder aktiv, wenn steigende Außentemperaturen<br />

das erlauben. Obwohl<br />

bei vielen Arten im Herbst bestimmte<br />

körpereigene Frostschutzmittel in den<br />

Körperflüssigkeiten eingelagert werden,<br />

laufen die Tiere Gefahr, bei lange anhaltenden<br />

allzu niedrigen Außentemperaturen<br />

dennoch zu erfrieren. Deshalb suchen<br />

sie im Herbst möglichst geschützte Orte<br />

wie Mäuselöcher und Mauerhöhlungen<br />

auf oder graben sich aktiv in die Erde ein,<br />

um dort, vor scharfen Frösten geschützt,<br />

die kalte Jahreszeit zu überdauern. Den<br />

besten Frostschutz bietet allen in Kältestarre<br />

unterirdisch überwinternden Tieren<br />

natürlich eine dicke isolierende Schneedecke,<br />

doch sind solche in weiten Teilen<br />

Mitteleuropas nur noch selten vorhanden.<br />

Manche Amphibien überwintern übrigens<br />

auch am Grunde von Gewässern, wo sie<br />

zumindest in normalen Wintern ebenfalls<br />

vor Frost sicher sind. In Kleingewässern<br />

mit geringer Wassertiefe kann das allerdings<br />

ihr Todesurteil sein, wenn in harten<br />

Wintern das Gewässer bis zum Grunde<br />

durchfriert.<br />

SELTENE GÄSTE<br />

Auf eisfreie Gewässer sind im Winter<br />

auch die Entenvögel angewiesen, die nun<br />

wieder in ihr Prachtkleid gemausert haben<br />

und uns faszinierende winterliche<br />

Beobachtungsmöglichkeiten eröffnen.<br />

Wenn man bei gutem Licht größere Entenansammlungen<br />

durchmustert, stehen<br />

die Chancen nicht schlecht, auch einmal<br />

eine außergewöhnliche Art zu entdecken.<br />

So gelangen etwa in den vergangenen<br />

Herbstwochen an verschiedenen Orten<br />

NATUR-SAISON<br />

in Niedersachsen mehrmals Nachweise<br />

der nordamerikanischen Ringschnabelente.<br />

Irrgäste dieser Art werden in Europa<br />

zwar gelegentlich gesichtet, doch dürfte<br />

das Gros der hiesigen Beobachtungen auf<br />

Gefangenschaftsflüchtlinge zurückzuführen<br />

sein. Zu erkennen ist die unserer<br />

Reiherente recht ähnliche Art am namensgebenden<br />

hellen Ring um den Schnabel,<br />

den man bei beiden Geschlechtern findet.<br />

Bei den Erpeln ist der Ring aber breiter<br />

und auch die Schnabelbasis der Männchen<br />

ist deutlich weiß gesäumt. In ihrer<br />

nordamerikanischen Heimat brütet die<br />

hübsche Ente zwischen Alaska und Neuschottland<br />

überwiegend an kleinen, eher<br />

seichten Gewässern. Das erklärt auch die<br />

für eine Tauchente ungewöhnliche Art des<br />

Nahrungserwerbs. Anders als ihre Verwandtschaft<br />

tauchen Ringschnabelenten<br />

bei der Nahrungssuche nämlich nur sehr<br />

selten, vielmehr ernähren sich eher wie<br />

Gründelenten, indem sie meist nur den<br />

Kopf unter Wasser stecken, um Wasserpflanzen<br />

abzuweiden. Hauptüberwinterungsgebiet<br />

der Ringschnabelente ist der<br />

Golf von Mexiko, doch findet man sie zur<br />

Winterzeit auch in Mittelamerika und der<br />

Karibik. Und eben manchmal auch in Mitteluropa.<br />

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NATURSCHUTZ<br />

01<br />

12<br />

VOM TODESSTREIFEN<br />

ZUR LEBENSADER<br />

Das »Grüne Band Deutschland« – der einstige<br />

Todesstreifen ist heute Lebensraumverbund und Wanderkorridor<br />

für Pflanzen und Tiere.<br />

Von Anke Benstem (Text) und Jürgen Borris (Fotos).


NATURSCHUTZ<br />

01 Naturschutz statt Mauern und<br />

Stacheldraht – die ehemalige innerdeutsche<br />

Grenze ist heute ein Naturband.<br />

Eine große Idee ist Wirklichkeit geworden:<br />

Wiesen und Wälder, Binnendünen,<br />

Heideflächen und Moore<br />

bilden eine beeindruckende Lebenslinie<br />

von der tschechischen Grenze bei Hof bis<br />

an die Ostsee bei Travemünde: Das Grüne<br />

Band ist zwar meist nur 50 bis 200 Meter<br />

breit, dabei aber ganze 1.400 Kilometer<br />

lang. Die aneinandergereihten Biotope<br />

sind nicht nur wichtige Lebensräume, viele<br />

Tiere nutzen sie auch als Wanderkorridor<br />

in der ausgeräumten Agrarlandschaft.<br />

Eine kühne Idee<br />

Fast 40 Jahre lang war Deutschland ein<br />

geteiltes Land. Bewaffnete Grenzer patrouillierten<br />

Tag und Nacht an der innerdeutschen<br />

Grenze, die mit Metallzäunen,<br />

Mauern, Stacheldraht und Minen scharf<br />

gesichert war. Hunderte Menschen starben<br />

bei Fluchtversuchen. Direkt nach der<br />

Grenzöffnung haben Naturschützer aus<br />

der DDR und der Bundesrepublik die<br />

Gunst der Stunde genutzt: Nur einen<br />

Monat nach Öffnung der innerdeutschen<br />

Grenze verabschiedeten sie am 9. Dezember<br />

1989 eine Resolution für die Idee eines<br />

»Grünen Bandes« – und das Vorhaben<br />

fiel bei der Politik auf fruchtbaren Boden.<br />

Der Bund für Umwelt- und Naturschutz<br />

(BUND) hat federführend seit dem Fall<br />

der Mauer am ehemaligen Grenzstreifen<br />

eines der größten Naturschutzprojekte<br />

Deutschlands geschaffen.<br />

Im Laufe der Zeit ist ein Naturband<br />

mit einer riesigen Vielfalt an Biotopen<br />

entstanden, in denen Kraniche auf Feuchtwiesen<br />

rasten, Schwarzstörche im Boden<br />

nach Nahrung stochern und Seeadler<br />

nahe des früheren Grenzflusses Elbe<br />

kreisen. Eisvögel und Fischotter finden<br />

ihr Auskommen an Bächen, in Mooren<br />

quaken Frösche, Arnika gedeiht auf Magerrasen.<br />

Kornblumen blühen hier blau<br />

an Ackerrändern, nur wenige Kilometer<br />

weiter strebt junger Buchenmischwald gen<br />

Himmel. Anderswo ist der Boden dicht<br />

mit Heidekraut, Farn und Moos bedeckt,<br />

Füchse streifen über Binnendünen, Braunkehlchen<br />

singen.<br />

Am Grünen Band finden sich neben<br />

viel Kulturland fast alle Naturlandschaften<br />

von den norddeutschen Niederungsgebieten<br />

bis zu Mittelgebirgen: Brachflächen,<br />

Grasfluren, Pionierwald, Fließ- und Stillgewässer,<br />

Moore und andere Feuchtgebiete.<br />

Vereinzelt noch erinnern Grenzsteine<br />

und Wachtürme daran, dass dieses Idyll<br />

einst Todeszone war – das Grüne Band<br />

bleibt so immer auch Zeitzeugnis. Doch<br />

die meisten Mauern, Stacheldraht, Landminen,<br />

Selbstschussanlagen und Suchscheinwerfer<br />

sind abgebaut, nur noch<br />

13


NATURSCHUTZ<br />

einige Grenzmuseen und -denkmäler<br />

erinnern an die grausame Vergangenheit<br />

dieses Monuments, an dem Hunderte<br />

Menschen bei Fluchtversuchen starben.<br />

Auf einem guten Weg<br />

In dem durch die Abwesenheit von Menschen<br />

schon vor der Grenzöffnung entstandenen<br />

Biotopverbund darf die Natur sich<br />

seit gut 30 Jahren nun also so entwickeln,<br />

wie sie möchte. Mehr als 1.200 Rote-Liste-Arten<br />

sind heute in den Lebensräumen<br />

am Grünen Band nachgewiesen, insgesamt<br />

lassen sich dort über 5.000 Tier- und<br />

Pflanzenarten zählen. An einigen Stellen<br />

soll die Landschaft in dem Zustand erhalten<br />

bleiben, wie sie 1989 war. Zu diesem<br />

Zweck müssen etwa Heideflächen regelmäßig<br />

von Schafen oder Ziegen beweidet<br />

werden, denn sonst würde das Grüne<br />

Band früher oder später nur noch aus Wald<br />

bestehen und die Biotop- und damit auch<br />

die Artenvielfalt verschwinden. Auf rund<br />

zwei Dritteln des Grünen Bandes hat heute<br />

in nationalen Naturschutzgebieten und<br />

nach dem europäischen Natura 2000-System<br />

die Natur Vorrang; dieser größte<br />

Biotopverbund Deutschlands ist auch<br />

im Bundesnaturschutzgesetz verankert.<br />

14


NATURSCHUTZ<br />

Pflanzen und Tiere, die andernorts bereits<br />

als verschollen oder ausgestorben galten<br />

oder bei uns zumindest gefährdet sind, finden<br />

sich im und am Grünen Band wieder,<br />

darunter Schwarzstorch, Braunkehlchen<br />

und Wachtelkönig, Luchs, Wildkatze und<br />

Fischotter. Arnika, Trollblume und Breitblättriges<br />

Knabenkraut blühen hier. Und<br />

im Dreiländereck Bayern-Sachsen-Tschechien<br />

ist sogar die Flussperlmuschel am<br />

Grünen Band nachgewiesen worden. Insgesamt<br />

146 verschiedene Biotoptypen hat<br />

eine Bestandsaufnahme des Bundesamts<br />

für Naturschutz unter Federführung des<br />

02 Auch die Feldlerche ist hier im<br />

Grünen Band heimisch geworden.<br />

03 Beim Marderhund handelt es sich<br />

um ein Neozoen, das erstmals in den<br />

1960er Jahren in Deutschland nachgewiesen<br />

werden konnte.<br />

‣ 04 Das 50 bis 200 Meter breite Band bietet<br />

viele sehr unterschiedliche Biotope,<br />

sodass Arten mit verschiedenen<br />

Ansprüchen hier leben können.<br />

05 Die leuchtend gelbe Wiesenschafstelze<br />

gilt als Kulturfolger.<br />

06 Radeln durch die Natur – der<br />

Wachturm erinnert an vergangene Zeiten.<br />

BUND am Grünen Band identifiziert. Um<br />

das Grüne Band mit seinen exakt 1.393<br />

Kilometern zu einer lang gestreckten Arche<br />

Noah ganz ohne Unterbrechungen zu<br />

machen, fordert der Umweltverband, den<br />

kompletten ehemaligen Grenzstreifen<br />

unter Naturschutz zu stellen. Mehr noch:<br />

Das Grüne Band Deutschland sollte nach<br />

Willen der Naturschützer als UNESCO<br />

Weltnatur- und -kulturerbe sowie als Nationales<br />

Naturmonument ausgewiesen<br />

werden.<br />

European Green Belt<br />

Schon das Grüne Band in Deutschland ist<br />

mit seinen knapp 1.400 Kilometern Länge<br />

gigantisch. Doch es geht noch größer: Bis<br />

zum Jahr 1989 durchschnitt der »Eiserne<br />

Vorhang« ganz Europa. Der Streifen zwischen<br />

Westeuropa und den Staaten des<br />

Ostblocks war von Nordeuropa bis zum<br />

Balkan eine verbotene Zone. Heute heißt<br />

er »Green Belt«, Grüner Gürtel. Auch jenseits<br />

Deutschlands reihen sich von Nord<br />

nach Süd wie Perlen auf der Schnur wertvolle<br />

Lebensräume durch fast alle biogeografischen<br />

Regionen des Kontinents.<br />

Von der Barentssee bis zur Adria und ans<br />

Schwarze Meer verläuft dieser ökologische<br />

Korridor auf mehr als 12.500 Kilometern<br />

an den Grenzen von 24 Staaten.<br />

Seit fast 20 Jahren schon arbeiten Organe<br />

und Organisationen aus diesen Ländern,<br />

in Deutschland etwa das Bundesamt für<br />

Naturschutz, in der »European Green Belt<br />

Initiative« zusammen. Schirmherr des Projekts<br />

ist Michael Gorbatschow, der als letzter<br />

Staatspräsident der Sowjetunion mit<br />

seiner Politik maßgeblich zum Fall des<br />

Eisernen Vorhangs beitrug. In den Regionen<br />

Fennoskandien, Ostsee, Zentraleuropa<br />

und Balkan leben Elche, Braunbären<br />

und Wölfe im Norden, und es gibt riesige<br />

Unterwasserlebensräume und Küsten mit<br />

Dünen an der Ostsee. Kultur- und Flusslandschaften<br />

mit Fischottern, Wälder und<br />

Gebirge faszinieren in Zentraleuropa und<br />

15


16<br />

NATURSCHUTZ


alpine Lebensräume, Steppen und Naturwälder<br />

mit dem seltenen Balkanluchs im<br />

Süden – die Naturvielfalt in jeder Einzelnen<br />

dieser vier Regionen ist atemberaubend.<br />

Groß denken lautet die Devise für<br />

ein mögliches UNESCO Weltnatur- und<br />

-kulturerbe »Grünes Band Europa«. Es böte<br />

die einmalige Chance, am ehemaligen<br />

Eisernen Vorhang wertvolle Lebensräume<br />

zu erhalten, in Naturschutzangelegenheiten<br />

enger zusammenzuarbeiten und<br />

gleichzeitig das Zusammenwachsen Europas<br />

zu fördern – vielleicht irgendwann<br />

auch mit einem eigenen Fernwanderweg?<br />

Aktiv entdecken<br />

Bis am Eisernen Vorhang ein durchgängiges<br />

Schutzgebiet »European Green<br />

Belt« eingerichtet ist, bietet das Grüne<br />

Band Deutschland mehr als ausreichend<br />

Gelegenheit, die Vielfalt von Natur und<br />

Landschaft aktiv zu entdecken. Viele Abschnitte<br />

lassen sich erwandern, vor allem<br />

auf den alten Kolonnenwegen, umgangssprachlich<br />

auch Plattenweg genannt, oder<br />

auf unbefestigten Grenzerpfaden. Einige<br />

Etappen eignen sich auch als Radstrecke,<br />

allerdings sind es noch nicht sehr viele,<br />

und gerade die löchrigen Kolonnenwege<br />

lassen sich häufig nicht mehr gut befahren.<br />

Auch Wanderführer zum Grünen Band<br />

sind inzwischen erschienen, die einzelne<br />

Streckenabschnitte beschreiben. Die Ausschilderung<br />

des Wanderwegs ist allerdings<br />

noch nicht überall ideal – eine gute Karte<br />

oder Smartphone-App sollte also auf jeden<br />

Fall Teil der Wanderausrüstung sein.<br />

07 Das Grüne Band bietet wertvollen<br />

Lebensraum – auch für den Schwarzstorch.<br />

08 Die Bestände des Braunkehlchen sind<br />

rückläufig, weil es blütenreiche Wiesen<br />

und Brachen zum Brüten braucht. Genau<br />

die findet es im Grünen Band vor.<br />

09 Die Federhaube auf dem Scheitel und<br />

die Färbung des Federkleides machen<br />

den Wiedehopf unverwechselbar.<br />

‣ 10 Der Laubfrosch freut sich unter<br />

anderem über Kleingewässer, Hecken und<br />

Gehölze, auf die er klettern kann.<br />

NATURSCHUTZ<br />

Die Vielfalt von NSG und ambitionierte Naturschutzvorhaben<br />

entlang des Grünen Bandes<br />

Übergreifender Biotopverbund:<br />

Grünes Band Rodachtal-Lange Berge-Steinachtal<br />

Zwischen Bayern und Thüringen liegt in den Landkreisen Coburg, Kronach,<br />

Sonneberg und Hildburghausen ein gut 8.200 Hektar umfassendes Naturschutz-Großprojekt.<br />

Sein Ziel ist ein Biotopverbund zahlreicher wertvoller<br />

Lebensräume. Das Grüne Band hat hier eine wichtige Vernetzungsfunktion zwischen<br />

seltenen und bedrohten Waldgesellschaften, Kulturlandschaftsbiotopen<br />

und zu renaturierenden Fließgewässern. Fast die Hälfte des Gebiets ist bereits<br />

naturnah oder natürlich, darunter dystrophe Teiche, europäische trockene Heiden,<br />

Übergangs- und Schwingrasenmoore, Kalktuffquellen, Moorwälder und Auwälder.<br />

Von Bedeutung sind zudem Vorkommen von prioritären Lebensräumen<br />

nach der FFH-Richtlinie wie lückige Kalk-Pionierrasen, naturnahe Kalk-Trockenrasen<br />

sowie Schlucht- und Hangmischwälder. Von den vorkommenden Rote-Liste-Arten<br />

sind zwölf vom Aussterben bedroht und 140 stark gefährdet, darunter<br />

Mopsfledermaus, Bekassine, Raubwürger, Edelkrebs und Bachmuschel, bei der<br />

Flora Bunte Schwertlilie und Kornrade.<br />

Artenreiche Buchen-Mischwälder: Bachtäler des Lappwaldes<br />

Bei Helmstedt, unweit der Grenzanlage und heutigen Gedenkstätte Marienborn,<br />

liegt das NSG »Bachtäler des Lappwaldes«. Das gut 500 Hektar große Gebiet dient<br />

dem Schutz und der Erhaltung naturnaher Bachtäler im östlichen Lappwald in<br />

Sachsen-Anhalt an der Grenze zu Niedersachsen. Eichen-Hainbuchenwälder,<br />

Fichten-Rotbuchenwälder und Rotbuchenwälder prägen das NSG. Die struktur-<br />

und artenreichen heimischen Mischwaldbestände sollen hier erhalten und<br />

entwickelt werden, ebenso kleine Wasserläufe, Feucht- und Frischwiesen. Auch<br />

der Erhalt und die Förderung des Bachforellenbestandes und eines Flachlandvorkommens<br />

der Elritze sind Ziele. Zur charakteristischen Flora zählen Drahtschmiele,<br />

Heidelbeere und Schattenblümchen, Waldmeister und Maiglöckchen.<br />

Zudem finden sich Bestände des Breitblättrigen Knabenkrautes. In und an den<br />

Bächen des Gebiets leben die zu schützende Bachforelle und Elritze, außerdem<br />

Feuersalamander, Bergmolch und Springfrosch. Im Totholz finden Schwarzspecht,<br />

Mittelspecht und Grünspecht Lebensraum, auch Neuntöter, Sperber und<br />

Gartengrasmücke kommen im NSG vor.<br />

Dynamische Flussniederung und produktiver Auwald:<br />

Lenzen-Wustrower Elbniederung<br />

In Brandenburg an der Elbe, die hier die Grenze zum niedersächsischen Wendland<br />

bildet, liegt das knapp 1.000 Hektar große NSG Lenzen-Wustrower Elbniederung.<br />

In den Jahren 2005 bis 2009 hat man in der Nähe von Schnackenburg<br />

den Elbdeich zurückverlegt und damit 430 Hektar Überflutungsfläche geschaffen.<br />

Knapp 77 Hektar Auwald wurden angepflanzt. Auen reinigen das Wasser<br />

und speichern mit ihrer üppigen Vegetation und in den schlammigen Böden<br />

viel Kohlendioxid. Das NSG ist eines von insgesamt 16 Schutzgebieten im Biosphärenreservat<br />

»Flusslandschaft Elbe-Brandenburg«. Dies wiederum ist Bestandteil<br />

des von der UNESCO international anerkannten, länderübergreifenden<br />

Biosphärenreservats »Flusslandschaft Elbe«. Durch ihren Strukturreichtum mit<br />

Tümpeln, sandigen Ufern, Wiesen und Wäldern gehören intakte Auen zu den<br />

artenreichsten Lebensräumen Mitteleuropas. In den Auwäldern der Elbe leben<br />

Seeadler, Schwarzstorch, Elbebiber und Fischotter, außerdem zahlreiche Amphibien,<br />

Fische und Insekten.<br />

Grünes Band Deutschland<br />

www.bund.net/gruenes-band<br />

Grünes Band Europa<br />

www.bfn.de/themen/biotop-und-landschaftsschutz/gruenes-band.html<br />

17


NATUR-WISSEN<br />

18<br />

Rudolphine<br />

MIT DER ROTEN NASE<br />

Eine Hirschart ganz besonderer Art ist das Rentier. Stefan Leimer verrät, warum.<br />

Der Winter hält den hohen Norden<br />

Skandinaviens fest im eisigen<br />

Griff. Auch tagsüber herrscht oft<br />

strenger Dauerfrost, die Landschaft ist<br />

tief verschneit. Es wird nur mittags etwas<br />

heller, ansonsten ist es dämmerig oder<br />

ganz dunkel. Während uns Menschen<br />

der Wechsel vom Polartag zur Polarnacht<br />

Probleme bereitet, führen die Rentiere ein<br />

vom Licht unabhängiges Leben. Da es ihnen<br />

während der Dunkelzeit nicht möglich<br />

ist, ihr Leben nach dem Tag-Nacht-Rhythmus<br />

auszurichten, verteilen sie Schlafen<br />

und Fressen über 24 Stunden ganz einfach<br />

nach dem Zufallsprinzip.<br />

Das Rentier ist vielen nur durch das Weihnachtslied<br />

»Rudolph, the Red-Nosed<br />

Reindeer« bekannt, in dem das Rentier<br />

Rudolph von seinem Umfeld verspottet<br />

wird, weil er eine extrem rot leuchtende<br />

Nase hat. Der Weihnachtsmann macht<br />

ihn aber zum Scheinwerfer für seinen<br />

Schlitten, und fortan gehört Rudolph dazu.<br />

Tatsächlich haben Rentiere im Verlauf<br />

der Evolution Anpassungen entwickelt,<br />

die es ihnen erlauben, in extrem kalten<br />

Regionen zu überleben. Forschungen zeigen,<br />

dass Rentiere die rote Färbung ihrer<br />

Riechorgane der extremen Konzentration<br />

von Adern verdanken, die ihre Nase mit<br />

warmem Blut versorgen und so helfen, die<br />

Körpertemperatur in der rauen Umwelt<br />

zu regulieren. Wenn Rentiere überhitzen,<br />

etwa durch langes Rennen, können sie die<br />

überschüssige Wärme nur über die Nase<br />

und die Beine abführen. Der Rest ihres<br />

Körpers ist durch das dicke Fell zu stark<br />

isoliert. In Sachen Energieeffizienz übertreffen<br />

Rentiere alle anderen Landlebewesen.<br />

Das Winterfell der Tiere ist mit circa<br />

700 Haaren pro Quadratzentimeter etwa<br />

dreimal so dicht wie bei anderen Hirscharten.<br />

Die hohlen Fellhaare speichern die<br />

Luft, die so aufgewärmt wird und die Tiere<br />

perfekt isoliert. Während des Winters


NATUR-WISSEN<br />

19<br />

wachsen die Haare in den Gesichtern so<br />

lang, dass sie die Lippen bedecken und<br />

somit die Schnauzen schützen, wenn die<br />

Rentiere im Schnee nach Futter suchen.<br />

Das dichte Fell hat aber auch Nachteile,<br />

sobald die Temperaturen schwanken. Da<br />

den Rentieren dann schnell zu warm wird,<br />

erhöhen sie ihre Atemfrequenz von sieben<br />

auf bis zu 250 Atemzüge pro Minute. Die<br />

vorbeiströmende Luft wird so zum Verdunsten<br />

gebracht und kühlt damit das Blut<br />

in der Nase, das zur Temperaturregulierung<br />

in den Körper gepumpt wird. Auffallend<br />

ist, dass Rentiere beim Gehen klicken.<br />

Diese charakteristischen Laute entstehen<br />

durch Sehnen, die sich über Knochenvorsprünge<br />

im Fuß spannen. Einige Wissenschaftler<br />

glauben, dass diese Klicklaute<br />

den Tieren helfen, sich bei Schneestürmen<br />

zu orientieren, um zusammenzubleiben.<br />

NUTZTIERE DER SAMI<br />

Heute leben Rentiere in den nördlichsten<br />

Regionen Asiens, Europas und Nordamerikas<br />

– dort als Karibu bekannt – wo sie<br />

in der Tundra und Taiga vorkommen. Auf<br />

unserer letzten Fahrt durch die Finnmark<br />

Ende August begegneten wir Ihnen aber<br />

vor allem in den Fjells, in den Bergen und<br />

Hochebenen oberhalb der Waldgrenze,<br />

die hier – je nach Breitengrad – bereits<br />

bei 180 Meter dem Meeresspiegel beginnt.<br />

Während in Sibirien und Nordamerika<br />

Ren oder Karibu noch nach ihrem natürlichen<br />

Rhythmus leben, sind die Rentiere,<br />

denen man in Skandinavien begegnet,<br />

praktisch alles domestizierte Nutztiere der<br />

Sami. Mit dem Ende der letzten Eiszeit<br />

vor 10.000 Jahren begann die Besiedlung<br />

Norwegens. Der Rückzug der bis zu drei<br />

Kilometer dicken Eisschicht, die Skandinavien<br />

bis dahin fest im Griff hatte, machte<br />

den Weg frei für die die ersten Sammler<br />

und Jäger, die den Rentierherden entlang<br />

der Küste Richtung Norden folgten.


NATUR-WISSEN<br />

20<br />

Die Hjemmeluft-Bucht (Deutsch: Robbenbucht)<br />

in der Nähe der heutigen Stadt<br />

Alta wurde für die Steinzeitmenschen<br />

ein bedeutsamer Versammlungsort. Hier<br />

wurden in den Jahren 7.000 bis 2.000<br />

vor Christus mehr Gravuren in den Felsen<br />

gemeißelt als im restlichen Nordeuropa.<br />

Von den Menschen, die damals<br />

hier lebten, ist außer ihren Kunstwerken<br />

leider nichts überliefert. Die Darstellungen<br />

von etwa 6.000 Figuren geben aber<br />

einen facettenreichen Einblick in ihren<br />

Alltag und zeigen eine Gesellschaft, die<br />

vom Sammeln, Jagen und vom Fischfang<br />

lebte. Die Abbildungen stellen einerseits<br />

Alltagssituationen dar, anderseits erlauben<br />

sie Rückschlüsse auf die spirituelle<br />

Gedankenwelt der Menschen, die damals<br />

hier gelebt haben. Die Bilder zeigen Tiere<br />

wie Elche, Bären und verschiedene Vögel.<br />

Aber auch Fische oder Fischernetze und<br />

Boote sowie andere Jagdmethoden werden<br />

abgebildet. Und Menschen bei ihren<br />

unterschiedlichen Aktivitäten. Auffallend<br />

häufig sind Rentiere abgebildet, die damals<br />

eine wertvolle Jagdbeute waren. Die<br />

Rentiere lieferten den Menschen vieles<br />

vom dem, was sie zwingend zum Überleben<br />

in dieser kalten Region brauchten:<br />

Fleisch und Fett als Nahrung, Sehnen und<br />

das Fell für Kleidung. Aus den Knochen<br />

wurden Werkzeuge geschnitzt oder sie<br />

wurden aufgeschlagen, um an das nahrhafte<br />

Mark zu kommen. Aus dem Geweih der<br />

Rentiere machten die Jäger Speerspitzen<br />

und Harpunen.<br />

KAUM WILDE RENTIERE<br />

Norwegen ist eines der letzten Länder Europas,<br />

in denen es noch natürliche Populationen<br />

von Rentieren gibt. Das Land trägt<br />

eine internationale Verantwortung für die<br />

Bestandserhaltung der Wildrentiere, denn<br />

etwa 90 Prozent des Bestandes aller wilden<br />

Tundra-Rentiere leben in Norwegen.<br />

02 Ab September wird die samtige<br />

Basthaut des Geweihs nach und nach<br />

abgescheuert.<br />

03 Im Verhältnis zur eigenen Körpergröße<br />

tragen Rentiere sehr viel Geweih mit sich<br />

herum.<br />

04 Die breiten Hufe ermöglichen den<br />

Tieren auch im steinigen Fjell-Gelände<br />

einen sicheren Tritt.<br />

05 Wilde Rentiere leben vor allem im<br />

Süden Norwegens, wo sie Besucher mit<br />

etwas Glück beobachten können.<br />

Im 18. und 19. Jahrhundert wurden so<br />

viele Tiere gezähmt, dass es fast keine wilden<br />

mehr gab. Zwischen 1902 und 1906<br />

wurden die wilden Rentiere deshalb unter<br />

Schutz gestellt. Das führte zwar kurzfristig<br />

zu einer Erholung des Bestands, aber<br />

sicherte diesen nicht auf Dauer. 1920<br />

schätzte man die Anzahl der Tiere auf<br />

2.700. In den 1930er Jahren führte Norwegen<br />

eine strenge Quotenregelung für<br />

die Jagd ein. Heute gibt es wieder etwa<br />

35.000 wilde Tiere, die zum größten<br />

Teil in Südnorwegen zu finden sind. Die<br />

Hardangervidda, eine 8.000 Quadratki-


NATUR-WISSEN<br />

lometer große Hochebene ist Norwegens<br />

größter Nationalpark und bekannt dafür,<br />

dass sie Heimat der letzten wilden Rentiere<br />

ist. Heute geht man davon aus, dass<br />

die Rentiere erstmals vor 3.000 bis 1.000<br />

Jahren vor Christus im Osten Russlands<br />

domestiziert wurden – damit gehören sie<br />

zu den letzten Wildtieren, die der Mensch<br />

domestiziert hat.<br />

Warum das erst relativ spät geschah,<br />

ist Spekulation. Wissenschaftler glauben,<br />

dass es mit der grundsätzlich fügsamen<br />

Natur von Rentieren zusammenhängen<br />

könnte. Wilde erwachsene Rentiere lassen<br />

sich bereitwillig melken und bleiben auch<br />

gerne in der Nähe menschlicher Siedlungen<br />

– in dem kleinen Fischerort Gamvik<br />

an der Barentssee liefen uns die Rentiere<br />

mitten im Dorf vor das Auto. Rentiere<br />

sind anderseits aber unabhängig und müssen<br />

nicht von Menschen untergebracht<br />

und gefüttert werden. Zutraulich sind sie<br />

deswegen noch lange nicht. Meine ersten<br />

Versuche, in der Natur Fotos zu machen,<br />

scheiterten kläglich. Die Tiere nahmen<br />

Reißaus, lange bevor ich in akzeptabler<br />

Foto-Distanz war. Erst als ich die Windrichtung<br />

berücksichtigte und mich nur<br />

sehr langsam bewegte, ließen mich die<br />

Ren etwas näher an sich heran. Lag ich gar<br />

auf dem Boden, wurden die Tiere richtig<br />

gehend neugierig und näherten sich von<br />

sich aus immer weiter an.<br />

FRAUENPOWER<br />

Rentiere sind mit unserem Rothirsch verwandt.<br />

Bei den Rentieren tragen allerdings<br />

auch die Weibchen Geweihe, das sie im<br />

Frühling oder, in manchen Subpopulationen,<br />

sogar erst im Sommer abwerfen. Im<br />

Winter brauchen sie ihr Geweih, um während<br />

der Schwangerschaft die kargen Futterstellen<br />

gegenüber anderen Weibchen zu<br />

verteidigen und sich so genug Nahrung für<br />

sich und ihr ungeborenes Kalb zu sichern.<br />

Die Männchen werfen ihr Geweih hingegen<br />

im Herbst ab. Die Tiere, die den Schlitten<br />

des Weihnachtsmannes ziehen und nie<br />

ohne Geweih dargestellt werden, sind folglich<br />

alles Weibchen – also müsste Rudolph<br />

eigentlich Rudolphine heißen.<br />

Die Stangen sind etwas abgeflacht,<br />

haben eine helle Farbe und sind oft auffallend<br />

asymmetrisch gebaut. So unterscheidet<br />

sich das Rentier-Geweih von den<br />

Geweihen aller anderen Hirscharten. Zudem<br />

ist das Geweih im Verhältnis zur Größe<br />

der Tiere überdurchschnittlich groß.<br />

Hauptnahrung im Winter sind Flechten<br />

am Boden und an den Bäumen, ergänzt<br />

durch trockenes Gras und Strauchgewächse.<br />

Im Sommer ernährt sich das Rentier<br />

von Kräutern, Gras, Zwergbüschen und<br />

mitunter auch von Flechten. Eine dieser<br />

Flechten ist unter dem Namen »Rentierflechte«<br />

oder »Rentiermoos« bekannt,<br />

wächst in borealen Nadelwäldern, in der<br />

Tundra und in alpinen Zwergstrauchheiden<br />

und ist in Nordeuropa bedeutende<br />

Futterquelle der Rentiere. Durch Überweidung<br />

soll sie stellenweise allerdings bereits<br />

selten geworden sein. Die Rentierflechte<br />

ist grundsätzlich auch für den Menschen<br />

genießbar und wurde in Notzeiten zu<br />

Brotmehl verarbeitet.<br />

FETTE MUTTERMILCH<br />

Die Kälber kommen innerhalb eines sehr<br />

kurzen Zeitraums im Frühjahr zur Welt<br />

und wiegen dann zwischen fünf und<br />

neun Kilogramm und können bereits wenige<br />

Minuten nach der Geburt auf den<br />

eigenen Hufen stehen, denn sie müssen<br />

von Beginn an mit der Herde mithalten<br />

können. Dank der nahrhaften Muttermilch,<br />

mit 20 Prozent Fettanteil eine der<br />

fettreichsten Milch-Sorten landlebender<br />

Säugetiere, wachsen sie sehr schnell. Bereits<br />

nach einem Monat werden die Kälber<br />

entwöhnt. In der kargen Taiga und Tundra<br />

bleibt ihnen dann nichts anderes übrig, als<br />

sich von Gräsern, Flechten, Pilzen, Laub<br />

und Rinde zu ernähren.<br />

In Zukunft werden die Rentiere einige<br />

Probleme bewältigen müssen. Die<br />

Winter sind seit der Klimaerwärmung<br />

nicht mehr die gleichen, beklagen sich<br />

die Sami. Es kommt vermehrt zu Warmfronten<br />

mit Regen und danach friert das<br />

Wasser auf der Schneeschicht zu einer dicken<br />

Eisschicht. In der Folge können die<br />

Rentiere nicht mehr zu den Flechten und<br />

Moosen durchdringen. Weniger Futter<br />

im Winter hat auf die Rentiere einen verheerenden<br />

Effekt. So hat man festgestellt,<br />

dass die Rentiere aus Spitzbergen immer<br />

kleiner werden. Auch wenn der Gewichtsverlust<br />

den Tieren selbst nicht schadet, so<br />

muss man davon ausgehen, dass er die<br />

Fortpflanzung beeinträchtigt. Trächtige<br />

Rentiere verlieren öfter ihre ungeborenen<br />

Kälber. Bei starkem Gewichtsverlust<br />

im Winter wird die Schwangerschaft abgebrochen,<br />

um das Überleben des Rentiers<br />

sicherzustellen. Da die weltweiten Bestände<br />

innerhalb von etwa 25 Jahren bereits<br />

um 40 Prozent zurückgegangen sind, sah<br />

sich die Weltnaturschutzunion IUCN dazu<br />

veranlasst, ihren Status von «nicht gefährdet«<br />

auf «gefährdet« heraufzusetzen.<br />

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